Genau vor einem Jahr, am 31. Oktober 1999, haben in Augsburg hohe Verantwortliche des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche eine Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre verbindlich unterzeichnet. Es war ein denkwürdiger Tag, den man in der rasanten Entwicklung unserer Mediengesellschaft, in der auch wichtige Dinge schnell vergessen werden können, in lebendiger Erinnerung behalten sollte. An einem 31. Oktober, nämlich des Jahres 1517, hatte Martin Luther seine 95 Thesen gegen den Umgang mit dem Ablass veröffentlicht. Dies ist uns heute eine gute und willkommene Gelegenheit, ein Jahr nach der Unterzeichnung der genannten Vereinbarung etwas Rückschau zu halten, was denn dies bedeutet. Wir wollen uns aber nicht der Vergangenheit allein zuwenden, sondern uns weiter um den Stand der Ökumene heute kümmern, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund möglicher Enttäuschungen und Störungen der letzten Zeit. Deshalb werde ich in drei Abschnitten sprechen:
1. Die Ökumenische Vereinbarung über die Rechtfertigungslehre
2. Neue Gemeinsame Einsichten
3. Ermutigung für die Zukunft
Die Lehre von der Rechtfertigung hatte für die Reformation zentrale Bedeutung. In ihr lag aus reformatorischer Sicht die Mitte des Glaubens. Der Streit um die Rechtfertigungslehre war bis in unsere Zeit hinein darum stets so leidenschaftlich und heftig, weil sie auch Konsequenzen für die Frage der praktischen Lebensführung der Christen sowie für den Stellenwert der Kirche samt ihren Ämtern hatte. Wenn es gelingen sollte, an diesem Angelpunkt der Trennung näher zusammenzukommen und sich gar zu verständigen, wäre dies gewiss ein entscheidender Schritt zur Überwindung der Kirchenspaltung. Die Vereinbarung von Augsburg ist ein solcher Mark- und Meilenstein. Wir müssen aber erst noch einholen, was hier geschehen ist.
Die Wörter "Rechtfertigung" und "Rechtfertigungslehre" sind den meisten fremd und stoßen eher ab. Dennoch geht es hier um das Zentrum des Glaubens: Wie kann der Mensch, der sündig und gottlos ist, vor Gott gerecht werden und damit das Heil erlangen? Wie kann sich der Mensch aus seinen auswegslosen Verlorenheiten lösen und zu einem versöhnten und befreiten Leben finden? "Rechtfertigung" ist in der Bibel einer der Begriffe für dieses Ziel. Die Heilige Schrift gebraucht dafür jedoch auch noch ähnliche Worte wie z.B. "Befreiung zur Freiheit", "Frieden mit Gott", "neue Schöpfung" und "Heiligung in Christus Jesus". Nichts anderes ist auch mit "Evangelium" oder "neuem, ewigem Leben" gemeint.
Deswegen ist die Botschaft von der Rechtfertigung keine überflüssige Lehre von gestern, sondern trifft auch heute die Menschen ins Herz. Wir können bei aller Anstrengung den wahren Sinn des Lebens, der auch in Not und Tod noch Halt geben kann, nicht von uns aus schaffen. Wir zerbrechen auch immer wieder an der Aufarbeitung vergangener Schuld und brauchen schließlich eine Vergebung, die uns nur von außen geschenkt werden kann. Wir Menschen sind ja stets in der Gefahr, uns endlos mit vielen Finessen selbst zu rechtfertigen. Von Natur aus herrschen in uns eine unverbesserliche Selbstgerechtigkeit und der oft übersteigerte Wahn, alles selbst und alles besser machen zu können. Mit einer solchen Einstellung sind wir auch nicht in der Lage, wirklich für die Armen, Schwachen und Verlorenen einzutreten. Wir wissen immer alles besser und gehen rücksichtslos nur unsere eigenen Wege.
Die Antwort des Glaubens sagt uns, dass wir nicht uns selbst retten können, sondern dass uns nur Gott allein im Geschenk des Glaubens befreien und versöhnen kann. Der hl. Paulus hat dafür das Wort von der Rechtfertigung bevorzugt. Nur durch die Gerechtigkeit Gottes gibt es Rechtfertigung des Menschen. In diesem Wort sind drei besondere Akzente gesetzt: Es geht erstens um die alleinige Initiative Gottes und nicht um unser Tun; zweitens ist Gottes Zuwendung an keine Voraussetzung gebunden, sie ist bedingungslos und reine Gnade; drittens kann der gottferne Mensch diese neue Gerechtigkeit allein im Glauben empfangen.
In dieser Zusammenfassung können wir heute eine grundsätzliche Einigung erzielen. Dieses gemeinsame Fundament vor allem der Heiligen Schrift haben wir nach langen Vorbereitungen durch die Theologie und die ökumenischen Gespräche der letzten Jahrzehnte wiedergefunden.
Dies war nicht immer so. Die Vielfalt der Schriftaussagen mit ihren verschiedenen Tönen und nicht zuletzt der leidenschaftliche, ja manchmal geradezu verbitterte Streit um ihren Sinn haben zu damals offenbar unvermeidbaren Entzweiungen geführt: Wenn Rechtfertigung allein von Gott ausgeht und der Mensch gar nichts dazu tun kann, welchen Stellenwert hat dann überhaupt noch der Mensch mit seinem Bemühen um ein moralisch gutes Leben? Das Wort von der "Mitwirkung" des Menschen an seinem Heil kann sich hier nahelegen, hat aber zu fast unausrottbaren Missverständnissen geführt. Und weiter: Wenn Rechtfertigung von Gott allein durch den Glauben des Einzelnen kommt, welche Aufgabe hat dabei dann die Kirche? Immer wieder geht es um das Problem, wie der Mensch grundlegend und wirklich erneuert werden kann, ohne dass der Anschein entsteht, die Gnade Gottes würde einfach zu einem Besitz des Menschen, über den er verfügt.
Hier sind offensichtlich verschiedene Zugänge und Sprechweisen im Spiel. Sie haben in der jeweiligen kirchlichen Überlieferung auch verschiedene Entfaltungen zur Folge gehabt. Man spürt dies zum Beispiel beim Gebrauch von Worten wie "Sünde", "Anfechtung", "Werke" und "Verdienste". Was dabei zwischen Katholiken und Lutheranern oft als Gegensatz empfunden wurde - zum Beispiel das Verhältnis von "Glauben und Werken" - muss sich jedoch nicht in jedem Fall ausschließen, sondern kann sich durchaus ergänzen. Freilich gibt es auch heute noch einige nicht ausreichend bewältigte inhaltliche Unterschiede. In welchem Sinn zum Beispiel ist der Christ "gerecht und Sünder zugleich"?
Diese Fragen sind nicht so leicht zu verstehen. Darum braucht es viel Rücksicht aufeinander. Schließlich geht es in diesen grundlegenden Fragen des Glaubens um das Verständnis des Christseins, nicht zuletzt des Heils überhaupt. Viele Christen der vergangenen Jahrhunderte haben in diesem Bekenntnis ihres Glaubens Haus und Hof, Heimat und Leben verloren. Es geht nicht um eine Wortklauberei. Darum wird die Übereinstimmung auch deutlich eingegrenzt auf einen "Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre", allerdings nicht in allen Grundwahrheiten. So urteilt die in Augsburg unterzeichnete Gemeinsame Erklärung auch nicht genauer über die einzelnen Entfaltungen der Rechtfertigungslehre in der katholischen Kirche und in den lutherischen Kirchen. Es wurde jedoch erfreulicherweise ein gemeinsames Verständnis erreicht, mit dem wir die Positionen des Partners in einem neuen Licht sehen können und nicht mehr als kirchentrennend verurteilen müssen. So kommt es zu der gemeinsamen offiziellen Feststellung, "dass die früheren gegenseitigen Lehrverurteilungen die Lehre der Dialogpartner, wie sie in der Gemeinsamen Erklärung dargelegt wird, nicht treffen".
Auch wenn damit noch nicht alle Probleme für eine Überwindung der Kirchenspaltung gelöst sind, so ist diese grundlegende Feststellung an dem Punkt, wo die Reformation theologisch gleichsam explodierte, ungemein befreiend. Es ist wirklich ein neuer, entscheidender Schritt, den man in seiner Bedeutung nicht unterschätzen darf. Es ist gut, wenn wir uns dessen am heutigen Abend erinnern.
Der Weg zu diesem gemeinsamen Verständnis und auch die Aufnahme der Erklärung in den einzelnen Kirchen waren nicht einfach. Manchem ging die Einigung noch nicht weit genug. Man verlangte als Konsequenz besonders von der katholischen Seite vor allem die Gewährung eucharistischer Gastfreundschaft. Andere hatten Sorge, die Darstellung des gemeinsamen Verständnisses erreiche nicht die Tiefe vor allem der lutherischen Rechtfertigungslehre. Man gefährde dadurch das Herzstück im lutherischen Erbe und damit auch die eigene Identität als einzelner Christ und als Kirche.
Die Gemeinsame Erklärung macht selbst darauf aufmerksam, dass es "noch Fragen von unterschiedlichem Gewicht gibt, die weiterer Erklärung bedürfen: Sie betreffen unter anderem das Verhältnis von Wort Gottes und kirchlicher Lehre sowie die Lehre von der Kirche, von der Autorität in ihr, von ihrer Einheit, vom Amt und von den Sakramenten, schließlich von der Beziehung zwischen Rechtfertigung und Sozialethik". Das sind gewiss noch schwierige Aufgaben, die uns alles abverlangen. Aber auch dafür gibt es schon viele vorbereitende Gespräche und Texte. Die reformatorische Seite drängt darauf, dass die Rechtfertigungslehre für alle diese Probleme ein "unverzichtbares Kriterium ist, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will". Wir Katholiken können dies auch sagen. Wir sehen hier aber auch Grenzen. Wir Katholiken bringen hier besorgt in Erinnerung, dass die besondere Stellung der Rechtfertigungsbotschaft im Blick auf die Fülle der Glaubensaussagen, wie sie vor allem im Credo und im Gesamtzeugnis der Kirche zum Ausdruck kommt, nicht im Ganzen für andere Wahrheiten verengend wirken darf.
Es ist verständlich, dass der Christ im Alltag des Lebens – der ja kein Fachtheologe sein muss – von der Frage bewegt wird, was dies denn alles nun praktisch bringe und bewege. Es ist wohl deutlich geworden, dass daraus noch nicht von selbst schon die Gewährung eucharistischer Gastfreundschaft folgt. Ich weiß, dass dies vor allem für die konfessionsverschiedenen Paare schmerzlich ist. Seitdem ich selbst, nämlich seit mehr als 30 Jahren, ökumenische Theologie betreibe, bin ich stets von der Sorge um die Not vieler Partner in diesen Ehen bewegt und motiviert, denn sie müssen ohne jede geringste Schuld im intimsten menschlichen Lebensbereich an den Folgen der Kirchenspaltung leiden. Ich verstehe darum durchaus drängende Ungeduld. Aber wir dürfen auch nicht an den wichtigen Aufgaben achtlos vorbeieilen, die wir mit allen Kräften noch in Angriff nehmen müssen. Wir haben jetzt schon so viel erreicht, dass wir die Kraft zu aktiver Geduld aufbringen sollten, um die letzten Hindernisse glaubwürdig zu überwinden.
Vor allem ist es nicht förderlich, wenn wir die jetzt erreichte fundamentale Einigung über die Rechtfertigungslehre nur abhaken würden und uns zu weiteren Forderungen jagen lassen. Dazu gehört vor allem die Gemeinschaft in der Eucharistie. Im Gegenteil, je mehr wir die mühsam erreichte, noch verletzliche und genauer zu entfaltende gemeinsame Verständigung über das Fundament des Christ- und Kircheseins festigen und vertiefen, umso mehr machen wir auch echte Fortschritte zur weiteren Einheit. Das Herrenmahl steht für uns Katholiken in einem engen Bezug zur Gemeinschaft der Kirche; die Eucharistie ist darum nicht nur eine einzelne Wegstation und ein Teilziel, sondern so etwas wie ein Schlussakkord aller Bemühungen um sichtbare kirchliche Einheit. Schon die frühen Kirchenväter sagen, die Taufe sei Eingang und Tor zum Heil, die Eucharistie aber seine Vollendung. Auf diesem Weg sind wir. Jede Etappe ist wichtig.
Ich weiß, dass dies für viele noch nicht zufriedenstellend ist oder sogar als Zumutung empfunden wird. Den einen geht es zu langsam, die anderen haben überhaupt Misstrauen. Ich bitte jedoch um Ihr Vertrauen für diesen Weg von Theologie und Kirche. Dazu gehört, dass wir uns in Predigt und Verkündigung, Religionsunterricht und Erwachsenenbildung, Theologie sowie Fort- und Weiterbildung ernsthaft um tiefere Einsichten in diese Gemeinsame Erklärung mühen. Es lohnt sich, weil wir dadurch auch unseren eigenen Glauben intensiver entdecken. Vor allem aber können wir nur so das Gebot des Herrn erfüllen: "Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast." (Joh 17,21)
In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat der Hauptakzent ökumenischer theologischer Arbeit auf Fragen gelegen, wie wir sie soeben bei der Rechtfertigung in Erinnerung gerufen haben. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass die Suche nach gemeinsamen theologischen Erkenntnissen auch auf vielen anderen Gebieten in einer Art von Gleichschritt vorangegangen ist. Dies gilt für alle kontroversen Fragen, wie z.B. Sakramente, Heiligen- und Marienverehrung, ja sogar für die schwierigen Fragen des Papsttums selbst. Dies ist auf breiter internationaler Ebene geschehen. Vieles hat sich hier gewiss wiederholt. Aber in diesem Bereich ist Wiederholung nicht einfach eine quantitative Vervielfachung, sondern sie bedeutet eine qualitative Verdichtung, denn dies heißt ja, dass ein sich anbahnender Konsens sich bewährt und erhärtet, also verlässlicher geworden ist. Es ist deshalb auch gut, wenn theologische Erkenntnisse, die z.B. Frankreich, den USA oder dem deutschen Sprachraum entstammen, anderswo erprobt werden und sich damit bewähren. Wenn man diesen Zusammenhang sieht, dann kann man nur dankbar dafür sein, wie viele gemeinsame Einsichten uns eine große Annäherung gebracht haben, die man vor Jahrzehnten kaum zu träumen wagte. Das oftmals, auch von Papst Johannes Paul II. gebrauchte Bild hat seine Richtigkeit: Bei aller Zerstörung der Gemeinsamkeit sind beim Verlust tragender Brücken noch feste Pfeiler stehen geblieben, die man wieder für einen neuen Brückenbau verwenden kann.
Es ist hier nicht der Ort, um genauer auf dieses dichte Gewebe von Konsens-Texten zurückzukommen. Dies ist öfter geschehen. Es ist vielmehr an der Zeit, den vielen Theologen Dank zu sagen, die unentwegt an dieser Arbeit beteiligt gewesen sind. Da gibt es bestimmt noch schwache Stellen, die der Vertiefung und Verbesserung bedürfen. Mancher Konsens ist noch schmal und brüchig. Es gibt auch Themen, die über längere Zeit weniger Beachtung gefunden haben, die aber aufgearbeitet werden müssen (Kirchenverständnis, ökumenische Zielvorstellungen, Theologie der Ehe usw.).
Dass diese theologische Kleinarbeit an großen Themen fortgeht, ist zweifellos notwendig und ein Segen. Es ist nicht gut, wenn wir meinen, dass wir uns angenähert hätten, aber uns doch im Denken und in den Mentalitäten in der Tat weniger um das Wachsen echter Gemeinsamkeiten kümmern. Wir können in vielem noch viel mehr zusammenkommen. Es wäre unverantwortlich, wenn wir nicht stärker zusammenfinden würden in den Bereichen und Themen, in denen dies möglich ist. Es scheint mir nicht redlich zu sein, nach der Einheit zu rufen, aber doch auch etwas bequem oder auch in falscher Selbstbehauptung bei Verschiedenheiten zu verbleiben, die möglicherweise nochmals in eine weitere Gemeinsamkeit hinein überschritten werden können oder in einem größeren gemeinsamen Horizont einfach anders aussehen. Es ist in den letzten Tagen im Blick auf diese theologische Arbeit in der Überschrift eines Artikels in einer großen deutschen Zeitung ein böses Wort gefallen, nämlich: "Ende der Schummelei?" Ich habe immer wieder auf Grenzen theologischer ökumenischer Arbeit hingewiesen, aber das Etikett "Schummelei" für die Kennzeichnung der geleisteten Arbeit empfinde ich als ein starkes Stück. Hier wäre eigentlich eine Entschuldigung am Platz.
In der Zwischenzeit hat jedoch die ökumenische theologische Arbeit eine weitere Verstärkung erhalten, die man nicht übersehen darf. Zum Glauben gehört auch die Bewährung in der Tat des Lebens, zur Theorie gehört die Praxis des Lebens. In den letzten drei Jahrzehnten ist immer wieder versucht worden, die Gemeinsamkeit der Christen auch in diesem Bereich zu erproben. Dafür gibt es schon erste Beispiele aus den 60er und 70er Jahren, die auch da und dort Anstoß erregt haben, etwa Äußerungen von Kardinal Döpfner und Landesbischof Dietzfelbinger über Gottes Gebot. Im Zug der Arbeit der Kirchen für Entwicklung und Frieden sind viele gemeinsame Äußerungen entstanden, z.B. über die Weltwirtschaftsordnung, aber auch viele andere Themen, die mehr in unserem Land selbst eine Rolle spielen, wurden Gegenstand gemeinsamer Stellungnahmen. Die Zusammenarbeit der Kirchen erfolgte jedoch auch schon längst durch viele Christen in den politischen Parteien, besonders in der CDU/CSU, die aus der gemeinsam erfahrenen Bedrängnis der Christen in der NS-Zeit bald nach dem Krieg die Konsequenzen zog und eine praktische politische Arbeit aus ökumenischem Geist in Gang brachte. Hinzu kamen viele gemeinsame Absprachen in Caritas und Diakonie, aber auch im Blick auf die Hilfswerke "Brot für die Welt" und "Misereor". Ich habe die Gemeinsame Konferenz der Kirchen für Entwicklungsfragen (GKKE) schon genannt, die insgesamt fast 20 Veröffentlichungen von der Abrüstungsaufgabe bis zur internationalen Verschuldungskrise herausgegeben hat.
Man ist, wie gesagt, jedoch den großen Grundsatzfragen nicht ausgewichen. Die viel zitierte Schrift "Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung" (Gütersloh-Trier 1970) von Kardinal Döpfner und Landesbischof Dietzfelbinger, die schon genannt worden ist, erzeugte zwar eine heftige Kontroverse, war aber doch ein wichtiger Anfang. Auf diesem Weg entstanden umfangreichere, differenziert argumentierende Schriften wie "Grundwerte und Gottes Gebot" (1979) oder "Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung", in der die Umweltproblematik von der Schöpfungstheologie her aufgegriffen worden ist. In derselben Zeit sind weitere Erklärungen entstanden, wie "Unsere Verantwortung für den Sonntag" (1988), die stärker in die gesellschaftliche Situation hineinspricht, während im Jahr 1984 ein gemeinsamer Text "Den Sonntag feiern" stärker den Auftrag der Kirche selbst thematisiert hatte. Nebenbei sei bemerkt, dass auf dem wichtigen Feld des Verständnisses der Ehe im Jahre 1981 ein weiterführendes Wort "Ja zur Ehe" formuliert werden konnte, das ein wichtiger gemeinsamer Beitrag zum Thema der nichtehelichen Lebensgemeinschaften wurde; zwei Erklärungen zur konfessionsverschiedenen bzw. konfessionsverbindenden Ehe (1985) kamen hinzu.
Ein Thema, das die Christen immer wieder eher entzweite, war die Frage des Lebensschutzes. Zwar gab es hier durchaus im Blick auf die Sorge um das Los der ungeborenen Kinder eine prinzipielle Gemeinsamkeit, aber in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs gingen die Meinungen oft weit auseinander. Vor dem Hintergrund der oben angeführten, gelungenen gemeinsamen Erklärungen hatten wir den Mut, das Thema des ungeteilten Lebensschutzes nochmals gemeinsam anzugehen. Es war wie ein kleines Wunder – so haben es jedenfalls die Mitwirkenden empfunden –, dass im Jahr 1989 ein Durchbruch zu einer größeren Gemeinsamkeit gelang. Der umfassendere und vertiefte Ansatz hat Früchte getragen. Die in der Zwischenzeit weit verbreitete Schrift "Gott ist ein Freund des Lebens" (1989) ist in Verbindung mit den übrigen Mitglieds- und Gastkirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin ein wichtiges zentrales Dokument geworden. Da es kurze Zeit vor der Einigung Deutschlands erschien und durch die getrennten Wege der Gesetzgebung in beiden deutschen Ländern große Unterschiede existierten, die auch nicht spurlos an den Kirchen vorbeigingen, war der Rezeptionsprozess mühsamer geworden und verzögerte sich.
In der Folgezeit gibt es viele Felder der Zusammenarbeit, wie man leicht an den folgenden Erklärungen sehen kann, wobei ich nur auswahlhaft zitiere:
In den letzten Jahren hat diese Suche nach einer verstärkten Gemeinsamkeit bei der Analyse und Therapie gesellschaftlicher Probleme einen gewissen Höhepunkt erreicht in der lange vorbereiteten Schrift "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" (1997). Dies ist auch heute noch eine wichtige Fundgrube von Überlegungen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in nationaler und internationaler Sicht. Auch wenn manches fortgeschrieben werden muss, was durchaus geschehen ist, so ist es doch noch ein wichtiger Begleiter bei der Reform unseres Gemeinwesens. Ich darf auf jüngste Fortführungen hinweisen, wie z.B. "Verantwortung und Weitsicht", eine Gemeinsame Erklärung zur Reform der Alterssicherung in Deutschland (2000). Einzelne Schriften zeigen, dass wir uns auch schwierigen Fragen in der Gesellschaft nicht entzogen haben. Zeugen dafür sind die umfangreichen Ausarbeitungen "Chancen und Risiken der Mediengesellschaft" (1997), " ... und der Fremdling, der in deinen Toren ist. Zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht" (1997) und schließlich auch "Xenotransplantation", ein Text der sich mit der Entwicklung der Transplantation von Tierorganen auf den Menschen beschäftigt, nicht zuletzt um den schwerwiegenden Mangel an menschlichen Spenderorganen zu beheben.
Diese wachsende Gemeinsamkeit, die viel zu wenig geachtet worden ist, hat aber noch weitere Früchte hervorgebracht, nämlich in der Gemeinsamen Woche für das Leben. Wir haben im Zusammenhang des Niedergangs der kommunistischen Staatsdiktaturen vor zehn Jahren, zunächst auf katholischer Seite, damit begonnen, dass wir uns nach den vielfältigen Gefährdungen des menschlichen Lebens und unserer Hilfe in dieser Richtung fragten. Dabei stand anfangs und auch immer wieder das Leben des ungeborenen Kindes im Mittelpunkt. Ab 1994 haben wir diese "Woche für das Leben" gemeinsam unternommen. Die Eröffnungen dieser "Woche für das Leben" sind mit wichtigen Gemeinsamen Worten zu brennenden, aktuellen Herausforderungen verbunden worden, so z.B. zur Frage der Euthanasie "Im Sterben: Umfangen vom Leben" (1996) und zu den Problemen der pränatalen Diagnostik "Wieviel Wissen tut uns gut? Chancen und Risiken der voraussagenden Medizin" (1997).
Im gleichen Zeitraum haben wir auch in anderer Richtung weitergearbeitet, die immer wichtiger wird. Wir haben eine Gemeinsame Stellungnahme zu Fragen des europäischen Einigungsprozesses "Zum Verhältnis von Staat und Kirche im Blick auf die Europäische Union" (1995) verfasst, die von großem Gewicht war für die Formulierung und Fortführung des Europäischen Vertragswerkes in Maastricht. Diese Gemeinsamkeit ist sehr groß. Wir haben sie gerade wieder im Zusammenhang der Formulierung einer "Charta der Grundrechte" für Europa innerhalb der Europäischen Union wiederholt und zugleich neu erprobt, wobei wir gemeinsam und auch auf je eigenen Wegen in enger Absprache mit unseren Nachbarkirchen sind, mit denen wir im Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE), in der Kommission der katholischen Kirchen innerhalb der EU (COMECE) und nicht zuletzt auf evangelischer, orthodoxer und anglikanischer Seite in der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) verbunden sind.
Ich will an dieser Stelle abbrechen. Da ich selbst jedoch immer wieder staune, wie viel hier in zwei Jahrzehnten gelungen ist, bin ich der festen Überzeugung, dass wir die Existenz und die Qualität dieses zweiten Standbeines unserer Gemeinsamkeit nicht länger zurückstellen können, wie es leider oft geschieht. Wenn solche Texte erschienen sind, bleiben sie – auch wenn sie wirklich gut sind – oft in der Tagespolitik hängen oder verstauben auch bald wieder in den Schubladen. Es ist schade, dass wir manches nicht mehr in der Schularbeit, in der Erwachsenenbildung und in der Fort- und Weiterbildung fruchtbar benutzen. In letzter Zeit sind wir dazu übergegangen, durch konkrete Arbeitshilfen einen Anreiz zur Weiterbeschäftigung zu den Texten zu geben. Dankbar denke ich in diesem Zusammenhang aber auch an die Themenhefte zu den jeweiligen Wochen für das Leben, die besonderen Anklang gefunden haben.
Hier geht es nicht nur darum, dass wir neue Themen gefunden haben und wirkungsvoller gemeinsam in die Öffentlichkeit hineinsprechen, sondern dieses gemeinsame Sprechen gibt auch Zeugnis von der Echtheit der Gemeinsamkeit im Glauben, die fruchtbar wird in der Besinnung auf unser Tun und lebendig wird im Zeugnis der Tat, wie es schließlich auch oft in der Gemeinsamkeit von Caritas und Diakonie zum Ausdruck kommt.
Vielleicht denkt sich mancher, dies sei eine allzu blumige und in positive Stimmung gehüllte Darstellung der ökumenischen Situation. Viele meinen, in der Zwischenzeit gäbe es eine Art neuer ökumenischer Eiszeit, die viele ohnehin schon länger propagierten. Als Beweis dient vor allem die römische Erklärung "Dominus Iesus" über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche der Kongregation für die Glaubenslehre vom 6. August 2000.
Ich kann und möchte nicht ausführlicher zu dieser inzwischen umfangreichen Diskussion Stellung nehmen, zumal ich mich seit dem 6. August immer wieder dazu erklärt habe. Dennoch ist es notwendig, einige Hinweise zu geben, denn sonst erscheint meine Einschätzung der Situation als unbegründet optimistisch und oberflächlich.
Man muss zunächst einmal sehen, dass das Hauptthema dieser Erklärung zu zwei Dritteln aus einem Thema besteht, das alle Christen eint. Es geht nämlich um die Einzigkeit des Heilsmittlers Jesus Christus, der nach unserer Glaubensüberzeugung eine einzigartige Gestalt unter den Religionsstiftern und Heilbringern ist. An diesem Punkt sind wir mit allen Kirchen in großer Gemeinsamkeit, wie es am Beginn dieser Schrift in aller Deutlichkeit durch die Anknüpfung an die großen Konzilien der Heiligen Kirche vor Augen gestellt wird. Aber auch mit den Kirchen der Reformation gibt es hier eine sehr hohe Gemeinsamkeit. Denn das "solus Christus" ist ja eine Grundvoraussetzung der Rechtfertigungslehre und ist gerade in den letzten Jahrzehnten immer stärker herausgearbeitet worden. Ich bin dem Ratsvorsitzenden, Präses Manfred Kock, dankbar, dass er in seiner Erklärung zum 6. August diese Gemeinsamkeit deutlich unterstrichen hat. Es sollte uns auch heute wieder ernsthaft beschäftigen, dass hier eine zentrale Wahrheit unseres Glaubens gegeben ist, um die wir uns neu gemeinsam bemühen sollten. Es gibt auch bei uns das unterschwellige Bewusstsein, die verschiedenen Heilbringer in den einzelnen Religionen seien am Ende gleichwertig. Unsere mobile Gesellschaft und die multikulturelle Note verstärken einen solchen Eindruck, sodass auch die Theologie nicht immer ganz frei ist gegenüber der damit zusammenhängenden Gefährdung. In den Missionsländern gibt es – was mit Recht versucht wird – theologische Experimente, die Gestalt Jesu Christi anderen Kulturen durch eine Annäherung an die Verstehensvoraussetzungen fremder Religionen nahe zu bringen. Eine solche Inkulturation vor allem der Christologie findet besonders auf dem indischen Subkontinent statt. Die theologischen Auseinandersetzungen haben uns weniger erreicht als andere Diskussionen der letzten Jahre. Die internationale Theologenkommission hat dazu ein bemerkenswertes Dokument "Das Christentum und die Religionen" herausgegeben (1996). Nicht zuletzt auf diese Phänomene will die römische Erklärung eingehen. Sie ist ja ein Dokument für die ganze Weltkirche.
In diesem Zusammenhang ist es gewiss verständlich, nämlich von der Sache her, dass der Text auch auf den Zusammenhang zwischen dem Heilsmysterium in Jesus Christus und der Kirche eingeht. Jesus Christus ist untrennbar mit der Kirche verbunden, und erst recht umgekehrt. So ist es sachlich durchaus naheliegend und gerechtfertigt, auch auf dieses Thema zu kommen. Aber dieser Abschnitt IV, der gerade zwei Seiten umfasst, ist doch recht knapp geraten. Es ist nicht falsch, was hier geschrieben ist. Die gerade hier sehr zahlreichen Anmerkungen entstammen weitgehend dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die 30 Anmerkungen und Zeugnisse wiederholen hier wirklich nur, was dort gesagt ist. Vielleicht liegt die Schwierigkeit viel mehr in dem, was man auch vom Konzil hätte anführen können und sollen, als in dem, was ausgeführt worden ist. Ich habe dies öfter in den letzten Wochen für das Kirchenverständnis und für das katholische Verständnis von Ökumene aufzuzeigen versucht (vgl. das "subsistit", die Zeugnisse aus LG und UR 4 usw.).
Man kann hier unter Experten leicht an diese vorausgesetzten und keineswegs geleugneten Texte erinnern und dabei auch wohl eine ungekünstelte und echte Übereinstimmung finden. Freilich lässt die Kunst immer mehr nach, solche Texte differenziert zu verstehen und auszulegen. Aber ich gebe mich keiner Täuschung hin, dass die Knappheit der Erklärung an dieser Stelle und eine oft einseitige Wiedergabe in den Medien dazu geführt hat, dass manche Leute den Eindruck gewonnen haben, nun würde die Ökumene grundsätzlich behindert. Hier ist emotional viel Flurschaden entstanden. Aber es ist keine Beschönigung der Situation, wenn man deutlich macht, dass dieses unglückliche Ergebnis vor allem ein Problem der Kommunikation ist, wobei dies in doppelter Richtung besteht. Die Kirche muss nämlich überlegen, wie sie heute in weltkirchlicher Perspektive wirkungsvoll und möglichst unmissverständlich über so diffizile Probleme spricht. Anderseits müssen aber auch die Medien und alle, die – oft vorschnell – zu solchen Texten Stellung nehmen, sich mehr Mühe geben, solche Texte in ihren eigenen Sinn zu verstehen und weiterzuvermitteln. Hier haben es sich sehr viele, auch in unserer Kirche, zu leicht gemacht.
Ich habe öfter darauf hingewiesen, dass wir in der ökumenischen Arbeit vielleicht zu sehr und zu lange Zeit und Kraft der Rechtfertigungsthematik geschenkt haben. Ich glaube jedoch nicht, dass dies falsch war, denn es handelt sich um den zentralen Artikel, der die reformatorischen Kirchen und die katholische Kirche trennte. Dennoch haben die Theologie und auch die Ökumenischen Arbeitskreise und Zirkel dieses Thema eher etwas zurückgestellt. Dabei mag auch ein wenig mitgespielt haben, dass es sicher ein leidenschaftlich erregendes und schwieriges Thema ist. Falsche Höflichkeit – ich habe dieses Wort schon am 6. August gebraucht – kann dabei durchaus auch im Spiel sein. Aber dies hat nichts zu tun mit dem Vorwurf von "Schummelei".
Wir müssen die Fragen nach dem Wesen der Kirche, nach der Stiftung der Kirche durch Jesus Christus, nach dem Zusammenhang und dem Unterschied zwischen Jesus und der Kirche und allen Fragen, die sich daraus ergeben, neu aufgreifen. Die Erklärung vom 5. August ist dafür so etwas wie eine Aufforderung und eine Mahnung zugleich, dieses Thema nicht zu vernachlässigen. Die Erklärung stellt selbstverständlich auch Fragen an unsere evangelischen Partner, in welchem Sinn sie nämlich Kirche sein wollen. An uns alle wird die Frage gestellt, was Kirche zu Kirche macht, welches die Kriterien der Einheit sind, worin man unbedingt einig sein muss und was verschieden sein darf, weil es die Kirchen nicht trennt. Damit ist auch die Frage der ökumenischen Zielvorstellung wieder im Blick, die wir in den letzten zehn Jahren etwas aus dem Auge verloren haben. Es gibt also nach "Dominus Iesus" für die Theologen viel zu tun. Ich bin ganz gewiss, dass diese Themen nun intensiver angegangen werden.
Ich will es von Anfang an deutlich sagen: Es gibt zur Ökumenischen Bewegung, die uns aus dem 20. Jahrhundert mit auf den Weg ins 3. Jahrtausend gegeben ist, keine Alternative. Wir müssen auf dem Weg, den wir bisher begangen haben, ernsthaft und entschlossen weitergehen. Wer diesen Weg bisher mitgegangen ist, der weiß aus Erfahrung, dass es immer wieder Verzögerungen und auch Rückschläge gegeben hat, die ganz verschiedene Ursachen hatten. Manchmal muss man auch, wie in den anderen menschlichen und wissenschaftlichen Dingen, einen Schritt zurück setzen und in einem erneuten, vielleicht genaueren Anlauf eine Sache angehen. So scheint es mir auch in dieser Sache zu sein.
Dabei bitte ich Sie alle um Ihr Vertrauen und Ihr Verständnis. Ich habe großes Einfühlungsvermögen für eine heilige Ungeduld in Sachen Ökumene. Es ist mir auch verständlich, dass besonders die Christen, die in Ehe und Familie leben und einen Beruf in der Welt nachgehen, manchmal nur schwer begreifen können, wie lange Theologie und Kirche zur Aufarbeitung mancher Fragen brauchen. Es ist auch durchaus verstehbar, dass man von außen nicht immer Zugang hat zu schwierigen theologischen Fragen, die einem künstlich vorkommen. Aber gerade hier bitte ich um Vertrauen und Solidarität: Wir müssen die Probleme, die uns seit über 450 Jahren trennen, sorgfältig und glaubhaft, solid und streng aufarbeiten. Es gibt kaum eine größere Enttäuschung in der Ökumene, als wenn ein angenommener Konsens sich als nicht tragfähig und brüchig erweist. Es geht ja immerhin auch fast immer um das Bekenntnis der Kirche und unserer Vorfahren.
So bin ich fest überzeugt, dass wir nun auf dem eingeschlagenen theologischen Weg der letzten Jahrzehnte entschieden und mit Energie weitergehen müssen. Dabei haben wir im deutschen Sprachgebiet auch noch die Ausarbeitungen zu den Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts zu den Sakramenten und der Amtsfrage vor Augen, die in den 80er Jahren in mühsamer Arbeit gewonnen worden sind. Aber wir werden gewiss nach der grundsätzlichen Einigung in der Rechtfertigungsthematik die Dinge neu und anders angehen. Dies gilt gerade auch für die Fragen des Amtes, das viel enger mit dem Wesen der Kirche in Zusammenhang gebracht werden muss. Ähnlich ist es mit den ökumenischen Zielvorstellungen und hier besonders mit den Begriffen "Kirchengemeinschaft" und "Versöhnte Verschiedenheit".
Wir müssen aber auch deutlich sehen, dass wir noch mehr zusammenwachsen müssen in der Tiefe des christlichen Glaubens, der heute in besonderer Bedrohung steht. Wir dürfen uns nicht auf die kontroversen Themen beschränken. Es geht entscheidend um die gemeinsame Substanz des Glaubens. Die Auseinandersetzungen um den Glauben werden härter. Wir müssen alle besser gerüstet sein. Da kommt es immer mehr auf die "eiserne Ration" an, ohne einem billigen Fundamentalismus zu verfallen. Aber die Fragen, die eine letzte Gewissheit bieten, sind in einer so unübersichtlichen und orientierungsschwierigen Welt nicht wegzudiskutieren. In diesem Sinne ist der Fundamentalismus mit seinen unerlaubten Beschränkungen und Verkürzungen eine falsche Antwort auf eine richtige Frage, der wir oft ausweichen.
Vor uns steht der geplante Ökumenische Kirchentag 2003 in Berlin. Wir sollten uns wirklich zum gemeinsamen Gebet und zum Gottesdienst versammeln. Aber die mehr als verständliche Erwartung auch des gemeinsamen Abendmahls, um das wir ringen sollten, darf uns nicht verleiten, diese große, aber auch sensible Hoffnung mit einem Kalenderdatum zu versehen. Man kann sich nicht die Einheit der Kirche mit Gewalt holen. Wir können aber zusammen sehr viel mehr tun, was nicht verboten ist und uns gemeinsam nützt: gemeinsam aus der Hl. Schrift unser Leben deuten, gemeinsam das Sprechen über unseren Glauben lernen, einen neuen missionarischen Aufbruch wagen, der so bitter notwendig ist, nicht nur in den neuen Bundesländern. Deshalb gehört zu 2003 auch das Jahr der Bibel. Wir haben darin alle Nachholbedarf.
Wir stehen am Abend des ersten Reformationsfestes im neuen 3. Jahrtausend. Die Ökumene wird auch zu den entscheidenden Zeichen der Zeit in der nahen und fernen Zukunft gehören. Ökumene beginnt immer damit, dass wir den Mut haben, von falschen Wegen und Verirrungen zurückzukommen zu dem einen Herrn. Wir haben uns alle verlaufen und müssen wahrhaftig umkehren. Darum ging es am 31. Oktober 1517 und darum geht es auch heute.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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