Im Herbst dieses Jahres werden in unserem Land wichtige politische Entscheidungen fallen. Manche sagen deshalb einen „heißen Herbst" voraus. In der Tat sind schon die ersten Anzeichen zu spüren.
Umso wichtiger ist der Wille zur Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, wenn die Probleme ernsthaft diskutiert und gründlich entschieden werden sollen. Gewiss darf man und muss man über längere Atomkraftwerklaufzeiten und erst recht über eine langfristige Entsorgung streiten, aber man muss auch sehen, dass wir uns zum ersten Mal um das Gesamtpaket einer energiepolitischen Planung mühen. Da gibt es noch viele andere Bausteine, die man nicht einfach verschweigen sollte.
Bei der Erhöhung der Leistung für die Empfänger von Hartz IV, also das Arbeitslosengeld II für Erwachsene, sind 5 Euro Erhöhung im Monat gewiss bescheiden. Rechnet man die fünf bis sieben Millionen Empfänger - die Zahlen schwanken - pro Monat zusammen, dann gibt es pro Haushaltsjahr wirklich einen nennenswerten Betrag. Miete und Heizkosten sind außerdem mit dem Regelsatz nicht abgedeckt, sondern werden extra bezahlt.
Wenn die Kinder künftig keinen zusätzlichen Euro mehr bekommen, darf man nicht verschweigen, dass sie jährlich 250 Euro und damit etwa 20 Euro pro Monat als Sachleistungen für Bildung, Sport und Kultur erhalten. Ich weiß, dass dies bei den tatsächlichen Kosten für jedes Kind wirklich nicht viel ist und wir uns auch fragen müssen, was uns Kinder wert sind, besonders auch im Blick auf die gemeinsame Zukunft.
Hier tut sich auch noch ein anderes Problem auf, mit dem zur Zeit oft rücksichtslose Politik gemacht wird. Es gibt fast keine Umfrage, in der nicht bestätigt wird, hunderttausende Kinder seien bei uns arm, vor allem aber kämen sie nicht aus einem Bildungsrückstand hoch und zu einer wirklichen Chancengleichheit.
Vielleicht haben wir in der Tat nicht so viele große Aufgaben, wie die Behebung dieses Notstandes, für den man sich eigentlich als Angehöriger eines reichen Landes wirklich schämen muss. Aber auch da braucht es eine neue Ehrlichkeit. Mit Geld allein werden wir dieses Problem nicht lösen. Immer mehr zeigt sich, wie viele Kinder auch unter der Verwahrlosung und leider zum Teil auch einer gewissen Sorglosigkeit der Eltern leiden. Es ist schon grausam zu lesen, wie viele Kinder nicht einmal gelernt haben, mit einer Zahnbürste umzugehen oder die Schnürsenkel ihrer Schuhe zu binden, geschweige denn ihren Sprachschatz auch nur ein wenig zu pflegen.
Es ist heuchlerisch, nur nach der Erhöhung des Geldes zu schreien. Wir müssen uns wirklich fragen, ob gerade für solche Familien genügend Betreuungsmöglichkeiten da sind. Die Frage reduziert sich nicht allein auf die Zahl der Kindertagesstätten, sondern es geht auch um vielfache Betreuung und Beratung. Natürlich muss man sich auch helfen lassen. Viele Angebote werden von den betroffenen Familien gar nicht wahrgenommen. Aber auch damit darf man sich nicht beruhigen.
Ich möchte damit niemanden anklagen. Wir zeigen ohnehin zu viel mit dem Finger auf andere und schaffen uns Sündenböcke. Immerhin sind nach einer Emnid-Umfrage 56 % der Deutschen der Ansicht, dass der Hartz IV-Regelsatz nicht erhöht werden soll. Es kommt darauf an, dass wir mit allen Kräften diesen hilfsbedürftigen Familien und ihren Kindern helfen. Dabei geht es nicht nur um Menschen mit Migrationshintergrund. Auch wir Kirchen können uns hier vielleicht noch mehr einfallen lassen und die Hilfen wirklich näher an die Betroffenen bringen. Früher gab es z. B. einmal in den Dörfern, z. T. auch von den Ordensschwestern vor Ort besorgt, „Mütterschulen".
Der „heiße Herbst" muss dazu benutzt werden, dass wir unabhängig von unmittelbar politischen Interessen solche Nöte endlich da anpacken, wo sie wirklich sind.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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