Europa - Katzenjammer

Gastkommentar für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben", Ausgabe Juni 2005

Datum:
Samstag, 11. Juni 2005

Gastkommentar für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben", Ausgabe Juni 2005

Es war schon erschreckend, dass die Ablehnung des Verfassungsentwurfs für die Europäische Union am vergangenen Sonntag in Frankreich mit 55 % „Nein“ ziemlich genau mit der Voraussage der Umfragen übereinstimmte. Man konnte es also bei aller bleibenden Ungewissheit vorhersehen.

Es war verständlich, dass man vor allem in Paris und Brüssel das Scheitern nicht dramatisieren wollte, eben auch im Blick auf die kommenden Abstimmungen in den Nachbarländern. (Das Ergebnis des Volksentscheides in den Niederlanden war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt.) Aber hilflos war es doch, denn es kann kein Zweifel bestehen, dass die Niederlage in einem der ersten und größeren Länder, das an der Wiege eines neuen Europa steht, eine echte Krise im Zusammenwachsen und so eben auch doch im Blick auf die Geschichte der europäischen Idee und der Europäischen Union eine mittlere Katastrophe darstellt. Es hat keinen Sinn, unausweichliche Diagnosen herunterzuspielen und die Lage zu beschwichtigen.

Gewiss, es hat innenpolitische Gründe in Frankreich gegeben, mit denen man dem Präsidenten und der Regierung einen Denkzettel verpassen wollte. Nicht zuletzt die junge Generation und die Arbeitnehmer fürchteten einen sozialen Abstieg, manche den Niedergang der „Grande Nation“ und gewiss auch ein Übermaß an zu viel Bürokratie.

Aber es war auch eine Quittung im Blick auf die Europapolitik nicht nur in Frankreich: Viele sind der Meinung, statt der raschen Erweiterung der EU auf 25 Mitglieder wäre eine Konsolidierung der bestehenden Gemeinschaft dringender gewesen; die ungeklärten Fragen eines Türkei-Beitritts haben zweifellos auch Stimmen gekostet.

Es ist im Ergebnis schon etwas tragisch, denn Staatspräsident Chirac war nicht gezwungen, den Volksentscheid in dieser Sache herbeizuführen, hat aber dieses demokratische Mittel gewählt. Er hat sich gründlich über die Stimmung seiner Landsleute in dieser Frage getäuscht. Es zeigt aber auch, dass man eine für Volksabstimmungen notwendige Kultur, wie es sie trotz mancher Mängel in der Schweiz gibt, nicht einfach voraussetzen kann, sondern dass man die Verantwortung eines ganzen Volkes dafür in einem längeren Prozess der Erziehung zu einer demokratischen Lebensform erst bilden muss. Eine fundamentale Entscheidung über eine Verfassung für die Europäische Union eignet sich nicht für nationale Denkzettel. Dies ist und bleibt ein Fehler.

Am Abend der Entscheidung und auch am folgenden Tag zeigte es sich, dass kaum jemand wusste, wie es mit einer Europäischen Verfassung weitergehen sollte. Die Meinungen konnten gegensätzlicher nicht sein: die einen verlangten die Wiederholung des Referendums, die anderen hielten dies für grundsätzlich unmöglich. Man wird – wohl erst nach weiteren Abstimmungen – sehen, was da noch zu reparieren ist.

Die Kirchen in Europa waren enttäuscht, dass es nicht gelang, in der Präambel einen Hinweis auf Gott und/oder die „christlichen Wurzeln“ Europas unterzubringen. Aber sie haben deswegen keine negative Stimmung gegen die Verfassung aufkommen lassen und haben zum großen Teil zu einer Annahme des Verfassungsentwurfs aufgerufen. Dabei soll es auch künftig bleiben. Aber man wird, auch wenn das französische Desaster nicht auf diese Mängel in der Präambel zurückgeführt werden kann, doch bei der Feststellung bleiben dürfen, dass man - trotz der unverdrossenen Mühe nicht weniger Personen, wie z.B. Erwin Teufel -, im Konvent und im Ministerrat diese Fragen nicht ausreichend geprüft hat. Viele ernsthafte Briefe blieben unbeantwortet.

Hinter dieser Frage steckt jedoch etwas anderes. Viele, denen wenig oder nichts an einem Gottesbezug in der Verfassung lag, fanden die Präambel im Blick auf die reiche Geschichte und Kultur Europas armselig. Darum haben auch Intellektuelle verschiedener Art ein mehr auch die Herzen packendes Pathos für das neue Europa vermisst, und zwar durchaus auf der Grundlage großer europäischer Kultur. Der Entwurf blieb in dieser Hinsicht kühl. Wir brauchen aber mehr Begeisterung für das neue Europa. Sie fehlt freilich schon länger. Europa-Technokratie genügt eben nicht. Wir brauchen nun einen zweiten Mut für das neue Europa.

Dies und eben noch vieles andere wird für einen Neuanfang gründlich und schonungslos zu bedenken sein.

© Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz