Gastkommentar für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im Juli 2006
Seit einigen Jahren hat nicht nur in allen Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen die Familienpolitik Hochkonjunktur, sondern immer wieder findet sich ein Spitzensatz, der sich weitgehend und beinahe selbstverständlich durchgesetzt hat: Familie ist, wo Kinder sind.
Der kurze, auch leicht merkbare Grundsatz scheint viele Probleme zu lösen. Seitdem der Familienbegriff (übrigens ähnlich wie Ehe: Homo-Ehe) für viele Formen des Zusammenlebens geöffnet worden ist, ist die Eindeutigkeit, mit der der Familienbegriff an Kinder gebunden wird, eindrucksvoll und auch ein wenig befreiend.
Es besteht auch kein Zweifel, dass man zu diesem Grundsatz nur ja sagen kann, wenn es darum geht, die Unterstützung und Gemeinschaft, die Kinder brauchen, positiv hervorzuheben. Dies gilt gerade auch für Alleinerziehende, die dadurch auch eine stärkere Anerkennung finden. Dies gilt nicht zuletzt auch für Mütter, die vielleicht trotz mancher Schwierigkeiten ja gesagt haben zu einem Kind. Deshalb hat sich „Familie ist, wo Kinder sind“ schnell durchgesetzt, auch wo man es gar nicht vermutete.
Man muss trotzdem klug und differenziert mit diesem Slogan – es ist ein solcher geworden – umzugehen wissen. Man darf den Satz nicht zu sehr auf die Situation einschränken auf Kinder, die jetzt eine Familie bilden. Eine Familie existiert auch dann noch, wenn die Kinder „ausgeflogen“ sind und nicht mehr für alle spürbar in einem lebendigen, kontinuierlichen Verbund leben. Eltern kümmern sich ja schließlich auch noch lange um ihre Kinder, wenn diese nicht mehr in der Familiengemeinschaft leben, sondern z. B. eine eigene Familie gegründet haben. Ich weiß, dass solche Familien, die ihre Kinder oft noch sehr intensiv und hilfreich begleiten, über unseren Grundsatz regelrecht ärgerlich sind.
Es kommt aber noch auf einen anderen grundsätzlicheren Nachteil an, den man immer wieder anmahnen muss. Dies ist der innere Zusammenhang von Ehe und Familie. Denn in dem etwas leichtfüßig formulierten Grundsatz „Familie ist, wo Kinder sind“ ist von einer solchen engen Zusammengehörigkeit nichts zu spüren. Das Band zwischen Ehe und Familie ist praktisch zerbrochen bzw. auseinander gerissen. Man kann aber mindestens nach dem Verständnis unseres Grundgesetzes und auch dem christlichen Menschenbild Ehe und Familie nicht einfach voneinander abkoppeln. Mindestens gilt dies für das Leitbild jeweils von Ehe und Familie. Wenn die Zahl der Trennungen und Alleinerziehenden zunimmt, spricht dies noch nicht gegen die Lebensform von Ehe und Familie, die in unendlich vielen Fällen ohne große Auffälligkeit, jedoch bei einem hohen Einsatz der beteiligten Menschen erstaunlich gelingt. Die Gemeinschaft in Liebe und Treue gibt nicht nur vielen Männern und Frauen, sondern auch ihren Kindern eine bergende Gemeinschaft, die sie für ihren täglichen Dienst in ihrem Beruf und für andere Menschen stärkt.
Diese Grundstruktur, die ich schon im Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2003 zum Hauptthema gemacht habe und inzwischen auch von unserer Kirche am Familiensonntag und in der jährlichen „Woche für das Leben“ betont worden ist (es gibt dafür viele gute Materialien), müssen wir heute entschieden verteidigen, aber nicht nur defensiv mit dem Rücken zur Wand, sondern auch überzeugend nach vorne in die Zukunft hinein.
Der Grundsatz „Familie ist, wo Kinder sind“ enthält manches Richtige, darf aber nicht zu einem unüberlegten Gemeinplatz verkommen. Dies gilt nicht zuletzt auch für die gegenwärtige Diskussion, bei der man glaubt, man könne das Ehegattensplitting durch ein Familiensplitting ersetzen. Vieles klingt im ersten Augenblick gut, aber auch hier gilt im Blick auf das Gesagte: Eile mit Weile!
© Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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