Kein Wort des Glaubens ist frei von Missverständnissen. Auch wer hohe Worte gebraucht, darf nicht sicher sein, ob er sie auf Anhieb richtig versteht. Im Gegenteil, je sublimer und frömmer unsere religiösen Worten sind, umso mehr können sie uns auch verleiten und verführen. Deshalb ist es auch mit dem Hinweis auf Auferstehung und ewiges Leben noch nicht getan. Darum ist es wichtig, wie wir davon reden. Dies gilt besonders auch für die Rede von Jesu Tod und Auferstehung. Deshalb wollen wir dem richtigen Verständnis von Auferstehung etwas nachdenken.
Die Rede von der Auferstehung hat nur einen Sinn, wenn Leben und Tod miteinander in aller Offenheit und Ehrlichkeit konfrontiert werden. Der Tod ist immer noch das Ereignis in unserem Leben, an dem wir uns – im Bild gesprochen – regelrecht die Zähne ausbeißen. Deshalb gibt es manche Denker, die lieber nicht von ihm reden möchten. Sie sagen gerne: Wenn der Tod ist, sind wir nicht mehr. Also kennen wir ihn nicht. Es ist dann besser zu schweigen. Reden wir lieber vom Leben. Aber damit kann der Mensch sich nicht zufriedengeben. So stranden wir mit unseren Gedanken, aber auch mit der Sehnsucht unseres Geistes und Herzens immer wieder an dieser unübersteigbaren Schranke des Todes. Man versucht diese Grenze entweder zu ignorieren und den Tod ganz an den Rand unseres Lebens zu verdrängen oder idealistisch über ihn hinauszuspringen in ein unendliches Reich des Geistes oder der Ideen. Beides aber befriedigt den Menschen nicht. Er wird dann immer wieder zurückgeworfen entweder auf die Härte des Todes oder wenigstens auf die Frage nach dem oft verborgenen Sinn einer solchen Lebensgrenze.
Daraus entsteht dann die Frage, ob es wirklich ein Leben jenseits des Todes gibt. Für die Religion ist es ganz selbstverständlich, dass sie auf diese Fragen eine Antwort – wie immer geartet – geben muss. Auch da sind die Antworten außerordentlich verschieden. Es gibt sehr redselige, ja geradezu schwatzhafte Religionen, die genau wissen wollen, wie es auf der Himmelsreise aussieht. Andere malen das Jenseits so aus, als ob es eine Verlängerung des Diesseits wäre, nur ganz ohne Makel, Unvollkommenheit und Vergänglichkeit. Es gibt aber auch Religionen, die eher schweigsam sind, wenn es um ein Jenseits des Todes geht.
Dazu gehört in gewisser Weise auch, wenigstens streckenweise, die biblische Religion des Volkes Israel. Das Bewusstsein, dass Gott uns auch im Tod, im Reich des Todes (Unterwelt), nicht verlässt, ist keineswegs selbstverständlich. Die feste Überzeugung, dass Gott uns auch in den Niederungen des Lebens nicht preisgibt, schiebt sich immer stärker auch durch die Erfahrung z.B. der Ungerechtigkeit, des Leidens und der Todesnähe hin zur Gewissheit, die vor allem der Beter in den Psalmen als Wort Gottes hört: „Ich aber bleibe immer bei dir“ (Ps 73,23). Gott sagt uns das ewige Leben zu. Es ist nicht einfach die Verlängerung unserer Wünsche. In der fortschreitenden Geschichte des Alten Bundes wird diese Hoffnung über den Tod hinaus immer mehr entfaltet (vgl. z.B. Jes 25,8; 2 Makk 7,11.14.23.29.36; 12,43ff.).
Aber gerade auch so bleibt es eine echte Herausforderung, in rechter Weise von der Auferstehung zu reden. Es war offensichtlich besonders für griechisch denkende Menschen eine Versuchung, die Auferstehung Jesu Christi so zu deuten, als ob man mit ihr bereits den Schrecken des Todes hinter sich gelassen hat. „Die Auferstehung ist schon gewesen“ (vgl. 2 Tim 2,18) war eines der Missverständnisse, die wir auch im Neuen Testament greifen können. Man streift dann den Tod, aber auch den sterblichen Leib des Menschen, einfach ab wie Wasserperlen von einem Regenmantel. Daraus kann dann eine ganz falsche Lebensauffassung entstehen, so dass man vor diesem Hintergrund in einen regelrechten Taumel, in eine sich überschlagende Begeisterung verfällt. Dies muss gerade unmittelbar nach Ostern eine uns heute kaum mehr verständliche Verführung gewesen sein. Aber wenn man bedenkt, wie sehr am Karfreitag, dem Tod des Herrn, die Erde bebte und in vieler Hinsicht das Weltende nahe schien, dann kann man diese Versuchung vielleicht besser verstehen. Mit „Enthusiasmus“ meint man in der Religionsgeschichte vor allem einen Zustand, in welchem nicht mehr der Mensch bzw. sein Verstand, sondern eine in ihn eingegangene Gottheit sein Handeln und Sprechen bestimmt. Es ist dann eine Ekstase, in der der Mensch sich regelrecht überschlägt und zugleich verliert (vgl. z.B. Mt 10,20; Mk 13,11; 1 Kor 2,13.14; 14,23-25; Gal 3,2f.; Apg 11,28; 21,11; Offb 22,17). Es ist wie ein Rausch, in den man selig fällt und taumelt. Man denke hier in säkularem Gewand auch an Drogen. Man durchbricht eine Schallmauer – aber dann wohin?
Manche möchten das Urchristentum bzw. die erste Generation schlechthin als „enthusiastisch“ bezeichnen. Dies wäre aber höchst fragwürdig. Bereits der hl. Paulus kämpft schon von seinem ersten Brief an gegen ein solches Verständnis der Auferstehung (vgl. 1 Thess 4 und 5). Vor allem seine ganze Theologie des Kreuzes verhindert einen solchen falschen „Enthusiasmus“. Auch sonst verweist uns das Neue Testament mit der ganzen Osterbotschaft immer wieder darauf, dass der auferstandene Herr zugleich der Gekreuzigte ist. Und nicht nur das: Der Auferstandene ist erkennbar an den Wundmalen, die er an seinem Leib trägt (vgl. Joh 20,24ff.). Er ist kein Geist. Das Neue Testament legt einen großen Wert darauf, dass zwar die Auferstehung Jesu Christi erfolgt ist. Aber Paulus z.B. sagt niemals, die Christen seien bereits mit Jesus Christus auferstanden. Der Christ ist mit Jesus Christus gestorben und geht der zukünftigen Auferstehung entgegen, um dann immer beim Herrn zu sein. Paulus ruft deshalb immer auch zum Gehorsam gegenüber dem Anruf Gottes in dieser Welt und zum Bedenken der Verantwortung im Gericht auf. Er schließt eine schwärmerische Ausdeutung des „Ihr seid auferstanden mit Christus“ aus.
An dieser Stelle wird nun der Satz aus der heutigen Lesung aus dem dritten Kapitel des Kolosserbriefes ganz verständlich: „Euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott.“ Das alte bisherige Leben mit seinen falschen Neigungen und Bosheiten ist abgetan. Bestimmende Wirklichkeit ist jetzt allein das Leben, das durch Gottes Macht uns an Ostern zuteil geworden ist. Dieses Leben ist gegenwärtig (vgl. auch Kol 2,12f.). Damit ist jedoch jede schwärmerische Vorstellung, als wäre das Heil in ungebrochener Fülle sichtbar vorhanden, der Tod bereits verschwunden und die Auferstehung der Toten schon geschehen (vgl. 2 Tim 2,18), entschieden abgewehrt. Das alte Leben – daran lässt der Kolosserbrief keinen Zweifel – ist mit dem Tod, den Jesus gestorben ist, zu Ende. Es kann keinen Anspruch mehr stellen. Das Leben aber, das Gott in der Auferstehung mit Jesus Christus an den Tag brachte, ist ganz an Jesus Christus gebunden. Der Mensch gewinnt das neue Leben nur da und nur dort, wo er mit Jesus Christus lebt, seinem Herrn gehorsam ist und ihm vertraut. Das alte Leben ist egoistisch, kapselt sich ein und verliert so vieles, am Ende alles.
Hier setzt der Kolosserbrief eine wichtige Schranke im Verständnis: Die Vollendung ist noch nicht erfüllt, sondern liegt in der Zukunft. Dieses neue Leben ist verborgen mit Christus in Gott. Es kann nicht greifbar vorgewiesen werden, jedenfalls nicht jetzt. Hier gibt es eine doppelte Richtung: Das bereits in Jesus Christus angebrochene Heil ist nicht in ungebrochener Fülle sichtbar und greifbar vorhanden, aber es ist uns gewiss zugesagt als etwas, was im Himmel schon bereitet ist. Es ist ein Hoffnungsgut, das uns bereits geschaffen ist. Deswegen heißt es auch in 3,1: „Sucht das, was droben ist ... Denkt, was droben ist, nicht das Irdische.“ Darum ist Gott allein der Garant des neuen Lebens. Dieses ist freilich nur im Glauben zugänglich, erkennbar und gewiss. Er ist noch nicht am Ziel.
Diese Verborgenheit erfährt der Glaubende auf vielfache Weise. Er wird angefochten. Er muss immer wieder suchen und finden. Vieles im Leben bedrückt ihn. So muss er täglich das Kreuz auf sich nehmen. Wir müssen z.B. etwas auf uns nehmen, ertragen und durchtragen, was uns beschwert, vielleicht ein Leben lang. Man denke nur an chronische Krankheiten, an die Erfahrung unübersteigbarer Grenzen (auch unter uns Menschen), an den erschreckenden Unfrieden in unserer Welt. Wer uns ein Paradies auf Erden, den Himmel hier verspricht, führt uns in Wahrheit mindestens mit einem Bein in die Hölle. In wunderbarer Klarheit hat Paulus dies in den großen Kapiteln 6-8 des Römerbriefes dargestellt, wo er zugleich das Stöhnen und Seufzen der ganzen Schöpfung beschreibt. Alle trostlose Realität auf Erden hat bei allem drückenden Schwergewicht nicht das letzte Wort. Als Christen auf Erden leben wir zwar weiter in irdischen Beschränkungen, während die endgültige Herrlichkeit noch aussteht, aber uns auch verbürgt ist. Indem der Kolosserbrief besonders auch in den folgenden Versen darauf hinweist, dass unser wahres Leben zwar bei Gott verborgen ist, aber wir christlich leben können in der Welt (vgl. 3,5-4,1), vermeidet er die Gefahr einer Weltflucht, die das irdische und leibliche Leben abwerten würde. Die Bewährung im Alltag macht also das christliche Leben „mit Christus“ aus. Es gibt das ewige Leben schon in dieser Zeit, im Glück, in der Liebe, in selbstloser Hingabe, in der Vergebung, gewiss brüchig, fragmentarisch, aber real, in kleinen Dosen.
Wir spüren heute, besonders auch in diesen Tagen, das Bleigewicht und die Ambivalenz unseres Lebens, eben die Verborgenheit des Heils. Wir dürfen jedoch nie vergessen, was uns dazu Dietrich Bonhoeffer sagt: „Die Nacht ist noch nicht vorüber, aber es tagt schon.“ Jesus Christus, das Licht, hat die Finsternis vertrieben. Dies können wir an Ostern erkennen.
So darf am Ende auch bei allem Wissen, dass wir auf Hoffnung hin gerettet sind (vgl. Röm 5,3f.), eine letzte Siegesgewissheit des Glaubens nicht fehlen, ohne dass sie die Nüchternheit des Kreuzes vergisst. Sogar Paulus, der sonst sehr vorsichtig ist, wagt es uns mit dem Alten Testament zu sagen: „Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel.“ (1 Kor 15,54f. mit Jes 25,8; Hos 13,14G/56; Röm 5 und 7).
Wir sind gegenüber solcher Begeisterung heute eher skeptisch und verleugnen solche Texte eher. Wenn wir aber ernst nehmen, wie verborgen das neue Leben, eventuell auch unter der Asche des Bisherigen ist, dann dürfen wir die große Tröstung unseres Glaubens, die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus, nicht schwächlich zur Sprache bringen und bekennen. So gehört, wie gerade der Theologe des Kreuzes, der hl. Paulus, uns lehren kann, bei aller Verborgenheit des Heils gerade auch das Bekenntnis durchaus mit Siegesgewissheit zu unserem Glauben. Gewiss, Paulus spricht selten so siegesfroh wie hier. Aber auch andere Zeugen des Evangeliums bezeugen auf ihre Weise dasselbe. Darum kann uns auch der auferstandene Herr im Johannesevangelium zurufen: „In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.“ (16,33, vgl. 1 Joh 2,13; 4,4; 5,1; 5,4f.) Amen.
Lesung: Kol 3,1-4; Evangelium: Joh 20,1-9
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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