Am Karfreitag vollendet sich das Leben Jesu in seinem Tod. Bei seinem Leiden und Sterben wird erst ganz offenbar, wer er wirklich war. Es geht um die gesamte Ausrichtung seiner Existenz. Dies ist in seinem Kommen in diese Welt, in der Berufung der Jünger, in der Gemeinschaft mit ihnen, in der Zuwendung zum Volk, in seinen Wundern und Machttaten und bis in das letzte Mahl mit seinen Freunden offenkundig: Er wird Mensch und wird in die Welt gesandt, um Gottes Leben zu uns zu bringen. Dafür teilt er das Leben mit uns, wird einer von uns, in allem uns gleich außer der Sünde. Er wird auch wie wir vom Bösen versucht und auf die Probe gestellt, er erliegt aber dieser Anfechtung nicht.
Man hat schon früh dafür verschiedene Worte, ja Kurzformeln gewählt. Es können z.B. Worte Jesu sein, wie ein Ausspruch im Johannes-Evangelium: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat." (Joh 3,16) Das Wort von der Hingabe bildet auch in anderen Zeugnissen des Neuen Testaments so etwas wie die Mitte von Jesu Leben und Sterben.
Das griechische Wort für Hingabe hat ähnlich wie in der deutschen Sprache eine vielfältige Bedeutung. Es hat zunächst einmal einen ganz gewöhnlichen Sinn: Übergabe. Der Vater schenkt und gibt seinen Sohn in die Welt hinein, aber dabei bleibt es nicht. Das Wort „Hingabe" ist nicht so einfach. Es bedeutet nämlich auch, dass jemand drangegeben wird. Er wird in die Hände anderer ausgeliefert. Dies ist nicht nur ein äußeres Geschehen, wie es in der Nacht nach dem Herrenmahl geschah, als Jesus gefangen genommen worden ist. Es besteht immer auch eine enge Verbindung zwischen dieser Auslieferung und einem regelrechten Verrat, wie er in derselben Stunde durch Judas geschieht.
Aber dieses äußere Geschehen sagt noch nicht die volle Wahrheit. Gott behält geheimnisvoll seine Hand im Spiel. Was die Menschen tun, erschöpft sich nicht in ihren äußeren Handlungen. Sonst wären nur Verrat und Gewalt das Ergebnis. Der Vater aber hat eine andere Absicht. Er schickt seinen Sohn in die Welt, um sie zu retten (vgl. das schon zitierte Wort Joh 3,16). Wie dies geschieht, bleibt freilich noch lange Zeit verborgen. Geheimnisvoll wird dies alles schon im vierten Lied vom Gottesknecht beim Propheten Jesaia angedeutet (52,13 - 53,12): „Weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein." (53,12) Immer wieder spielen diese Worte und die Gestalt des Gottesknechtes auch im Neuen Testament eine große Rolle (vgl. z.B. Mk 9,31a; Röm 4,25; Mk 10,45; Röm 8,32). Hier spricht man in der modernen Schriftauslegung von einer ausgesprochenen „Dahingabeformel", wie sie uns z.B. beim hl. Paulus begegnet: „Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt." (Röm 4,25) Damit ist nicht nur das Sterben gemeint, sondern umfassend der Weg des Gottessohnes vom Anfang bis zur Vollendung.
Dieser Sinn von „Hingabe" ist ganz eng verwandt mit der Redeweise, dass Gott seinen Sohn schickt. Er wird gesandt, um den Willen des Vaters zu erfüllen. In diesem Sinne liegt in dem Wort „Hingabe" immer auch ein Verfügen des Vaters über den Sohn, auf seiten des Sohnes die Annahme des göttlichen Ratschlusses, Gehorsam. Jesus weiß, dass dies zu seinem Weg gehört. Die Leidensweissagungen der ersten drei Evangelien kündigen es schon während seines irdischen Lebens an, wenn Jesus dreimal zu den Jüngern sagt, dass der Menschensohn den Menschen ausgeliefert wird, dass sie ihn verwerfen und dass er zum Tod verurteilt wird. Sie übergeben ihn, wie es heißt, den Heiden (Mk 10,33; dazu auch 9,31ff; 9,30ff und 10,32ff), die sich mit ihrer Gewalttätigkeit an der Person Jesu austoben. Vermutlich stammt das Wort von der Auslieferung und der Übergabe aus dem Prozessbericht, aus der Judas-Tat. Schon bei Markus spüren wir, dass der Evangelist hinter diesem menschlichen Handeln, sogar der Ungläubigen, das Tun Gottes sieht (vgl. Mk 9,31). Gewiss hat die Theologie des hl. Paulus zu dieser Vertiefung des Gedankens von der „Auslieferung" von Anfang an viel beigetragen.
Nun können wir aber wiederum beim Evangelisten Markus sehen, dass diese Drangabe und Auslieferung nicht nur für Jesus „Schicksal" ist, wie manches, was auch uns Menschen geradezu überfällt. Gewiss muss Jesus damit ringen, wie das Gebet in Getsemani selbst bekundet: „Amen. Ich sage euch: Einer von euch wird mich verraten und ausliefern, einer von denen, die zusammen mit mir essen... Der Menschensohn muss (zwar) seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt." (Mk 14,18.21) Aber schließlich willigt Jesus in das, was ihm aufgetragen ist, ein: „Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen." (Lk 22, 42)
Ja, er willigt nicht nur, wie von außen gezwungen, in dieses Schicksal ein. Er sagt selbst Ja. Dadurch werden auch die Aussagen von der Hingabe umgeformt. Wir sprechen nämlich von der „Selbsthingabe", wie es besonders bei Markus schon früh erscheint: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele." (10,45). Deutlich werden wir in dieser Selbsthingabe-Aussage an den Gottesknecht des Alten Testamentes erinnert (vgl. Jes 53,10-12). Jesus übergibt sein eigenes Leben zur Rettung vieler, ja aller Menschen. Er übernimmt die Initiative und gibt damit seinem Leben und Leiden von ihm selbst her einen vollen Sinn. Jetzt kommt das Wort „Hingabe" wirklich zu seiner wahren Erfüllung. Jetzt wird auch erkennbar, dass diese Liebe nicht einfach der Ausdruck des Gehorsams zwischen dem Sohn und dem Vater ist, sondern zutiefst dem Willen Jesu selbst entspricht (vgl. Joh 13 und 15, Gal, Eph und Pastoralbriefe). Diese Einstellung Jesu wird schon voll erkennbar im letzten Mahl, wenn er seinen Jüngern das Brot gibt mit den Worten: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird." (Lk,22,19). Die Hingabe Jesu ist das Zeichen, das auch künftig leibhaftig an ihn erinnert: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!" (Lk 22,19). Nichts anderes wird uns bei der Fußwaschung im Johannes-Evangelium verkündigt: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe." (Joh 13,15).
Damit ist wohl der ganze Reigen von Bedeutungen abgeschritten, die das zunächst vielfältige Wort in sich birgt: von der Drangabe und dem Verrat über die Sendung durch den Vater bis zur Selbsthingabe aus Liebe. Dies wird dann auch in einer kleinen Formel schon früh in der christlichen Verkündigung und in sehr vielen Schriften zum Ausdruck gebracht, dass Jesus für alle sein Leben hingegeben hat. Es kommt zu einer Kurzformel: für die Brüder (und Schwestern), für euch, für alle. Dies ist die knappste Formel, um die Zielrichtung von Jesu ganzem Leben in einer äußersten Zusammenfassung zur Sprache zu bringen.
Weil Jesus dieses sein Leben für uns und für alle aus Liebe dargebracht und hingegeben hat, erinnern wir uns am Karfreitag in ganz besonderer Weise an dieses sein Leben für uns und alle. Mit einem Fremdwort hat die heutige Theologie dafür auch ein neues Wort eingesetzt, wenn sie von „Proexistenz" spricht, vom „Dasein für ...".
Deswegen haben auch die sogenannten „Großen Fürbitten" in dem einzigartigen Gottesdienst am Karfreitag ihren Platz: für die Hl. Kirche, für den Papst und alle Berufe in der Kirche, für die Taufanwärter (Katechumenen), für die Einheit der Christen, für die Juden, für die Anhänger der nicht-christlichen Religionen, für alle, die nicht an Gott glauben, für die Regierenden und in besonderer Konzentration am Ende für alle notleidenden Menschen.
Jetzt erst vollendet sich das Wort von der Hingabe. Jesus ist für uns alle, für alle Menschen gekommen und gestorben. Deswegen wollen wir in seinem Geist durch unser Gebet und unser lebendiges Zeugnis für alle eintreten, damit sich immer mehr die Verheißung Gottes erfülle: „Denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten." ( Tit 2,11).
Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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