Einführungsvortrag zum Gespräch mit Frau Susanne Conrad bei der Konrad-Adenauer-Stiftung am 29. August 2013 in Mainz innerhalb der Veranstaltungsreihe: Handlungsauftrag Demographie
Das Thema „Leben" hat in sehr vielen Bereichen unseres Lebens, auch wenn sie recht unterschiedlich sind, Hochkonjunktur. Dies ist im Grunde nicht verwunderlich, denn schon die weisen Denker vor der Ankunft Jesu Christi haben durch die Beobachtung der Natur und der Bewegungen in unserer Welt festgestellt: Alles strebt nach Leben.
Dabei geht es in unserer Zeit gewiss um die Rettung des Lebens des Menschen von der Geburt bis zum Tod. Es gibt aber auch eine fast unglaubliche Vermehrung unseres Wissens in die Entwicklung des Menschen vor der Geburt. Durch die Möglichkeiten einer hoch entwickelten Technik können wir auf eine filmische Reise durch den menschlichen Körper mitgehen. Nicht zufällig heißt der berühmte Filmtitel des schwedischen Fotografen Lennart Nilsson „Faszination Liebe - das Wunder des Lebens" (2001); ähnlich heißt ein Buch von Rainer Jonas „Der wunderbare Weg ins Leben" (2004). Dies gilt nicht nur für die gesamte Entwicklung von der Empfängnis bis zur Geburt, sondern besonders auch für die ersten Stunden und Tage des menschlichen Embryos. Wir können erkennen, was für eine riskante Reise die mit dem bloßen Auge nicht sichtbare Eizelle von der Befruchtung bis zur Einnistung überstehen muss. Es gibt unendlich viele Gefährdungen, aber gerade dadurch ist es auch ein Wunderwerk, wie das ungeborene Leben in den geglückten Fällen sich durchsetzt. Aber leider haben wir oft das Staunen vor diesen Wundern verloren. Dabei können wir gerade auch von den großen Denkern der vorchristlichen Antike lernen, dass das Staunen der Anfang des Denkens ist.
So sehr Anfang und Ende, Geburt und Tod zu den äußersten Gegensätzen unserer Erfahrung gehören, noch stärker als Wasser und Feuer, so haben sie doch auch manches gemeinsam. Gewiss, wir können heute auch dankbar staunen über vieles, was zwischen Geburt und Tod vom Menschen geleistet wird, etwa die Schläge und Pumpleistungen des menschlichen Herzens, aber besonders auch was von der Medizin und den angrenzenden Lebenswissenschaften dem Menschen an Leib und Seele zugutekommt. Auch hier tun wir uns schwer mit einer bleibenden Anerkennung dieser Leistungen. Wir lassen uns freilich auch durch diese wirklichen „Fortschritte" manchmal dazu verführen, über unser begrenztes irdisches Leben hinauszudenken und uns viele Gedanken zu machen, ob der Mensch denn nicht doch sein Leben vielfach verlängern könnte oder gar ewig zu leben im Stande sein könnte.
Aber dieser Umgang mit dem Leben zeigt von Anfang an eine merkwürdige Doppelung. Wir fördern und stärken das Leben, besonders wenn es schwach ist - denken wir an unseren Umgang mit immer jüngeren Frühgeburten -, wir sind aber nicht viel hemmungsloser geworden im Verwunden und Töten unserer Artgenossen, manchmal schlimmer als die wildesten Bestien. Diese Zwiespältigkeit unseres Verhaltens zum Leben zeigt sich freilich bereits auf den ersten Seiten der Bibel. Gerade als Ebenbild Gottes muss der Mensch die Natur um ihn herum nicht einfach wild wachsen lassen, sondern er ist immer auch aufgefordert, das Leben zu pflegen und in gewissen Grenzen zu ordnen. So heißt es deshalb auch im zweiten Kapitel der Bibel, in der zweiten Schöpfungserzählung: „Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und behüte." (Gen 2,15) Dies sind die beiden elementaren Verhältnisbestimmungen des Menschen im Blick auf seine Mit- und Umwelt, das Bebauen, identisch mit dem Erfinden, Konstruieren, Entwerfen, Schaffen, Produzieren und Umgestalten, und das Behüten im Sinne von Bewahren, Hegen, Pflegen, Schützen und Erhalten. Aus diesem Spannungsbogen kommt der Mensch nicht heraus. Zwar lässt er sich immer wieder in die eine oder andere Richtung verführen und tobt sich als Prometheus aus oder meint, er könne ein Robinson in der Wildnis sein. Es ist geradezu die Aufgabe des Menschen, zwischen diesen Herausforderungen immer auch eine ausgleichende Mitte zu finden, damit das Bebauen nicht zur willkürlichen Veränderung unserer Lebensgrundlagen wird und das Behüten nicht zur Romantik eines totalen Wildwuchses wird. In den verschiedenen Zeiten erlebt der Mensch natürlich seine Möglichkeiten recht unterschiedlich. In früheren Zeiten empfand der Mensch die Einbettung und Abhängigkeit von der Natur als Last, ja manchmal auch als feindselige Bedrohung, von der man sich befreit. Heute spüren wir bei dem unermesslichen Drang zur Umgestaltung unserer Erde, dass wir manchmal ungewollt unsere eigenen Lebensgrundlagen gefährden oder gar zerstören. Es ist und bleibt das Maß des Menschlichen, wie wir mit der Natur, ja mit dem Leben umgehen.
Es wäre gewiss notwendig, nun auch davon zu reden, wie der Mensch seine Stellung in dieser Welt verstehen muss. Er ist nicht einfach der Herr der Welt, der alles beherrscht und deswegen sich auch ausbeuterisch und tyrannisch verhalten kann. Er hat aber auch von Gott selbst her dadurch, dass er sein Bild und Gleichnis ist (vgl. Gen 1,26ff.), den Auftrag, dass er die Dinge dieser Welt ordnet. Er darf dabei aber nie vergessen, dass er selber ein Geschöpf ist und dass er auch ein gerechtes Verhältnis einhalten muss zu allem, was lebt. Dies gilt besonders in der Beziehung zu seinesgleichen. Da kommt er, wie auch die Bibel auf den ersten Seiten aufzeigt, immer wieder an eine innere Grenze. Denn hier kommt das rücksichtsvolle, solidarische, helfende und befreiende Tun des Menschen zu einem Höhepunkt. Wir spüren dies überall, wo der Mensch in seinem Leben und in seinen eigenen Möglichkeiten überfordert wird, sei es durch Unfälle, Überfälle und alle Formen der Gewalteinwirkung, sei es aber auch durch die Wucht der Naturgewalten und die Bedrängnis in Krankheit. Am stärksten wird dies zweifellos erfahren an den sensiblen Zeitstrukturen des menschlichen Lebens, nämlich am Anfang und am Ende. Hier spüren wir genau - wenn auch in verschiedener Weise - die Ohnmacht des Menschen besonders intensiv. Darum besteht hier auch eine eigene Herausforderung, in diesem Kontext die Macht des Menschen besonders am Kind und am kranken, sterbenden Menschen zu demonstrieren. Es gibt einen ausgesprochenen Triumphalismus, dass der Mensch den Anfang und das Ende seines Lebens besonders einschneidend verändern kann, in welcher Richtung dies immer auch geht.
Eine erste und elementare Verhaltensbestimmung, die gerade auch aus dem staunenden Denken erwächst, ist die Ehrfurcht vor dem Leben. Dies ist, wie wir aus vielen Religionen sehen, nicht nur eine biblische oder christliche Verhaltensweise, sondern lebt in vielen Religionen und Weltanschauungen. Es ist das offene oder heimliche Wissen, dass wir nicht die Schöpfer von Leben sind. Wir sind selber darauf angewiesen, dass uns das Leben geschenkt wird. Auch wenn dies natürlich nicht heißt, dass wir keine Veränderung z.B. von Missbildungen, Verletzungen usw. durchführen dürften, so bleibt doch ganz am Grunde allen Tuns das Wissen um die Unverfügbarkeit von Leben schlechthin. Daraus entsteht dann im Normalfall die Scheu vor unverantwortlichen Eingriffen oder das regelrechte Verbot grundlegender Veränderungen. Aber es kann nicht bei negativen Verhaltensweisen zu Ende sein. Ohne Rücksicht, Wohlwollen, Solidarität, Anerkennung und letztlich ohne Ehrfurcht können wir, wie vieles in unserer Geschichte zeigt, dem Leben des Anderen nicht gerecht werden und bleiben.
Dies sind noch recht allgemeine und vorläufige, aber immerhin auch auf breiter Front und vielfach angenommene Voraussetzungen, um über den Beginn und das Ende des Lebens zu sprechen. Gerade diese Voraussetzungen haben größte Bedeutung. Nun kann ich im Rahmen dieser Einführung zu unserem Gespräch nicht ausführlicher auf die vielen Themen eingehen. Zu meiner Entschuldigung darf ich auch vielleicht darauf hinweisen, dass ich im Lauf der letzten Jahrzehnte immer und immer wieder zu den einzelnen Themen, sei es zum Beginn, sei es zum Ende des Lebens, gesprochen und geschrieben habe. Ich muss darauf, aber auch auf unsere vielen Experten zu dieser Frage verweisen.
Ich wähle mir nur die Frage, die ohnehin nicht umgangen werden kann, nämlich ob denn das embryonale Wesen, gerade auch in der Frühzeit der Entwicklung wirklich schon ein Mensch im Sinne einer Person mit eigener Menschenwürde ist und einen unverletzlichen Rechtsstatus besitzt. Denn diese Frage entscheidet über vieles. Wenn dem ungeborenen Kind kein eigenes Lebensrecht eingeräumt werden kann, dann gibt es auch bis zur Geburt für viele kein generelles Tötungsverbot.
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die Entwicklung der frühen Schwangerschaft im Blick auf den Anfang eines individuellen Lebens verschieden gedeutet wird. Man weist zunächst darauf hin, dass sich die Embryonen in den ersten Entwicklungstagen noch nicht in die Gebärmutterschleimhaut einnisten können. Sie seien kleiner als ein Punkt in unserer Schrift und würden aus etwa 100 noch undifferenzierten Zellen bestehen. Besonders in den Tagen bis zur Implantation (4. bis 6. Tag) oder auch bis zum 14. Tag, ab dem gewöhnlich die Mehrlingsbildung ausgeschlossen ist, wird deshalb von manchen Wissenschaftlern und Ethikern vor allem im säkularen Raum eine experimentelle Freiheit angenommen. Man verweist auch auf die „fehlende äußere Menschenähnlichkeit und innere Empfindungsfähigkeit früher Embryonen". Manche Experten, die im Umgang mit Embryonen der frühen Schwangerschaft eine gewisse Gewohnheit haben, reden hier ziemlich unbefangen von „Zellhaufen", was zunächst gewiss auch mit der rein auf das Untersuchungsobjekt gerichteten Betrachtungsweise des Wissenschaftlers zusammenhängt, aber eben zugleich auch eine erhebliche Herausforderung darstellt, besonders für die, denen die Frage nach dem Anfang des menschlichen Lebens nicht gleichgültig ist. Von daher versteht sich, dass manche Wissenschaftler und Ethiker die britische Zweiwochenfrist als Obergrenze jeglicher Embryonenforschung für eine akzeptable Lösung halten.
Es gibt freilich auch noch weitergehende Überlegungen. Sie möchten erst in der Geburt das Zeichen für die Menschwerdung sehen. Norbert Hoerster ist der Meinung, dass erst die Grenze der Geburt eindeutig sei und deshalb das Lebensrecht erst mit der Geburt beginnen könne. In neuester Zeit hat Volker Gerhardt dieses Argument wiederum vorgebracht: „Der Akt der Menschwerdung ist die Geburt." Der Satz aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt" (§ 1) lässt hier in der Deutung von V. Gerhardt ganz bewusst alle anderen rechtlichen Bestimmungen aus. Eine solche Interpretation erscheint auch anthropologisch unhaltbar. Sie bedeutet nämlich, dass eine Frühgeburt in jedem Fall geschützt ist, während andere Kinder noch mit neun Monaten getötet werden könnten. Die Auseinandersetzung muss jedoch noch vertieft werden.
Merkwürdigerweise begegnet man auch immer wieder der Argumentation, ein wissenschaftlicher Umgang mit frühen Embryonen, der aus Gründen der Forschung oder auch der Heilung von Kranken Embryonen „verbrauche", d.h. am Ende töte, müsse doch aufgrund der deutschen Abtreibungsgesetzgebung möglich sein, da die Abtreibung ja aus anderen Gründen innerhalb der Zwölf-Wochen-Frist möglich sei. Eine solche Argumentation verkennt in fast grotesker Weise, dass es nach dem geltenden Recht keine Erlaubnis zur Abtreibung gibt, dass sie immer Unrecht ist und bleibt und nur in bestimmten Fällen unter einer Reihe von Bedingungen die Frau von der Strafe ausnimmt. Es ist eine fatale Argumentation, wenn gerade auch Wissenschaftler aus kurzsichtigen Interessen heraus zu solchen Fehlinformationen greifen.
Man darf und muss wohl der Überzeugung sein, dass diese Argumente, die im Vergleich untereinander spannungsvoll und zum Teil widersprüchlich sind, einer kritischen Überprüfung gerade auch im Blick auf die Befunde der Embryologie nicht standhalten. Wie aus den früheren Überlegungen hervorgeht, werden die vier Grundargumente für den Lebensschutz bereits für frühe Embryonen unzureichend interpretiert: die humanspezifische Entwicklung des Menschen als Mensch von Anfang an; die Potentialität zur vollständigen menschlichen Entwicklung hin; die Kontinuität der Entwicklung; das Verständnis der Individualität mit der Verschmelzung von Samen- und Eizelle, durch die eine für das Individuum einheitliche und vollständige genetische Information entstanden ist. Die Entwicklung des Embryos als eines organischen Systems wird in einer einmalig strukturierten Zwei-Einheit von Mutter und Kind gesteuert. Der mütterliche Organismus liefert dafür vor allem die geeigneten Umgebungsbedingungen und die notwendige Nahrung. Gewöhnlich finden während der Entwicklung keine Mutationen oder Sprünge statt. „Wenn aber die Zygote in kontinuierlicher Weise sich zum Neugeborenen und zum erwachsenen Menschen entwickelt, dann bleibt die Identität dieses Lebewesens erhalten. Ist dieses Lebewesen im erwachsenen Zustand ein Mensch, dann ist es dies auch als Embryo."
Ich kann jetzt nicht eigens darauf eingehen, warum wir mit Recht - mit anderen Worten - dem Embryo Personwürde zuerkennen. Ich will mit einer Anknüpfung an schon Gesagtes schließen. Wie kann aus einer einzigen Eizelle ein solch differenziertes Lebewesen wie ein Mensch entstehen? Dies war unsere Frage. Von Anfang an suchen plötzlich bestimmte Zellen zueinander den Kontakt, um sich zu verbinden, aber auch ihre je eigene Aufgabe zu übernehmen. Bei aller Eigenentwicklung, die auch durch die schon frühe Selbststeuerung des Embryos in der Entwicklung ihren Ausdruck findet, ist die Aufnahme in den Mutterschoß gewiss ein entscheidendes Ereignis, das für die Zukunft erst weiteres Leben ermöglicht. Diese Abhängigkeit von der Mutter darf aber nicht verdecken, dass der Embryo bereits ein individuelles menschliches Lebewesen ist, das ein eigenes Recht auf seine Existenz hat und Achtung verlangt. Deshalb erfordert dieses Wunder des Lebens auch rechtlichen Schutz.
Lassen Sie mich dies mit den Worten eines wunderbaren Psalms sagen, den ich immer wieder an dieser Stelle anführe. Der es geschrieben hat, hatte keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die man heute auch nur entfernt so nenne könnte. Aber vielleicht hat er doch sehr viel mehr von der Welt begriffen:
„Herr, du hast mich erforscht, und du kennst mich.
Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir.
Von fern erkennst du meine Gedanken.
Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt;
du bist vertraut mit all meinen Wegen...
Du umschließt mich von allen Seiten
und legst deine Hand auf mich.
Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen,
zu hoch, ich kann es nicht begreifen...
Denn du hast mein Inneres geschaffen,
mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast.
Ich weiß: staunenswert sind deine Werke.
Als ich geformt wurde im Dunkeln,
kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde,
waren meine Glieder dir nicht verborgen.
Deine Augen sahen, wie ich entstand.
In deinem Buch war schon alles verzeichnet;
meine Tage waren schon gebildet,
als noch keiner von ihnen da war.
Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken,
wie gewaltig ist ihre Zahl.
Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand.
Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir...
Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz,
prüfe mich und erkenne mein Denken!
Sieh her, ob ich auf dem Weg bin, der dich kränkt,
und leite mich auf dem altbewährten Weg!"
(Ps: 139, 1-3. 5.6.13-18. 23. 24)
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Es gilt das gesprochene Wort.
Im Original sind eine Reihe von Fußnoten u.a. mit Literaturhinweisen enthalten.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz