Selten hat mich eine Anerkennung und Auszeichnung so überrascht, wie die Verleihung des Abraham-Geiger-Preises. Um so größer ist mein Dank an alle, die diese Entscheidung getroffen haben. Ich denke in erster Linie an das Abraham-Geiger-Kolleg an der Universität Potsdam und ihren Rektor, Rabbiner Dr. Walter Homolka. Was diese Verleihung für mich bedeutet, will ich gerne in dem hier vorgesehenen Rahmen zur Sprache bringen.
I.
An erster Stelle steht der Name des Mannes, nach dem der Preis benannt ist. Abraham Geiger, geboren am 24. Mai 1810 in Frankfurt a.M. und gestorben am 23. Oktober 1874 in Berlin, ist vor allem für seine Bemühungen bekannt, dem im 19. Jahrhundert entstehenden Reformjudentum Gestalt zu verleihen. Aufgewachsen in einer orthodoxen Familie erhielt er eine traditionelle talmudische Ausbildung. Während seiner Ausbildungszeit, vor allem an der Universität Bonn, verstärkte sich bei ihm eine Tendenz zur stärkeren Auseinandersetzung des Judentums mit der Moderne. Dies bedeutete für ihn keine Zurückweisung des vorausgegangenen Judentums, sondern eine Wiederentdeckung ursprünglicher Tendenzen. Diese sah er im Monotheismus und in seiner Ethik. Während der Grieche den Geist der Philosophie in die westliche Zivilisation eingebracht habe, hätten die Juden dem Abendland den „religiösen Geist“ geschenkt, der dem Ethos eine feste Grundlage gegeben habe. Zugleich war er der Überzeugung, dieser lebendige Glaube habe im Lauf der Jahrhunderte durch die Strenge der talmudischen Konzentration auf das Gesetz an Kraft eingebüßt. Das Getto, das durch die Intoleranz der Christen den Juden auferlegt wurde, fixierte diese Grundhaltung. Es ist bekannt, wie Abraham Geiger entsprechende Grundhaltungen bereits in der Auseinandersetzung zwischen den Pharisäern und den Sadduzäern erblickt hatte. Geiger war überzeugt, dass die Pharisäer die Bibel im Geist ihrer Zeit ausgelegt, die Sadduzäer aber sich im Buchstaben der Bibel verfangen hätten.
Abraham Geiger hat mit Entschiedenheit in der Liturgie die deutsche Sprache bevorzugt. Bei aller schroffen Art, z.B. in der Kritik der Speisegesetze, hat er jedoch immer auch wieder eine maßvolle Haltung zur eigenen Tradition eingenommen. „Innerhalb der Reformbewegung war Geigers Position gemäßigt, vermittelnd zwischen den radikaleren Bestrebungen Samuel Holdheims und Kaufmann Kohlers einerseits und den von Zacharias Frankl und Heinrich Graetz vertretenen konservativen, protonationalistischen Gruppierungen andererseits.“
Schließlich aber war Abraham Geiger ein überaus fähiger Historiker, der neue Impulse in die Erforschung des rabbinischen Judentums, aber auch für die Anfänge des Christentums brachte. Seine Bedeutung geht jedoch noch darüber hinaus. Erst kürzlich sind die Arbeiten, die den Einfluss der rabbinischen Literatur auf den Text des Korans nachweisen, neu veröffentlicht worden. Nach seiner Überzeugung war der Islam nicht das Produkt christlich-häretischer Gruppen, sondern ein Produkt des Judentums. Das Judentum und nicht das Christentum stellt das Fundament der westlichen Zivilisation dar.
Jesus war für Abraham Geiger ein liberaler Pharisäer. Nach seiner Überzeugung hat Jesus keinen neuen Gedanken ausgesprochen. Er hob nichts aus dem Judentum auf. Das Christentum begann erst, als Paulus den vorbildlichen Monotheismus in Jesu Wort und Werk durch die Übernahme des häretistischen Denkens verdunkelte. Wie immer man heute diese Aussagen beurteilt, jedenfalls hat Abraham Geiger der Jesusforschung, gerade auch im Zusammenhang des zeitgenössischen Judentums, große Impulse gegeben, an denen nicht nur die Forschung heute, sondern auch der jüdisch-christliche Dialog zu arbeiten hat.
Abraham Geiger ist eine ausgesprochene Gründerfigur, die viele Anstöße gegeben hat. Dies gilt besonders auch für die Wirkung seines Gebetbuches, das weltweit zur Grundlage für die Liturgie der Reformgemeinden wurde. Er war fest davon überzeugt, dass das Judentum sich voll der Auseinandersetzung besonders mit der Moderne stellen muss, um überleben zu können. Ganz gewiss hat ihn dieser Mut zur Bewahrung durch schöpferische Auseinandersetzung zu einem großen Gestalter des Reformjudentums gemacht. So war es konsequent, dass er nach langen Verdächtigungen 1871 einen Ruf an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin erhielt. Heute gibt er dem Nachfolge-Kolleg mit Recht seinen Namen. Abschließend möchte ich Rabbiner Leo Trepp zitieren: „Es muss betont werden, dass Geiger voll und ganz hinter seinen Reformen steht, die er für die Juden als (über)lebensnotwendig ansieht ... Geiger ist ein begeisterter Jude, seine Reformen sollen dem Ziel dienen, die Kraft des Judentums zu erneuern und Juden von Übertritten zurückzuhalten.“
II.
Das Abraham Geiger-Kolleg und der Abraham Geiger-Preis sind vielfältig mit dem Namen eines der größten Rabbiner und Wissenschaftler verbunden, nämlich Leo Baeck, geboren am 23.Mai 1873 in Lissa (Provinz Posen) und gestorben am 2. November 1956 in London. Albert Friedlander hat ihn als „Paradigma des deutschen Judentums im 20. Jahrhundert“ bezeichnet. Es kommt ihm in seiner Zeit zwischen dem Wilhelminischen Kaiserreich und der Nazi-Diktatur in vieler Hinsicht eine überragende Bedeutung zu, und zwar als Rabbiner, Wissenschaftler und schließlich auch als ein Seelsorger in der politischen Verfolgung vieler Menschen. Sein Werk „Das Wesen des Judentums“ hat ihn, vor allem durch die Auseinandersetzung mit Adolf von Harnacks „Das Wesen des Christentums“ , zu einem herausragenden Interpreten und Vermittler eines modernen, selbstbewussten Judentums gemacht.
Sein Leben und seine Bedeutung als Gelehrter können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Die glänzende Apologie des jüdischen Glaubens hat der jüdischen Minderheit – gegen die Versuchung zur Konversion und den Druck des Antisemitismus nicht nur kulturelles Selbstbewusstsein vermittelt, sondern das Judentum auch durch den Hinweis auf seine religiöse wie ethische Überlegenheit zur „Religion der Zukunft“ erklärt. Dieser Grundtext des jüdisch-liberalen Selbstverständnisses im 20. Jahrhundert will begründen, warum das Judentum so eine große geschichtliche Macht in der Weltgeschichte geworden ist und daraus nicht mehr wegzudenken ist. Es ist keine partikularistische Gesetzesreligion, sondern ein zutiefst universalistischer Glaube. „Im Zentrum der jüdischen Religion steht weder das Dogma noch die religiöse Innerlichkeit, sondern die sittliche Tat als Antwort auf Gottes im Gebot offenbarten Willen, der auf Gerechtigkeit in der Welt zielt.“ Man hat manchmal die Konzentration des Judentums auf die Bewährung im Leben bei Leo Baeck zu sehr als eine Ausblendung des Spirituellen missdeutet. Er weiß aber sehr wohl um die notwendigen Dimensionen der Andacht und des Gebetes, die Beachtung der Feiertage und um alle Formen gelebter Religiosität. Er war freilich vom Vertrauen auf die Erfüllbarkeit des Willens Gottes geprägt. Darum endet „Das Wesen des Judentums“ mit einem flammenden Aufruf zu seiner „Erhaltung“. Es geht um die Bewahrung jüdischer Identität, aber auch um das exemplarische Vorleben des sittlich-religiösen Ideals, auf dem allein diese Identität beruht. „Und so war in der Tat das Judentum gewesen, um so allein weiterhin zu sein: das Unantike in der antiken Welt, das Unmoderne in der modernen Welt. So sollte der Jude als Jude sein: der große Nonkonformist in der Geschichte, ihr großer Dissenter. Dazu war er da. Um dessentwillen musste der Kampf für die Religion ein Kampf um diese Selbsterhaltung sein. Kein Gedanke der Macht war darin, er wäre der Widerspruch dazu gewesen – nicht Macht, sondern Individualität, Persönlichkeit um des Ewigen Willens, nicht Macht, sondern Kraft. Als Kraft in der Welt lebt das jüdische Dasein und Kraft ist Größe.“
Diese Größe hat Leo Baeck in ganz besonderer Weise bewiesen, als die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte kam. Im Januar 1943 wurde Leo Baeck selbst nach Theresienstadt deportiert, wo er sich ganz auf seine seelsorglichen Aufgaben konzentrierte. Bis zur Befreiung 1945 half er durch zahlreiche Vorträge zur Stärkung des Überlebenswillens der Häftlinge. Es war eine einzigartige Form des Widerstands gegen die Inhumanität der Nazis. Dort schrieb er auch - immer wieder überarbeitet, darum erst 1955 veröffentlicht - das Buch „Dieses Volk. Jüdische Existenz“. Es handelt sich um eine Erzählung des Weges des jüdischen Volkes durch die Geschichte, die sich des erlittenen Leides schmerzlich bewusst ist und dennoch mit einem Kapitel endet, das den Titel trägt „Die Hoffnung“. Diese Aussage ist für ihn nur möglich, weil er glaubt, dass der Bund Gottes mit seinem erwählten Volk kraftvoll fortdauerte. Sein Leitmotiv lautete: „In einem Bunde, der alle Völker in sich schließt, steht dieses Volk auf Erden“. Es ist darum konsequent, dass Leo Baeck eine kaum überschätzbare Bedeutung hat in der Geschichte des Judentums im 20. Jahrhundert. Dabei habe ich hier gar nicht von seinen zahlreichen repräsentativen Aufgaben nach dem Krieg gesprochen, als er bis zu seinem Tod in London lebte. Sein großer Biograf Albert H. Friedlander schreibt: „Leo Baeck war für mich von Anfang an die zentrale Gestalt, die mein Verständnis vom Judentum entscheidend beeinflusste ... Zeuge geworden, wie die deutschen Juden in die tiefste Hölle hinabstiegen. Mehr als nur Lehrer und Akademiker ...“ Er war und blieb ein Stern in der Nacht. So kann Leo Trepp schreiben: „Leo Baeck (1873-1956) hat sich durch seine Standhaftigkeit und seinen Mut in der Nazizeit einen unvergänglichen Platz in der jüdischen Geschichte erworben.“ So ist es auch konsequent, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland seit 50 Jahren den Leo Baeck-Preis vergibt, der Sitz des Zentralrates „Leo Baeck-Haus“ heißt, und wir nun auch die Errichtung der Leo Baeck-Stiftung begehen, die wesentlich auch zur Stützung des Abraham Geiger-Kollegs beitragen soll.
III.
Auch und gerade Leo Baeck hat vieles angestoßen für das jüdisch-christliche Gespräch. Die Sache ist vielschichtig. Immer wieder verwies Leo Baeck auf die jüdischen Wurzeln des christlichen Denkens. Er erkannte Jesus als wichtige jüdische Gestalt und erblickte im Evangelium einen Teil der jüdischen Geschichte. Seine Beschreibung des Judentums als „klassische“, des Christentums als „romantische“ Religion ist nicht nur nach meinem Dafürhalten eine unzureichende Titulatur. Aber es ist noch ein weites Gebiet, das diese beiden Stichworte markieren. Wichtiger und nachhaltiger sind die Anstöße, die er für eine enge Zusammenschau der christlichen Wurzeln mit dem jüdischen Mutterboden bis heute gegeben hat.
Das Christentum selbst ist undenkbar ohne die Herkunft aus dem Volk Israel. Man denke nur an Aussagen, wie bei Joh 4,22: „Das Heil ist aus den Juden.“ Aber auch die bekannten Ausführungen in Kapitel 9-11 im Römerbrief sagen mit aller Deutlichkeit: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11,18) Im Übrigen kann man die judenkritischen Aussagen des Neuen Testaments weder tilgen noch ignorieren. Wir müssen sie heute sorgfältig interpretieren. In diesem Sinne hat ganz gewiss der Holocaust in Verbindung mit Antijudaismus und Antisemitismus uns neu die Augen geöffnet. Er verändert die Wahrnehmung biblischer Texte und hat so eine wichtige hermeneutische Funktion im Vorgang der Interpretation dieser Texte. So ist die ganze Geschichte der Entfremdung zwischen der Kirche und dem Judentum eine schwere Hypothek, die die Kirchen heute nicht einfach abstreifen können. Die historische Last ist zu groß. Der Antisemitismus bleibt ein Problem.
Dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist trotz vieler Geburtswehen in der Erklärung „Nostra aetate“ ein Epoche machender Text zum Verhältnis zwischen Judentum und Kirche gelungen. Zwar gab es schon im Gefolge des Zweiten Weltkrieges und des Erschreckens über die nationalsozialistischen Gräuel Hinweise für eine dringende Umkehr der Kirche. Man kann nicht leugnen, dass es vor allem die Päpste selbst waren, die das Anliegen vorantrieben. Johannes XXIII. hatte schon 1959 für den Karfreitag verletzende Worte aus den so genannten „Großen Fürbitten“ ausmerzen lassen. Der Antisemitismus sollte mit einem Schuldbekenntnis der Kirche bezüglich dessen christlicher Wurzeln verurteilt werden; eine positive Lehräußerung sollte die Israelvergessenheit der Kirche aufheben. Dabei sollte die Grunddifferenz nicht verschwiegen werden, dass die Christen an Jesus als den gekommenen Messias glauben, während die Juden noch auf den Kommenden warten.
Viele Vorhaben wurden in großer Intensität erfüllt, nicht zuletzt auch im großen Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 2000. Dies gilt auch für das deutsche Sprachgebiet. Es gibt darüber gute Dokumentationen. Der Dialog bedarf der konsequenten Fortsetzung. Darauf kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen.
Beim jüdisch-christlichen Dialog geht es um eine aus den erwähnten Gründen entspringende Vorzugsstellung. Die Juden sind unsere älteren Brüder. Wir können nicht vergessen, was ihnen auch von Christen angetan worden ist. Dies ist der Grund, warum dieser Dialog im Gespräch der Religionen, von der innerkirchlichen Ökumene abgesehen, immer noch einen herausragenden Vorrang genießt. Ich glaube, dass die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils auch an dieser Stelle eine wichtige Hilfe geschaffen hat. In den Großen Fürbitten des Karfreitags heißt es nun: „Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu denen sein Ratschluss sie führen will ... erhöre das Gebet deiner Kirche für das Volk, das du als erstes zu deinem Eigentum erwählt hast: Gib, dass es zur Fülle der Erlösung gelangt.“
Von der Konzilserklärung „Nostra aetate“ war schon die Rede. Ich kann hier nicht näher auf sie eingehen. In der Folgezeit kam es zu vielen Erklärungen: Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung Nostra aetate, Artikel 4 vom 1. Dezember 1974 durch die vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum; Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der Katholischen Kirche vom 24. Juni 1985 durch dieselbe Kommission. Hingewiesen sei vor allem auch auf drei Dokumente aus dem deutschen Sprachraum: Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland „Unsere Hoffnung“ vom 22. November 1975 (Teil IV.2); Arbeitspapier des Gesprächskreises Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs vom 8. Mai 1979; Erklärung der deutschen Bischöfe „Über das Verhältnis der Kirche zum Judentum“ vom 28. April 1980. In diesen Texten , zu denen vor allem auch eine Erklärung der französischen Bischöfe von 1973 gehört, werden die erwähnten Perspektiven wiederholt, bestätigt und verstärkt. Die Kirche grenzt ihre eigene Existenz nicht mehr länger polemisch gegen Israel ab oder erhebt sich darüber. Sie erkennt die Anfänge ihres eigenen Glaubens und ihrer eigenen Erwählung bei den Patriarchen an, bei Mose und bei den Propheten. Immer wieder wird das Bild vom Ölbaum (vgl. Röm 11) aufgegriffen. Das Bild vom Frieden Christi aus Eph 2, wonach Christus Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und in sich vereinigt hat, spielt eine große Rolle. Es kann künftig keine religiöse oder theologische Selbstprofilierung der Kirche auf Kosten des Volkes Israel geben, sondern eigentlich nur noch die Anerkennung einer grundlegenden und bleibenden „spirituellen Verbundenheit“. Trotz der Ablehnung Jesu als des Messias sind die Juden immer noch von Gott geliebt. Aus der Tatsache, dass die Kirche sich als das „neue Volk Gottes“ versteht, darf man nicht ableiten, die Juden seien von Gott verworfen oder verflucht. Die vulgärtheologischen Irrtümer werden richtiggestellt. Die Kirche beklagt alle Hassausbrüche und Manifestationen des Antisemitismus. Die gegenseitige Kenntnis und Achtung muss durch theologische Studien und ein geschwisterliches Gespräch vertieft werden. Juden und Christen ist die Ausrichtung auf die Zukunft gemeinsam. Die Kirche erwartet mit den Propheten den Tag des Herrn, der nur Gott bekannt ist, und an dem alle Völker mit einer Stimme Gott anrufen und preisen. Immer stärker wird auch der Schuldanteil der katholischen Kirche selbst zur Sprache gebracht. Dabei geht es nicht nur um ein Bedauern, sondern um eine wirkliche Verurteilung von Fehlentwicklungen.
Gerade die deutschen Bischöfe haben in den letzten Jahren diese oft als fehlend beklagten Akzente ergänzt. Ich zitiere vor allem das Wort der Bischöfe zum Verhältnis von Christen und Juden aus Anlass des 50. Jahrestages der Novemberpogrome 1938 vom 20. Oktober 1988 (gemeinsam herausgegeben von der Berliner Bischofskonferenz, der Deutschen Bischofskonferenz und der Österreichischen Bischofskonferenz am 20. Oktober 1988 ). Die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 50 Jahren im Jahre 1995 bot mehrfach Gelegenheit, an die Vorurteile und Feindbilder zu erinnern, die zu der Katastrophe führten. Im Januar 1995 wurde eine Erklärung zum 50. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau veröffentlicht, der gleichzeitig eine Erklärung der Polnischen Bischofskonferenz vom selben Datum entsprach. Hier wurde an der Mitschuld der Christen und der Kirche kein Zweifel gelassen. In einen breiteren Zusammenhang wurde das Verhältnis der Christen zu den Juden im Wort der deutschen Bischöfe zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 50 Jahren am 24. April 1995 gestellt. Einige Kernpunkte wurden in einer gemeinsamen Ökumenischen Erklärung mit der EKD zum 8. Mai 1995 bekräftigt und zusammengefasst. Diese Äußerungen finden sich wieder in zahlreichen Erklärungen zum 8. Mai 2005.
Bewusst wurde von einem „ersten Durchbruch“ gesprochen, der freilich viele Bereiche und auch Disziplinen betraf und betrifft. So darf man auch von der Überzeugung ausgehen, dass damit eine wirklich neue Epoche erreicht ist, hinter die man nicht mehr zurückgehen kann. Es wird sicher noch vieles getan werden müssen, um diesen ersten Durchbruch zu sichern und auszubauen. Dabei gehe ich von der festen Überzeugung aus, dass es im Rezeptionsprozess – auch hier zwar nicht prinzipiell, aber im Einzelnen – Stagnation, ja vielleicht auch einmal zwischenzeitliche Rückschritte geben kann. Gewiss muss die Frage noch gründlicher geprüft werden, wie weit die Kirchen eine Mitschuld an dem furchtbaren Geschehen der Schoah tragen. Hier muss die Gesamtsituation noch differenzierter beschrieben werden, als dies bisher möglich war. Unterdrückung und Verfolgung ergeben sich nicht zwangsläufig aus der Auslegung der Heiligen Schrift selbst. Die faktische Wirkungsgeschichte hat jedoch die Disposition zum Judenhass verstärkt. „Auf diese Weise ist der Antisemitismus ein geschätztes Souvenir des Christentums selbst dort, wo das Christentum verworfen wurde, und das bedeutet für uns, dass das NS-Regime den durch das Christentum jahrhundertelang bewirkten und verbreiteten Antisemitismus zwecks Förderung seiner politischen Ziele wohl auszunutzen verstand, jedoch ohne sich zu scheuen, die Kirche und den im Volk wirkenden kirchlichen Glauben zu hintergehen und seinerseits zu unterdrücken.“
Es bleiben wichtige theologische Grundsatzfragen, wie eine differenziertere Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament. Die traditionellen Bestimmungen sind kaum ausreichend zur Beschreibung des gewandelten Verhältnisses zwischen Judentum und Kirche. Hier verdanken wir Erich Zenger wichtige Hinweise. Eine genauere theologische Klärung des Verhältnisses von Israel und Kirche gibt schwierige Fragen auf. Wie spricht man von beiden? Es sind gewiss nicht einfach zwei Institutionen. Sie können auch nicht nach dem Muster eines permanenten Gegenübers begriffen werden. Welches ist die spezielle Aufgabe des jüdischen Volkes im Plan Gottes? Man kann nicht einfach von zwei parallelen Heilswegen sprechen. Dies alles stellt die Frage, die besonders auch auf evangelischer Seite gestellt wird, nach der „Judenmission“ . Schließlich sei noch erwähnt, dass der jüdisch-christliche Dialog auch eine neue Form der Zusammenarbeit im Blick auf eine biblisch inspirierte Ethik zur Folge hat, die im Kern die Themen Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, Frieden und Sorge um das Leben, besonders aber den Einsatz für die Menschenrechte enthält.
Es gibt freilich auch im Zentrum noch längst nicht genügend angegangene Grundfragen. Ich nenne hier nur drei Komplexe, nämlich die Messiasfrage, die Einzigartigkeit Jesu als Sohn Gottes und die Gesetzesfrage.
Der „erste Durchbruch“ hat sicher erreicht, dass wir uns gelassener kritische Dinge sagen können, die bisher nicht in dieser Form möglich waren. Wir wünschen uns gegenüber wachsender Säkularisierung eine gemeinsame intensive Auseinandersetzung zur Gottesfrage. Dabei ist selbstverständlich, dass weder die Vorgeschichte vor Auschwitz beschönigt werden, noch dass man auf die Endzeit nach aller Geschichte ausweichen darf, um Auschwitz zu relativieren. In diesem Sinne geht es wirklich um eine „Theologie nach Auschwitz“ . Gerade so kommen wir gemeinsam zu einem Gespräch über den Sinn von Religion heute.
Ich möchte schließen mit einem Zitat über die „Weggemeinschaft von Juden und Christen“ aus dem Dokument „Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs“ des Zentralkomitees der deutschen Katholiken aus dem Jahr 1979. Dieses Zeugnis scheint mir inhaltlich und methodisch wegweisend zu sein: „Die gegenseitige Wertschätzung des je anderen Weges geht also untrennbar ineins mit erheblichen Divergenzen in der Einstellung zu Jesus, ob er der Messias Gottes sei. Dies nötigt aber weder Juden noch Christen, die fundamentale inhaltliche Klammer des einen rufenden Gotteswillens aufzulösen. Von daher ist es Juden und Christen grundsätzlich verwehrt, den anderen zu Untreue gegenüber dem an ihn ergangenen Ruf Gottes bewegen zu wollen. Dies verbietet sich nicht etwa aus taktischen Erwägungen, auch Gründe humaner Toleranz sowie die Achtung der Religionsfreiheit sind dafür nicht allein ausschlaggebend. Der tiefste Grund liegt vielmehr darin, dass es derselbe Gott ist, von dem Juden und Christen sich berufen wissen. Christen können aus ihrem eigenen Glaubensverständnis nicht darauf verzichten, auch Juden gegenüber Jesus als den Christus zu bezeugen. Juden können aus ihrem Selbstverständnis nicht darauf verzichten, auch Christen gegenüber die Unüberholbarkeit der Thora zu betonen. Das schließt jeweils die Hoffnung ein: Durch dieses Zeugnis könne beim anderen die Treue zu dem an ihn ergangenen Ruf Gottes wachsen und das gegenseitige Verstehen vertieft werden. Hingegen soll nicht die Erwartung eingeschlossen sein: Der andere möge das Ja zu seiner Berufung zurücknehmen oder abschwächen.“
Eine Intensivierung des jüdisch-christlichen Dialogs, wie wir sie in unserem Land auch von der kürzlich erfolgten Konstituierung der Rabbinerkonferenz erhoffen, wird nicht nur das gemeinsame biblische Zeugnis unterstützen und verstärken, sondern kann auch einige Themen der hl. Schrift und unserer Glaubensgemeinschaften neu befruchten. Bisher stand ja, nicht zuletzt auch durch die beiden großen Kirchen gefördert, der innerchristliche ökumenische Dialog im Vordergrund. Dies war unbedingt nötig und muss selbstverständlich auch weitergehen. Aber durch diese Konzentration haben wir wohl auch manche Themen der gemeinsamen biblischen Überlieferung in den Hintergrund treten lassen. Ich denke z.B. an die fruchtbare Beschäftigung mit dem großen Thema der Rechtfertigung. Aber nun wäre es gewiss auch an der Zeit, dass wir uns angesichts dieses Dokumentes neu mit den Fragen des Gebotes und des Gesetzes, der Weisung Gottes als Pfad zum Leben beschäftigen. Sonst verarmen wir selbst. Ähnliches gilt für die Themen der Schöpfung und des Friedens. Sie helfen uns auch, den Glauben in der rechten Weise im Alltag und in der gesellschaftlichen Realität zu verankern. Im Gespräch mit Franz Rosenzweig und Emanuel Levinas sind immer wieder die – so meine ich – wichtigen und guten Worte gefallen, das Gespräch des Christentums und Judentums könne das Christentum auch davor bewahren, sich der Gnosis auszuliefern.
Für diese Intensivierung des Dialogs haben wir nun ein wichtiges Dokument, nämlich eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum mit dem Titel „Dabru emet – Redet Wahrheit“, veröffentlicht am 11.9.2000 in den USA. Dieses Dokument könnte zu einem wichtigen Leitfaden des zu intensivierenden Dialoges werden.
Das Abraham Geiger-Kolleg hat unter Führung von Herrn Rektor Rabbiner Dr. Walter Homolka schon länger ein umfangreicheres Kooperationsprogramm verwirklicht. Dazu zähle ich auch Symposien über die Fragen des Ursprungs und der Funktion von Recht in der biblischen Religion (Rom, Oktober 2006), aber auch die Berufung eines katholischen Theologen als Dozent für Homiletik an das Abraham Geiger-Kolleg, nämlich Prof. Dr. Heinz-Günther Schöttler aus Bamberg.
In der Konsequenz dieser Ansätze und Fortschritte sehe ich auch die soeben erfolgte Verleihung des Abraham Geiger-Preises. Ich danke nochmals für diese Ehrung und verstehe sie in einem als Gabe und Aufgabe. Ich kann mich in ihre Bemühungen gut einfügen. Lassen Sie mich schließen mit einem Wort des Preisträgers des Jahres 2002, nämlich des jüdischen Religionsphilosophen Emil L. Fackenheim: „Verstehen die Nichtjuden? Einige tun es, und darin liegt Hoffnung, nicht nur für Israel, sondern auch für die Völker.“
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
Redemanuskript - Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten, die in der Druckfassung berücksichtigt worden sind.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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