Anmerkungen zur Perspektive einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union am 15. Mai 2007 in der Vertretung des Landes Baden-Württemberg bei der Europäischen Union in Brüssel
I.
Die eindrucksvollen Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge am 25. März 2007 sind uns noch in lebendiger Erinnerung. Die Vielfalt von Erklärungen, die zu diesem Anlass verfasst worden sind, hat den Reichtum und die Lebendigkeit der europäischen Idee sichtbar gemacht. Auch die Deutsche Bischofskonferenz hat dieses Ereignis mit einer eigenen Erklärung „Europa. In Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gewürdigt:
„Die europäischen Völker wollen einen anderen Umgang untereinander und mit den Anderen pflegen als zuvor: nicht mehr gegeneinander, sondern – bisherige Grenzen überwindend – miteinander. Europa ist nicht mehr Synonym für Erbfeindschaften und Krieg, sondern für Konfliktlösung und Konfliktvermeidung ohne Waffen. Das ist das neue Europa! Insofern kann die Europäische Union eine Antwort auf die tragische Geschichte dieses Kontinents sein. Sie will es sein. Das ist die europäische Hoffnung!“
Ich darf persönlich anmerken, dass die Errungenschaften im europäischen Einigungsprozess zu den Dingen gehören, die mich – bei allen Einwänden zu konkreten Problemen heute – von Grund auf dankbar sein lassen.
Nun ist wieder Alltag eingekehrt in das europäische Geschäft. Und dieses ist geprägt von ernsten Auseinandersetzungen um fundamentale Fragen. Wir diskutieren die soziale Dimension Europas, ringen um Europa als Wertegemeinschaft, streiten über die Zukunft des europäischen Verfassungs- oder Grundlagenvertrages und suchen nach Möglichkeiten der Weiterentwicklung der politischen Institutionen.
Mir geht es heute um die Perspektiven einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Dies mag überraschen. In der Tat haben wir uns bisher damit kaum befasst. Damit hat man aber wohl auch – selbst aus der Perspektive der Religionen und Kirchen – die Bedeutung und Tragweite dieses Themas unterschätzt. Freilich ist immer wieder ein stärkerer Ausbau und eine Vertiefung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gefordert worden. So schrieb Dr. Otto von Habsburg, der sich zu diesem Thema besonders oft und intensiv äußerte 1998: „Eine Vielzahl von Gefahren, aber auch Europas außenpolitische Chancen machen eines ganz deutlich: Wir brauchen endlich eine europäische Außenpolitik, die diesen Namen wirklich verdient. Ein Blick auf die Landkarte zeigt uns, wie dringend eine solche, gemeinschaftliche Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ist.“ In der Zwischenzeit ist zwar manches geschehen, aber die Grundfrage bleibt.
Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Situation nach dem Maastricht-Vertrag. Die neue Struktur besteht darin, dass der Europäischen Gemeinschaft zwei Bereiche zur Seite gestellt werden, die anderen Regeln gehorchten, nämlich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als Anreicherung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) mit einer sicherheitspolitischen Komponente sowie um die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI). Man sprach vom Drei-Säulen-Modell. Die beiden genannten Bereiche unterstehen dabei nicht dem supranationalen Entscheidungsmaschinismus, sondern waren durch weitgehende Intergouvernementalität geprägt (Einstimmigkeit, geringerer Einfluss der Kommission, keine Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof, keine unmittelbare Anwendbarkeit usw.).
II.
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) stand nicht am Anfang der Europäischen Einigung. Erst mit dem Vertrag von Maastricht (7. Februar 1992) hat sie einen festen Platz in der Europäischen Union erhalten. Seither muss sie sich einer Vielzahl von Herausforderungen stellen und befindet sich in einem steten Prozess der Weiterentwicklung.
Der Weg hierher war lang und nicht frei von Rückschlägen. Denn im Mittelpunkt der europäischen Integration standen lange Zeit wirtschaftliche Gesichtspunkte; man sprach damals von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Außenpolitik wurde daher weitgehend auf Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik reduziert. So leistete die Europäische Gemeinschaft bereits im Rahmen der EWG-Verträge Entwicklungshilfe für ehemalige Kolonien der EG Mitgliedstaaten. Ein darüber hinaus gehendes abgestimmtes Handeln in den anderen außenpolitischen Feldern oder auch in der Verteidigungspolitik schien überflüssig, jedenfalls verfrüht. Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts waren die Mitgliedstaaten maßgeblich an der Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten und der NATO ausgerichtet. Doch auch die ursprüngliche Zielsetzung der Europäischen Gemeinschaft als Wirtschaftsgemeinschaft begründete immer mehr die Notwendigkeit verstärkter außenpolitischer Zusammenarbeit. Dies macht der weltumspannende Handel besonders anschaulich. Dieser Entwicklung wurde mit dem Abschluss der Partnerschaftsabkommen von Jaunde, Lomé und Cotonou Rechnung getragen. Sie stellen das wichtigste Element der Entwicklungshilfe Politik der EU dar.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erhielt der Gedanke einer Gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik neue Impulse. Außenpolitik im eigentlichen Sinne wurde nun zunehmend Gegenstand gemeinsamer europäischer Bemühungen. Hintergrund waren weltpolitische Entwicklungen, die bislang in ihrer Tragweite entweder nur unzureichend wahrgenommen oder in ihrer Bedeutung unterschätzt worden waren.
Ich nenne nur das Entstehen neuer weltpolitischer Gewichte, etwa durch den Aufstieg von Staaten wie China, Indien oder Brasilien, Ereignisse wie die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Gebiete des ehemaligen Jugoslawien, die Erosion der staatlichen Gewalt in einigen Ländern des Südens und die Gefährdung durch den zunehmenden internationalen Terrorismus. Es wuchs die Einsicht, dass sich Europa der Verantwortung angesichts dieser weltweiten Herausforderungen nicht entziehen darf. Hinzu kommt, dass die Europäische Union begriff, dass Themen wie der Klimawandel, Armut und Hunger, die soziale Frage, die Migration, der Zugang zu den lebenswichtigen Ressourcen sowie Sicherheit und Frieden auf der Agenda einer kohärenten Außen- und Sicherheitspolitik Priorität haben müssen. Dieser Erkenntnis trägt die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in überzeugender Form Rechnung, wenn es beispielsweise in Art 11 des Vertrages über die Europäische Union heißt, dass die Union eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verwirklicht, die sich auf alle Bereiche der Außen und Sicherheitspolitik erstreckt und insbesondere folgende Ziele hat:
·„Die Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen, der Unabhängigkeit und der Unversehrtheit der Union im Einklang mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen;
·die Stärkung der Sicherheit der Union in allen ihren Formen;
·die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen, sowie den Prinzipien der Schlussakte von Helsinki und den Zielen der Charta von Paris, einschließlich derjenigen, welche die Außengrenzen betreffen;
·die Förderung der internationalen Zusammenarbeit;
·die Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.“
In der „Berliner Erklärung“ vom 25. März 2007 haben die Staats- und Regierungschefs dies so formuliert: „Wir setzen uns dafür ein, dass Konflikte in der Welt friedlich gelöst und Menschen nicht Opfer von Krieg, Terrorismus oder Gewalt werden. Die Europäische Union will Freiheit und Entwicklung in der Welt fördern. Wir wollen Armut, Hunger und Krankheiten zurückdrängen. Dabei wollen wir auch weiter eine führende Rolle einnehmen“.
III.
Nach den Erfahrungen steht der in wichtigen Erklärungen und Vereinbarungen erhobene und in feiertäglichen Reden beschworene Anspruch allerdings leider zu häufig in einem mehr oder weniger scharfen Kontrast zur Wirklichkeit. Nur einige markante Beispiele hierzu:
·Außenpolitische Zerrissenheit und Handlungsunfähigkeit Europas zeigte sich im Jugoslawienkrieg wie auch angesichts des Völkermordes in Ruanda.
·Die außenpolitische Schwäche wird immer wieder beim Auftreten der Mitgliedstaaten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen offenbar.
·Trotz erheblicher Bemühungen der EU ist eine kohärente Nahost-Politik wegen der unterschiedlichen Interessen und Traditionen der Mitgliedstaaten nur schwer zu erzielen, wovon wir Bischöfe uns selbst bei einer Reise der Deutschen Bischofskonferenz überzeugen konnten (26. Februar bis 4. März 2007).
·Eine einheitliche Urteilsbildung zu den amerikanischen Plänen, ein neues Raketenschild in Osteuropa aufzustellen, steht noch aus. Es besteht die Gefahr, dass der eine oder andere Mitgliedstaat gegen Wortlaut und Geist der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vollendete Tatsachen in die eine wie in die andere Richtung schafft, bevor überhaupt eine gemeinsame Haltung formuliert ist.
