Ethik und Recht im Dialog

Datum:
Freitag, 28. Mai 2004

Veranstaltungsreihe der Bioethik-Kommission und des Ministeriums der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz "Wann darf ein Mensch sterben?“ - Veranstaltung im Festsaal der Staatskanzlei am Freitag, 28. Mai 2004

Einleitendes Referat zur Podiumsdiskussion (I)

I.

Die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz hatte bei der Erörterung des Problems der Sterbehilfe die schwierige Aufgabe, das medizinisch Leistbare, das juristisch Vertretbare und das ethisch Unbedenkliche, wenn möglich, zu einem Ausgleich zu bringen. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist sehr viel differenzierter und schwieriger geworden. Der Bericht der Kommission „Sterbehilfe und Sterbebegleitung. Ethische, rechtliche und medizinische Bewertung des Spannungsverhältnisses zwischen ärztlicher Lebenserhaltungspflicht und Selbstbestimmung des Patienten“ vom 23. April 2004 (182 Seiten) ist ein beredtes Zeugnis vom Ringen um den genannten Ausgleich.

Während der Dienst der Begleitung und Hilfe im Sterbeprozess über Jahrhunderte häufig selbstverständlich von Einzelnen, von der Familie, von Nachbarn und von der Gemeinschaft geleistet wurde, ist die Bereitschaft dazu in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Seit einigen Jahren wollen sich aber viele Menschen mit der Tabuisierung und Anonymisierung von Sterben, Tod und Trauer nicht mehr abfinden. Sie bemühen sich je an ihrem Ort um eine intensive Begleitung aller Betroffenen: in der Familie, im Alten- und Pflegeheim, im Krankenhaus oder in der Gemeinde. Viele von ihnen haben dabei Anregungen von der rasch wachsenden „Hospizbewegung" erhalten. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben seit 1989 diese Bemühungen aufgegriffen, fortgesetzt und unterstützt. Sie haben auch eine ganze Reihe je eigener Erklärungen zum Thema veröffentlicht.

Nicht zu übersehen ist die zunehmende Zahl von Menschen, die ohne Angehörige oder mittellos sterben. Die Zahl von allein lebenden Menschen in allen Altersstufen steigt. Ihr Lebensweg, der auch das Sterben einschließt, gestaltet sich außerdem anders als das gemeinsame Leben in Partnerschaft, Ehe und Familie. Das durchschnittliche Todesalter hat sich immer mehr nach oben verschoben. Das Sterben zu Hause im Kreis der Familie und der Angehörigen sowie der Nachbarn ist eher selten geworden. Die Bestattungskultur bietet einen Spiegel der verschiedenen Einstellungsänderungen zum Tod. Die Gestaltung des Lebens bestimmt auch den Umgang mit dem Sterben. Immer wieder wird die Forderung nach aktiver Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) laut. In unserer Gesellschaft werden Wohlstand, steigender Lebensstandard und Vitalität bis ins hohe Alter hinein als programmatische Ziele verkündigt. Viele Menschen können sich für das eigene Leben kaum mehr Entbehrungen und Grenzsituationen vorstellen. Die eindrucksvollen Erfolge der Medizin führten zu einer zuweilen ins Unermessliche gehenden Hoffnung auf Wiederherstellung der Gesundheit, auf Schmerzbeseitigung oder auf ein Leben mit einem „neuen Organ“. Heute sehen viele in einem langen und erfüllten Leben das Ziel. Manche erwarten auch von einer Reinkarnation den Ausgleich für die erfahrenen Entbehrungen und die nicht erfüllten Hoffnungen. Der Glaube an ein Leben nach dem Tode im Sinne einer einmaligen personalen Vollendung (ewiges Leben) tritt eher zurück.

Gerade weil die private und soziale Tabuisierung sich als schädlich für unser Leben erwiesen hat, werden Sterben, Tod und Trauer wieder auf neue Weise auch in der Öffentlichkeit gesellschafts- und gesprächsfähige Themen. In aller Kürze möchte ich aus der Sicht des katholischen Theologen, der hier auch weitgehend die christlichen Kirchen im Konsens sieht, die folgenden Grundsätze ansprechen.

 

II.

1.Jeder Mensch möchte leben und sich im Leben voll entfalten. Wer krank ist, stößt an Grenzen, die sich besonders in Hinfälligkeit und Hilflosigkeit, Not und Leid, Schmerz und Elend bezeugen. Wer so krank ist, sucht Hilfe. Dieses Angewiesensein auf Hilfe ist elementar. Die Hoffnung bezieht sich zuerst auf den Arzt.

2.Die unvermeidbare natürliche Grenze des weiterhin grundsätzlich endlichen Lebens konnte immer wieder und weiter ausgedehnt werden. Dies erzeugt eine eigentümliche Ambivalenz in der Grenzerfahrung: Einerseits hält man - wenigstens in der Tendenz – den medizinisch-technischen Fortschritt für fast unbegrenzt, so dass der Tod immer stärker in die Ferne rückt oder als ein Tabu erscheint; anderseits wird gerade angesichts der Übermacht des ausnahmslos jeden ergreifenden Todes auch die ganze Ohnmacht des Menschen offenkundig wie sonst kaum irgendwo.

3.Die Erfahrung der Grenze in der Krankheit und erst recht im Tod ist ein reales Zeichen, das auf die Endlichkeit und Beschränktheit des Menschseins hinweist. Dies kann dazu führen, dass man den Menschen als absurdes Wesen oder als Fehlkonstruktion einschätzt. Es gibt sehr verschiedene Reaktionen darauf: geradezu titanisches Sich-Aufbäumen, aber auch selbstvergessene Ergebung in das „Schicksal“. Das Rätsel des Todes verschwindet aber auch da nicht, wo man glaubt, alle Ansprüche des Unbedingten hinter sich lassen zu können. Darum bleibt die Stellung zum Tod der Prüfstein jedes Menschenbildes und für jede Anschauung vom Leben. Die Erfahrung der Grenze lässt sich nicht verleugnen, aber auch nicht überspielen. Der menschheitsalte Kampf gegen den Tod hat in unserer Zeit ungeahnte Möglichkeiten entwickelt und faszinierende Erfolge erzielt. Zuletzt erweist es sich doch, dass der Tod mächtiger ist. Dies ist für den Menschen, besonders für den Menschen von heute, schwer zu ertragen. Zugleich wächst die Versuchung, den Vorgang des Sterbens von außen maßgeblich zu beeinflussen. „Wir regeln den Eintritt ins Leben, es wird Zeit, dass wir auch den Austritt regeln.“ (Max Frisch, Tagebuch 1966-1971)

4.Der biblische Glaube versteht Endlichkeit und Grenze im Sinne der Kreatürlichkeit. Das Geschöpf weiß, dass es nicht sein muss, aber doch ist. Die Kreatur grenzt an das Nichts, ohne einfach nichtig zu sein. Schon durch seine Existenz und sein Wirken hat das Geschöpf eine eigene Wirklichkeit. Aber diese ist ihm immer schon geliehen. Das Geschöpf verkapselt sich nicht in sich selbst. Obwohl das Geschöpf in sich selbst etwas Positives ist, ist es nicht einfach selbstgenügsam. Es gelangt mehr zu seiner Vollkommenheit, wenn es seine „Armut" annimmt, alles von einem Anderen zu empfangen und sich in ihm zu vollenden. Bezogensein auf Gott ist kein Defekt, sondern die höchste Möglichkeit. In dem Augenblick, in dem die Kreatur diese seinsmäßige Demut verkennt und sich absolut auf sich selbst stellt, wird sie anmaßend, weil sie das ihr zugedachte Maß nicht annimmt. In dieser Verweigerung der Annahme kreatürlicher Armut liegt so etwas wie die Wurzel dessen, was man Urverfehlung und Ursünde nennt. Dabei ist der Mensch freilich nicht in der Schicksalhaftigkeit seiner individuellen oder kollektiven Naturausstattung gefangengesetzt, sonder er soll auch die Vernunft gebrauchen. Um nicht bloß die Defekte der faktischen menschlichen Natur zu heilen, sondern um die unvermeidbare Grenze des Lebens erträglich zu machen. Aber diese Versuche der Überwindung der „Grenze“ dürfen nicht insgeheim von einer Erwartung ausgehen, die aufgezeigte Kreatürlichkeit des Menschseins könnte grundsätzlich aufgehoben werden. Es gibt hier gewiss von der schlichten Verdrängung des Todes bis hin zu Träumen von einem Leben ohne Altern und Sterben vieler solche und ähnlicher Grundeinstellungen.

5.Die Erfahrung dieser Kreatürlichkeit berührt auch das Verständnis der „Selbstbestimmung“. Sie sollte u.a. auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient, zwischen dem Kranken und dem Pflegepersonal bestimmen. Alle Partner sind durch die Annahme des gemeinsamen Menschseins und die Erfahrung seiner Grenzen miteinander verbunden. Dies schafft eine elementare geschwisterliche Solidarität, die ein Stück weit unabhängig ist von der konkreten Situation des Einzelnen, der gesund oder krank ist. So kann die Not und Hilfsbedürftigkeit des Kranken besser Rücksicht finden, aber auch die menschliche Würde des Lebens und Sterbens hat ein gemeinsamen Fundament, das verhindern sollte, dass der Kranke einfach zum „Objekt“ wird, oder dass der Patient nur Leistungen fordert. Dies sollte auch die Qualität des Vertrauens zwischen Arzt und Patient erleichtern.

 

III.

Daraus ergeben sich einige konkrete Folgerungen, die wiederum thesenhaft formuliert werden sollen:

1.Die Kreatürlichkeit des Menschen (man kann sie auch die „conditio humana“ nennen) verbietet jede Mitwirkung bei einer Tötung auf Verlangen. In diesem Sinne kann man die These 14 des Berichtes im Grundsatz nur begrüßen, aber es ist nicht zu erkennen, wie man bei der fundamentalen Bedeutung des menschlichen Lebens in seiner Unversehrtheit, in seiner Endlichkeit (der Mensch hat sich nicht selbst geschaffen, er sollte sich auch nicht das Leben nehmen) und in seiner Verletzlichkeit hier Ausnahmen statuieren kann. Dies scheint mir am prinzipiellen Charakter der Integrität des Lebens und des Lebensrechtes zu scheitern. Die Gefahr des Missbrauchs ist hier besonders groß. Ich bin sonst kein Verfechter des ethischen Dammbruch-Argumentes, aber hier zeigen ja auch die konkreten Verhältnisse, nicht zuletzt in den Niederlanden, dass nicht nur die Dunkelziffer sehr hoch ist. Überhaupt scheint mir die Logik der Ausnahme nicht genügend geklärt zu sein.

2.Hinter der Forderung nach einer aktiven Sterbehilfe steht sehr oft die verständliche, urmenschliche Angst vor einem leidbelasteten, aussichtslos in die Länge gezogenen oder gar medizinisch-technisch gestreckten Sterbens. Dies muss aber nicht so sein. Es ist gewiss nicht so, dass dem Schwerkranken nur die sinnlose Quälerei und die Auslieferung an die medizinischen Apparate im Namen einer Lebenserhaltung um jeden Preis übrig bleiben. Die Überzeugung, dass kein Kranker direkt und gewollt getötet werden darf, heißt ja nicht, dass der Kranke oder der Arzt sittlich verpflichtet sind, jedwedes irgendwie erreichbares Mittel zur Lebensverlängerung eines Sterbenden anzuwenden. Es gibt also durchaus eine Grenze der Verpflichtung, Leben um jeden Preis zu verlängern. Die Verwendung von schmerzstillenden Mitteln, - auch wenn als unumgängliche Nebenwirkung eine gewisse Lebensverkürzung in Rechnung gestellt werden muss -, ist darum qualitativ etwas anders als die Verabreichung von Mitteln, die in ihrer Wirkung die Zielsetzung haben, das Leben zu beenden. Der qualitative ethische Unterschied zwischen Töten oder Sterben-Lassen darf nicht eingeebnet werden. Entscheidend ist der Verzicht auf eine eigenmächtige, definitive und totale Verfügung über menschliches Leben, die z.B. über den Sinn bzw. Wert menschlichen Lebens und über Art und Zeitpunkt des Sterbens entscheidet. Jede vorzeitige, direkte und gewollte Beendigung des Lebens ist ein Sich-Vergreifen am unantastbaren Recht des Menschen auf sein Dasein. Daran ändert auch die Forderung nichts, ein solcher Eingriff dürfe nur mit Wissen und Willen des Schwerkranken erfolgen. Eine unerlaubte Manipulation ist aber auch die mit allen Mitteln medikamentöser oder technischer Art erzwungene, menschlich aber sinnlos gewordene Lebensverlängerung. Der technisch verzögerte Tod darf nicht den Sieg über das menschliche Sterben davontragen.

3.Oft wird als Motiv für die aktive Sterbehilfe das Mitleid des Menschen mit dem „sinnlos Leidenden“ angegeben. Das Mitleid, das nicht bereit ist, den Weg mit dem Sterbenden zu gehen, kann sich freilich auch als wenig human erweisen. Dahinter steht ein fragwürdiges Menschenbild, das möglicherweise nur vom Fortschritt und heiler Ganzheit bestimmt ist. Die Leidensfähigkeit gehört zum Menschen. Die Palliativmedizin kann nach eigenen Angaben nur in circa 1% der Sterbesituationen keine wirkliche Linderung der Schmerzen erreichen. (Prof. Dr. G. L. N. Radbruch, Aachen). Die Bekämpfung dieser Schmerzen ist heute freilich die Voraussetzung für eine menschliche Bewältigung des Leidens. Die Nähe des Todes gibt dem Menschen – nicht zwangsläufig und nicht in jedem Fall – eine letzte Chance: Sie stellt ihm die Ganzheit seines Leben vor Augen und fragt ihn, ob er die Möglichkeit seines Leben ausgelotet und auf ihre Tragfähigkeit überprüft habe. Mancher Sterbende hat sich in dieser Stunde, die ja dank der Palliativmedizin nicht Einsicht und Verstehen auslöscht, mit seinen Familienangehörigen ausgesöhnt, manches Zerwürfnis abgetragen und ein neues versöhntes Verhältnis zu seiner Mitwelt gefunden. Wahres Mit-leid geht einen solchen Weg geschwisterlich mit, trägt einen solchen Prozess des Sterbens mit und leidet die Reinigung eines menschlichen Lebens mit aus. Es wäre unmenschlich, diese menschliche Möglichkeit ganz zu verhindern. Diese Überlegungen setzen natürlich menschlich eine gründliche Besinnung über den Schmerz und das Leiden in seiner Bedeutung für den Menschen voraus.

4.Ich möchte mich auf diese Grundfragen beschränken und Folgendes noch im Sinne von Anmerkungen und Verweisen anführen.:

·Ich möchte auf die von den Kirchen entworfene „Christliche Patientenverfügung mit Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung“, und zwar in der zweiten Auflage (Hannover -Bonn 2003), verweisen.

·Weiter zu diskutierende Probleme in den Positionen der Kommission sehe ich außer in den Einwänden zu These 14 vor allem im Blick auf die These 19 (Patientinnen und Patienten im Wachkoma), These 21 (Entscheidungen bei Neugeborenen), These 25 (Ärztlich assistierte Selbsttötung, vgl. Minderheitenvotum), These 29 (Künstliche Ernährung über eine PEG-Sonde) und im Blick auf die Empfehlung 2 („Ärztliche Pflichten und Rechte“). Hier möchte ich mich den Bedenken der Sondervoten von Prof. Dr. Johannes Reiter und Prof. Dr. Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages (vgl. Bericht: 145 – 147, vgl. auch das Minderheiten-Votum: 107 – 109), anschließen.

Dies ist nur ein erstes Votum, das vertieft werden muss. Die umfangreiche und gründliche Ausarbeitung, die – von den genannten Punkten abgesehen – eine hohe Zustimmung erfahren kann, verdient und verlangt eine weitere Beschäftigung, die ja auch an anderer Stelle im Umfeld bioethischer Überlegungen unternommen wird.

Mainz, 27.05.2004

 

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort!

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz