„Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden"

Ökumenischer Gottesdienst zum 100. Jubiläum der Klinikseelsorge in der Universitätsmedizin Mainz am 7. September 2014

Datum:
Sonntag, 7. September 2014

Ökumenischer Gottesdienst zum 100. Jubiläum der Klinikseelsorge in der Universitätsmedizin Mainz am 7. September 2014

Die Seelsorgerinnen und Seelsorger hier in der Klinik der Universitätsmedizin haben uns den Vorschlag gemacht, diesen Tag und diesen Gottesdienst unter das Motto „Heilen und Trösten" zu stellen. Damit ist nicht nur gemeint, wie wir dies vielleicht gewöhnlich auslegen, dass die Medizin heilen und die Seelsorge trösten sollen. Schon ein erster Blick in die Bibel zeigt uns, dass das Alte und das Neue Testament so nicht denken. Beim Heilen denkt man auch an die Seele, nicht nur an den Leib. Und das Trösten ist nicht nur Sache der Seelsorger, sondern hängt auch von den pflegerischen und ärztlichen Berufen ab. Wenn wir oft darüber hinaus noch zwischen einem „inneren" und „äußeren" Leiden unterscheiden, ist dies für weite Teile der Bibel völlig bedeutungslos.

Wir haben heute durch eine bessere Kenntnis des Verhältnisses von Seele und Leib ein tieferes Verständnis und sprechen gerne von einer ganzheitlichen Sorge um den Menschen, die in allen Dimensionen Rücksicht nimmt auf Leib und Seele. Und wir wissen auch, dass endgültiger Trost, wenn alles menschliche Helfen versagt, letztlich nur von Gott selber kommen kann (z.B. Jes 40,1f.; 49,13; 2 Kor 1,3-6).

Wenn wir dies einmal hier voraussetzen und dankbar sind, dass diese Zusammenhänge zwischen Leib und Seele sowohl in der Medizin als auch in der Seelsorge heute stärker beachtet werden und dem Kranken zugute kommen, dürfen wir noch einen Schritt weitergehen. In unserer Lesung aus dem 12. Kapitel des Römerbriefs gibt Paulus nach der hohen Theologie der ersten elf Kapitel ganz konkrete Verhaltensweisen für das tägliche Leben an. Er nennt tragende Funktionen und Aufgaben, die für das Leben der Gemeinde und für ihr Wirken nach außen wichtig sind. Entscheidend dabei ist nicht so sehr, welche Gabe der Einzelne hat. Entscheidend ist, dass wir in Treue das tun, wozu wir jeweils als Einzelne und gemeinsam berufen sind. Gaben des Wortes und des Tuns, Aufgaben, die eher innerhalb der Gemeinde geschehen, und solche, die Menschen außerhalb erreichen, organisatorisches Wirken und praktisches Zupacken stehen gleichberechtigt nebeneinander. Davon spricht unsere Lesung aus Röm 12,9-21.

Es gibt dabei von Anfang an einen sehr lebenswichtigen Grundsatz, der alles, was in diesem Text nachher kommt bestimmt, nämlich: „Eure Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten. Seid einander in geschwisterlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung." (12,9f.) Vorgetäuschte Liebe ist nicht wirklich Liebe! Dies gilt für alles, was uns in diesem Abschnitt zugesprochen wird. Wir wissen heute, dass wir bei keiner unserer Handlungen in dem, was wir tun, vor einer subtilen, oft verborgenen Zweideutigkeit gesichert sind. Es kann gewiss geschehen, dass wir nicht - wie wir manchmal sagen - bei der Sache sind. Wir sind aber vor allem oft auch nicht bei den konkreten Menschen, denen wir uns zuwenden. Es ist manchmal selbstverständlich, dass wir auch andere Dinge im Kopf haben und uns manchmal auch richtig ablenken müssen. Ja, heute wissen wir, dass wir uns gerade in der Sorge und Pflege nicht immer, nicht mit allem und nicht mit allen identifizieren können. Wir wissen, dass es eine gute und heilsame Routine gibt. Wir wissen aber auch, und sei es nur durch Selbstbeobachtung, dass unsere Routine auch gefühlsarm und manchmal geradezu kalt werden kann.

An dieser Stelle bringt unsere Lesung einen wichtigen Gedanken, wenn sie sagt: „Helft den Heiligen, wenn sie in Not sind; gewährt jederzeit Gastfreundschaft, segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht! Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden:" (12,13-15) Diesen Satz stellen wir wirklich auch in die Mitte unseres Mottos „Heilen und Trösten". Denn jetzt geht es nicht einfach nur um das bloße Dabeisein, obgleich dies schon elementar wichtig ist, wenn wir z.B. die Hand eines Schwerkranken oder gar Sterbenden halten. Wir spüren die neue Herausforderung, wenn uns geradezu Unzumutbares vom Evangelium zugemutet wird, z.B. „Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht." Da geht es elementar um die Änderung unserer gewöhnlichen Haltung. Und unsere Lesung veranschaulicht dies nochmals konkret: „Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken:" (12,20)

Der zentrale Vers „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden" sagt uns in dieser Perspektive viel über unser Dabeibleiben. Es ist ja nicht einfach die äußere Präsenz gemeint. Es geht um das, was wir heute Empathie nennen, also unsere „innere" Beteiligung, ja unser Einfühlen. Compassio heißt dies heute international in vielen Sprachen. Je mehr wir wissen und eine Sache für uns „klar" wird, umso eher sind wir geneigt, den Kranken einzugruppieren und alles sonst nach einem gewohnten Schema zu kalkulieren. Aber hier wird unsere höflich tiefste Teilnahme verlangt, wo wir gewöhnlich nicht heucheln können, auch nicht so tun „als ob": Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.

Man hat immer wieder die Frage gestellt, ob damit nur die Haltung der Christen zueinander gemeint sei. Ganz gewiss ist es zuerst das Verhalten der Christen zueinander in der Gemeinde. Aber man kann nicht ausschließen, dass Christen aufgefordert werden können, sich auch mit Nichtchristen über deren Glück zu freuen oder über ein Unglück mit ihnen zu weinen. Gerade der erwähnte Vers 14 „Segnet eure Verfolger..." scheint wohl daraufhin zu deuten, dass die Christen solche Grenzen nicht mehr kennen; dies übersteigt jeden Gruppenegoismus. Christen sollen auf Gutes bedacht sein „vor allen Menschen", d.h. ihnen gegenüber, im Verhältnis zu ihnen (vgl. auch 12,17). Dabei wird das ganze biblisch-jüdische Ethos lebendig.
Es ist nämlich erstaunlich, wie gerade hier Altes und Neues Testament einander nahe kommen. Dies kann uns ein Blick in das Buch Jesus Sirach zeigen, das ja ohnehin einen großen menschlichen Reichtum enthält, der aber gewöhnlich bei uns nicht sehr bekannt ist. So heißt es z.B. „Entzieh dich nicht den Weinenden, vielmehr trauere mit den Trauernden." (Sir 7,34) Außerdem können wir bei einem jüdischen Frommen lesen: „Und nicht sei der Mensch vergnügt unter den Weinenden, und nicht weine er unter den Vergnügten." (Dereck Erez 6) Wegen der Affekte und Emotionen braucht sich der Christ nicht zu schämen, ganz im Unterschied zum kynisch-stoischen Weisen. Paulus setzt sich ja gerade damit auseinander. Dieser hat immer Sorge, dass er zu nahe bei der Welt wäre und deshalb auf Distanz gehen muss. Überhaupt geht es hier um eine ganz andere Grundhaltung im Gegensatz zum stoischen Weisen. Dazu passt auch Vers 16: „Seid untereinander eines Sinnes; strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig! Haltet euch nicht selbst für weise!" (12,16f.) Christen sollen sich eher zu den Niedrigen hinabziehen lassen „Demütig" heißt hier bodennah, unten, am Ende der Karriereleiter. Damit sind gerade auch in einer praktischen Solidarität nicht nur die physisch Schwachen, sondern die sozial Schwachen gemeint (vgl. Phil 2,8; 2,3f.) Dem widerspricht es, wenn man aus sich und für sich selbst „vernünftig" sein will (vgl. Spr 3,7) Als Christ kann man „vernünftig" nur sein, wenn man es für andere ist. Dies gilt besonders nach „außen" hin. Deswegen heißt es auch: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem! Seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht." (vgl. 1 Thess 5,15; 1 Petr 3,9; Mt 5,38f.; Lk 6,29) Paulus ist offensichtlich aber auch äußerst realistisch. Er weiß, dass es nicht so leicht ist, mit allen im Frieden zu leben. Deswegen schreibt er: „Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden!" (12,18)

Blicken wir jetzt wieder zurück. Alles, was gesagt worden ist, gilt nicht nur für jene, die sich um den kranken Menschen und evtl. auch für den sozial Schwachen kümmern. Es ist vielmehr ein grundlegender Satz jeder christlichen Existenz und besonders jeder Seelsorge. Dies wird am deutlichsten, wenn Paulus uns eine geradezu aufregende pastorale und missionarische Grundregel - nun muss man wirklich sagen - zumutet. So heißt es: „Da ich also von niemand abhängig war, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen. Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen ... Den Gesetzlosen war ich sozusagen ein Gesetzloser ... den Schwachen wurde ich ein Schwacher, um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten." (1 Kor 19-22) Fünfmal ist vom „Gewinnen" anderer, die zunächst fremd sind, die Rede. Ich sehe unseren zentralen Vers vom Sichfreuen mit den Fröhlichen und vom Weinen mit den Weinenden in diesem Zusammenhang. Aber gerade hier muss man genau zusehen: Nur aus der Bindung mit Jesus Christus und aus der Begegnung mit ihm hat Paulus die unerhörte Kühnheit und eine unüberbietbare Bereitschaft: allen alles zu werden. Nur so - mit ihm und in ihm - gibt es wahre Identifikation mit allen. Um sie zu finden, müssen wir immer wieder, gerade in der Klinikseelsorge, in die letzte Tiefe unseres Glaubens. Sonst wäre alles eine verrückte, aber am Ende unwirkliche Utopie - schöner Schein, aber am Ende auch täuschend und enttäuschend. Sonst behält Eberhard Bethge, der immer aus seiner Nähe zu Dietrich Bonhoeffer spricht, recht: Identität ohne eine solche Identifikation ist Getto, Identifikation ohne eine solche Identität ist Boulevard.

Das Leitwort „Heilen und Trösten" behält in dieser Perspektive eine unverbrüchliche Wahrheit, vor 100 Jahren und auch heute, weil es im Rückgriff auf das Evangelium Gottes für die Welt geschieht. Deshalb für die 100 Jahre an alle, gerade auch den Heutigen ein herzliches Vergelt´s Gott und in diesem Wort auch Gottes Segen für die Zukunft. Wir grüßen von dieser Stelle auch die Kranken in der Klinik und in unserer Stadt. Mit dieser Botschaft brauchen wir vor den vielen Wandlungen und Veränderungen in Gegenwart und Zukunft keine Angst mehr zu haben. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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