·Nach wie vor ist die Union bei der Suche nach einer einheitlichen Linie in der Irakpolitik gespalten.
IV.
Warum ist die Entwicklung einer wirklichen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik so mühsam?
Solche Fragen kann man wohl nie monokausal beantworten. Neben unterschiedlichen Interessen und Souveränitätsansprüchen, die u.a. in unterschiedlichen Mentalitäten, in historisch gewachsenen bilateralen Beziehungen und Einflusssphären begründet liegen, sind es wohl auch strukturelle und institutionelle Hindernisse, die eine kohärente und effiziente Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union erschweren.
Um diese zu mindern, sieht der leider nicht ratifizierte Verfassungsvertrag einige neue Modalitäten, Strukturen und Institutionen vor (vgl. Art. 15; 39). Man wollte mit Hilfe der Verfassung angesichts der gewachsenen Herausforderungen die außenpolitische Handlungsfähigkeit verbessern. Der Konvent führte deshalb das Amt eines Außenministers ein (vgl. Art. 27). Wie schwierig die Ausstattung eines solchen Amtes mit hinreichenden Kompetenzen ist, was ja mit der Bereitschaft zur Aufgabe von nationalen Souveränitätsansprüchen verbunden ist, zeigt die aktuelle Debatte über den Verzicht auf dieses Amt, um wesentliche andere Teile des Verfassungsvertrages zu retten.
Mindestens ebenso schwierig ist der Versuch, neue Formen der Zusammenarbeit in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu finden. Unüberwindlich scheint der Widerstand gegen den Verzicht auf das Einstimmigkeitsprinzip zugunsten von Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik zu sein (vgl. Art. 24).
Es bleibt noch offen, wie sich die Regierungen der Mitgliedsstaaten zu dem von ihnen beschlossenen, aber nicht ratifizierten Verfassungsvertrag substanziell verhalten. Es ist ihnen unbenommen, schon jetzt nach den dort vereinbarten Prinzipien im Sinne einer freiwilligen Selbstverpflichtung zu handeln. Sie könnten beispielsweise schon jetzt den Rat konsultieren, bevor ein Mitglied auf internationaler Ebene in der Weise tätig wird, dass die gemeinsamen Interessen der Union berührt werden. Schon jetzt könnten sich die Mitgliedsstaaten, die Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sind, abstimmen und die übrigen Mitgliedstaaten in vollem Umfang auf dem Laufenden halten, wie es in dem Verfassungsentwurf heißt (vgl. Art. 39, Abs. 5).
Auch kann ein einheitliches Erscheinungsbild der Union nach außen deutlicher konturiert werden. Dafür braucht es keine Verfassung, sondern nur den guten Willen. Insgesamt ist anzuerkennen, dass die Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten auf ein gemeinsames Handeln und der Wille zu gegenseitiger Solidarität und Loyalität im GASP-Alltag auch ohne Verfassungsvertrag mehr und mehr Leitmotiv für das außen- und sicherheitspolitische Handeln werden sollen, wie es in der „Berliner Erklärung“ anklingt. Dies ist ermutigend und hoch einzuschätzen. Und doch machen wir bis heute die Erfahrung, dass zwischen den erklärten Absichten und deren Umsetzung vielfach Lücken klaffen.
V.
Auf der Suche nach den Gründen dafür stößt man neben den Mängeln und Schwächen der europäischen Strukturen und Institutionen bald auch auf die verschiedenen nationalen Identitäten.
Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ist wie kaum ein anderes Politikfeld Ausweis gesellschaftlicher und politischer Identität. Die tiefgreifenden Erfahrungen mit Krieg und Gewalt haben ihren konkreten Niederschlag in historischen Deutungen, gesellschaftlichen Berichten bzw. Darstellungen und nicht zuletzt politischen Konzepten gefunden. Bündnispolitik ist gesellschaftlich gesehen nie nur reines Interessenkalkül. Sie ist immer auch Selbstentwurf und Herstellung bzw. Wiederherstellung von Vertrauen in Weltzusammenhänge. Dabei kommt der Herkunft und Art der gegenseitigen Feindbilder und Stereotypen, aber auch der kulturellen Verschiedenheiten eine wesentliche Bedeutung zu.
Die europäische Idee ist nicht zuletzt von dem Bestreben bestimmt, die jeweiligen Dämonen unserer Geschichten zu bändigen, seien es nun der Nationalismus, der Faschismus, die totalitäre Versuchung oder auch schlicht nur rückwärts gewandte Selbstgenügsamkeit, die Menschen unter ihr Maß drückt. Die europäische Idee ist dabei eine großartige Projektionsfläche für unsere Identitäten. Nur – und das ist gerade typisch für die Struktur Europas – sind diese Identitäten in wesentlichen Wurzeln gegeneinander gebildet. Die verschiedenen nationalen Identitäten sind untrennbar aufeinanderbezogen und dennoch von ihrer Genese her verschieden.
Ich will dafür einige Beispiele anführen. Für das Verständnis der deutsch-polnischen oder der deutsch-französischen Gegenwart ist die Kenntnis der Unterschiede in den berichtenden und auch erzählenden Deutungen der Vergangenheit unabdingbar. Das Verhältnis zum Militärischen, um nur ein Beispiel zu nennen, ist wesentlich von den Erfahrungen der Gesellschaften mit Militär geprägt. Dabei sind wir uns oft fremder, als unser mehr oder weniger geschmeidiger Alltag deutlich werden lässt. Mir als Deutschem ist es fremd, wenngleich erklärlich, wenn in der französischen Erinnerung an Verdun die Nachschubstrasse als „voie sacreé“, Heiliger Weg bezeichnet wird: die Schlacht in Verdun als heilige (und damit sinnhafte) Abwehrschlacht im Gegensatz zur in Deutschland vorherrschenden Erinnerung an die Sinnlosigkeit des Gemetzels. Die Unterschiede werden im Fall Verdun in der Geste der deutsch-französischen Versöhnung zwar entschärft, bleiben aber dennoch irgendwie auch bestehen.
Dass diese Unterschiede nicht nur anregendes Material für das Feuilleton bieten, sondern den ernsten Untergrund bei der Lösung oder Nichtlösung konkreter Probleme darstellen, haben die Kriege im ehemaligen Jugoslawien am Anfang der 90er Jahre deutlich zu tage treten lassen. Es war bisweilen so, als ob der Zweite Weltkrieg als Deutungsfolie die gegenseitige Wahrnehmung der europäischen Partner in schwieriger Weise prägte. Vieles ist seitdem geschehen, um die gegenseitigen Verzerrungen in der Wahrnehmung der Problemstellungen auszugleichen. Dennoch spielt die Unterschiedlichkeit des historischen Erfahrungshintergrunds, wie z.B. traditioneller Nähen und Distanzen, nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Besonders schmerzhaft mussten wir dies im Vorfeld des Irak-Krieges erleben. Die unterschiedliche Wahrnehmung dieses Problems z.B. in Polen und in Deutschland ist letztlich nur dann einigermaßen zu verstehen, wenn man die jeweiligen historischen Hintergründe in Rechnung stellt. Dabei standen sich ein auf der deutschen Seite militärkritisches Denken und auf der polnischen Seite neben einer stärkeren Anlehnung an die USA ein bei der Bekämpfung von Diktaturen an der Solidarität ausgerichtetes Denken gegenüber. Für beide Seiten war es nicht in erster Linie ein Unterschied in der taktischen Einschätzung eines internationalen Problems. Vielmehr waren die Wahrnehmungen und die jeweilige Positionierung Ausfluss der nationalen Erfahrungen und Identitäten. Die Vorstellung, dass sich die je andere Seite mit ihrer Position gesamteuropäisch durchsetzen könnte, wurde von beiden Seiten im Sinne einer möglichen Überwältigung als bedrohlich erlebt. Diese Beispiele ließen sich fortsetzen. Sie machen eines deutlich: Wenn wir es ernst meinen mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, dann müssen wir uns mit diesen Verschiedenheiten befassen.
Diese in den verschiedenen Identitäten begründeten Unterschiede sind nicht in einem Sinne europäisch aufzuheben, dass sie einfach zum Verschwinden gebracht werden könnten. Daraus folgt, dass die bisweilen anzutreffende Forderung, nicht mehr nationale Geschichte, sondern nur noch europäische Geschichte zu lehren, im Grunde ein schlechter Rat ist. Die Verschiedenheiten und die partikularen Erfahrungen dürfen nicht einfach dem Vergessen anheim gegeben werden. Es geht vielmehr darum, sie konstruktiv deutend einzubinden. Sie könnten somit zu einer Quelle gegenseitiger Korrektur werden. Um noch einmal auf Verdun zurückzukommen: In einem weiten Sinne werden die Schlacht und ihre Folgen erst dann zu Ende sein, wenn wir unsere unterschiedlichen Deutungen „historisiert“ haben. Die neue wirklich gemeinsame Deutung müsste gerade auch die Unterschiede erklären und überwinden.
Angewandt auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Europäische Entwicklungspolitik scheint es mir evident zu sein, dass z.B. die Kohärenz der europäischen Politik gegenüber den Ländern des Südens eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen kolonialgeschichtlichen Zusammenhängen erfordert. Hier geht es nicht um schlichte Schuldzuweisung und billige Bußfertigkeit. Aber das unterschiedliche Verhalten europäischer Akteure 1994 in Ruanda gibt durchaus Anlass zur Nachdenklichkeit.
Ähnliches gilt für die europäische Position zu Nahost. Die vielfältigen und unterschiedlichen historischen Bezüge zur Region könnten einen Reichtum und eine Chance darstellen. Sie stellen aber allzu oft nur eine Quelle der Uneinigkeit, manchmal geradezu der Spaltung dar.
VI.
In diesem Zusammenhang möchte ich für eine verstärkt selbstreflexive Haltung eintreten, die die eigene Perspektive und Identität als notwendigen, aber als keineswegs hinreichenden und als keineswegs abgeschlossenen Bestandteil des europäischen Dialogs versteht. Man muss die „Komplementarität“ der Perspektiven und Interessen genauer analysieren und verstehen.
Europäische Gemeinsamkeit erfordert, die Wirklichkeit Europas in Vergangenheit und Gegenwart mit verschiedenen Augen betrachten zu lernen. Europäisches Denken basiert darauf, den Anderen vor allem als ein notwendiges Gegenüber zu verstehen, ohne dessen Weltsicht auch wir nur ein unvollständiges Bild von uns selbst gewinnen können und ohne dessen Erfahrungen und Perspektiven – selbst wenn wir sie mit guten Gründen in Frage stellen - wir keine tragfähigen Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart finden werden.
Solches Denken ist dabei auf eine prinzipiell offene Lerngemeinschaft angewiesen. Es ist zugleich selber Produkt eben dieser Lerngemeinschaft. Die grundsätzliche Offenheit und Bereitschaft, andere in den Prozess des Lernen und Nachdenkens einzubeziehen und dabei die eigenen Wahrheiten und Perspektiven kritisch zu prüfen, aber wo es gefordert bleibt und gefordert ist, diese auch beharrlich einzubringen, ist eine Voraussetzung dafür, dass Europa mehr ist als eine letztlich selbstgenügsame Versammlung mehrheitlich wohlhabender Gesellschaften.
Was bedeutet dies für die Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik? Sie verkörpern einerseits wie kaum ein anderes Politikfeld das Selbstverständnis der Europäischen Union als Friedensprojekt. In ihr käme die Europäische Union in qualitativ neuer Weise zu sich selbst. Andererseits wird sie wie kaum ein anderes Feld zugleich von nationalen Verlustängsten und auch von der Sorge begleitet, durch eine übermächtige Zentrale dominiert zu werden. Beides, der anti-zentralistische Affekt wie die Einsicht in die Notwendigkeit einer vertieften Zusammenarbeit – wie fragil diese auch immer sein mag –, haben ihre tiefen Wurzeln in den Erfahrungen der europäischen Geschichte.
Die wertmäßigen Inhalte dieser Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik scheinen mir offensichtlich zu sein: Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und internationale Solidarität. Europa als ein verlässlicher Partner bei der Lösung der großen Menschheitsprobleme. Ich möchte an dieser Stelle nur an die UN Millenniumsziele, besonders das Weltarmutsproblem sowie die Klimaprobleme erinnern. Es ist evident, dass Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung in direktem Zusammenhang mit der Friedensfrage stehen. Europa ist es sich und der Welt schuldig, hier einen seinen großen Möglichkeiten gemäßen Part zu spielen. Der Versuchung zur Wiederkehr des Großmachtdenkens nun im europäischen Gewand, womöglich noch antiamerikanisch unterlegt, muss widerstanden werden.
Aber bei all der Plausibilität dieser Überlegungen steht natürlich auch die Frage im Raum, wie viel Gemeinsames in der Außen- und Sicherheitspolitik konkret gewollt wird und wie dieses Gemeinsame dem vielfältig Aufeinanderbezogenen und dennoch Verschiedenen seinen angemessenen Raum lassen kann. Denn neben den Werten, die im Großen und Ganzen grob geteilt werden, gibt es bisweilen Interessen, die nicht immer deckungsgleich sind. Es handelt sich letztlich um die klassische Frage nach der Einheit in der Vielfalt.
Die Europaidee – wiewohl schon in den Tiefen der Geschichte unseres Kontinents angelegt – bezieht ihre heutige Kraft zunächst aus der Erfahrung der großen europäischen Katastrophen. Es ist die kreative und selbstreflexive Auseinandersetzung mit diesen Katastrophen, die uns stark machen kann. Dazu kommt die Erkenntnis, dass nur ein einiges Europa – und nicht mehr die Nationalstaaten für sich alleine – eine begründete Chance hat, sich in der globalisierten Welt erfolgreich zu behaupten. Schließlich bilden die in der Europäischen Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten nach wie vor eine Werte- und Kulturgemeinschaft, die eine große Faszination ausübt und den hier lebenden Menschen Beheimatung gibt. Dies ist nicht gering zu schätzen. Der Mensch bedarf der kulturellen Ordnung und Traditionen, um Mensch zu werden oder zu bleiben.
Dadurch besitzt die Europaidee eine Wirkmächtigkeit, Dynamik und innere Kraft, die die konkrete Hoffnung begründen, dass die derzeitigen – und bei illusionsfreier Einschätzung auch zu erwartenden – Probleme auf dem Weg zu einer überzeugenden Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gemeinsam überwunden werden. Ein Europa, in dem soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Wohlfahrt der Völker eine Zukunft haben, ist keine Illusion, solange wir es als Aufgabe und Verpflichtung begreifen und solange wir die europäische Idee immer wieder mit Leben füllen.
Gewiss ist der Begriff der Außen- und Sicherheitspolitik nicht mehr so eindeutig. Er hat heute andere Kontexte zur Seite, wie z.B. die Entwicklungspolitik und die Migrationspolitik. Entscheidungen fallen gewiss immer auch durch die Ranghöhe der einzelnen Felder und Interessen. Dadurch kommen – ob man es will oder nicht – auch „Werte“ mit ins Spiel. Man spürt dies besonders auch, wenn es um die Kriterien für neue Mitglieder geht. Besonders deutlich wird dies zusätzlich, wenn man die Frage nach den Grenzen Europas stellt (Türkei, Nordafrika). In der Tat gibt es in diesen Fragen so verschiedene Meinungen, weil die inhaltliche Frage nach den Kriterien wenig gestellt wird, ja sogar eher verdrängt wird. Europa braucht deshalb einen Grundlagenvertrag – lassen wir das Wort Verfassung einmal beiseite –, indem ich nur die Machtbalance zwischen den Institutionen geregelt wird, sondern wo auch diese Fundamente angesprochen werden. Man hat viel zu wenig beachtet, das diese fundamentale Forderung längst verbindlich ist. Denn im Vertrag über die Europäische Union heißt es in Art. 11 über die „Ziele der Union“, und zwar gerade im Zusammenhang einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, dass „die Wahrung der gemeinsamen Werte“ an oberster Stelle steht. Vielleicht gibt es darum so viele Unklarheiten in der Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, weil man diese Frage nach der Wahrung der gemeinsamen Werte nicht ernsthaft genug angegangen ist. Man muss sich außerdem auch fragen, wie und mit welchen Motiven sowie Werten eine andere Zielbestimmung der Union formuliert wird: „Die Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.“
Den Beitrag der Kirche möchte ich an dieser Stelle nur andeuten. Schon mit ihrer übernationalen Struktur steht sie für Gemeinsamkeit und Einheit. In den 2000 Jahren ihrer Existenz hat sie viele staatliche und politische Umbrüche mit erlebt und mit gestaltet. In ihrem kollektiven Gedächtnis sind auch historische Phasen lebendig, in denen die europäische Einheit in mancherlei Beziehung bereits verwirklicht war. Ihre Erfahrungen und ihr Einheit stiftendes Wirken kommen auch heute dem europäischen Einigungsprozess zugute.
Ich möchte schließen mit einem Zitat von Karl Jaspers. Er war 1947, als einer der wenigen Deutschen zum Rencontre des Geneves eingeladen worden, um seine Überlegungen zum europäischen Geist vorzutragen:
„Auch Europa ist nicht das Letzte für uns. Wir werden Europäer unter der Bedingung, dass wir eigentlich Menschen werden – das heißt Menschen aus der Tiefe des Ursprungs und des Zieles, welche beide in Gott liegen.“
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
Im Original sind eine Reihe von Fußnoten, Hinweisen und Anmerkungen enthalten.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz