GRUNDLEGEND EINIG

Vortrag beim Festakt der Stadt Augsburg anläßlich der Unterzeichnung der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" am Samstag, 30. Oktober 1999, um 10.30 Uhr im Goldenen Saal des Rathauses

Datum:
Samstag, 30. Oktober 1999

Vortrag beim Festakt der Stadt Augsburg anläßlich der Unterzeichnung der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" am Samstag, 30. Oktober 1999, um 10.30 Uhr im Goldenen Saal des Rathauses

Was heute und besonders morgen am Reformationstag geschieht, darf man wohl ohne Übertreibung ein historisches Datum nennen. An der Schwelle zum Dritten Jahrtausend wird vom Lutherischen Weltbund und von der Katholischen Kirche verbindlich zum Ausdruck gebracht, daß die getrennten Kirchen gemeinsame Aussagen zur Lehre von der Rechtfertigung machen, die damals Ausgangspunkt und letztlich Grund für das Zerbrechen der Einheit der abendländischen Kirche gewesen ist. Wenn dies angenommen wird, dann verlieren auch die Lehrverurteilungen, die sich auf die Rechtfertigungslehre beziehen, ihre kirchentrennende Wirkung.

1. Die Unterzeichnung als Ereignis

Dies kann nicht heißen, der Akt der Unterzeichnung allein stelle für sich den definitiven Durchbruch auf der Suche nach der Einheit der Kirche dar. Wir werden auch gewiß nicht selbstzufrieden ein Jahrhundertereignis feiern. Vielleicht sind wir jedoch auch schon zu bescheiden geworden in der Beschreibung dessen, was erreicht worden ist. Wir müssen das, was in der Stadt des Religionsfriedens heute und morgen geschieht, in der ganzen Breite und Tiefe der kirchlichen Wirklichkeit, nämlich in unseren Kirchen, Gemeinden und in der Theologie nachvollziehen und einlösen. Wir müssen alle dazu beitragen, daß die feierliche Unterzeichnung nicht einfach ein ungedeckter Scheck bleibt.

Dieser Tag gibt Anlaß zur Freude und zum Dank. Vielleicht sieht man dies besser, wenn man wirklich etwas in die Geschichte schaut, die tiefen Zerwürfnisse zwischen unseren Kirchen auf sich wirken läßt und so vielleicht besser würdigen kann, was in den letzten Jahrzehnten geleistet worden ist für die nun vollzogene Einigung in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre. Man muß diese gesamte Entwicklung sehen, die auch die "Gemeinsame Erklärung" in ein neues Licht rückt. Die Verständigung ist hier besonders schwierig, weil die Lehrgegensätze schon früh hier besonders plakativ zur Geltung gebracht und über Jahrhunderte mit großer Schärfe und besonderer Unerbittlichkeit hochgehalten worden sind. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn diese Zuspitzungen trotz vieler Bemühungen nicht plötzlich wie vom Winde verweht sind. Es gibt aber keinen anderen Weg als eine sorgfältige Aufarbeitung der Grunddifferenzen, an denen im 16. Jahrhundert die Wege auseinandergingen. Für den Laien und engagierten Christen mag es vielleicht manchmal ärgerlich sein, wie viel historische Gelehrsamkeit und geistige Kraft für die Bewältigung dieser Aufgabe notwendig waren und sind. Aber wenn in diesem Zentrum unseres Glaubens und unserer theologischen Überzeugungen keine Verständigung erreichbar wäre, ist jeder andere Konsens auf Sand gebaut. Dies mag auch bis zu einem gewissen Grad die Härte der gegenwärtigen Auseinandersetzungen erklären.

Es wäre aber ein folgenreiches Verhängnis, wenn man die Gemeinsame Erklärung mit den Zusatztexten isolieren und für sich allein übersteigern würde. Es ist öfter darauf hingewiesen worden, daß wir hier nicht nur die Früchte längerer ökumenischer Bemühungen, sondern besonders der vielfach unternommenen, international breit gestreuten und immer wieder intensivierten Forschungsergebnisse mindestens der letzten 40 Jahre ernten dürfen. Die Gemeinsame Erklärung kann nur so knapp und dicht sein, weil man sich über Jahrzehnte immer wieder in größeren Abhandlungen und in knapper Thesenform an den Problemen abgearbeitet hat. Deshalb ist es ganz wichtig, die im "Anhang" ausgewählten, konzentrierten Quellen, die für diesen langen Prozeß einer gemeinsamen Suche stehen, mit den größeren und ganzen Dokumenten heranzuziehen. Sie untermauern mit ihren immer wieder bewährten Formulierungen die Gemeinsame Erklärung. Ich habe nicht den Eindruck, daß man bisher das Gewicht der Konsenselemente und das Potential auf eine Einigung hin, das in diesen Quellen steckt, genügend wahrgenommen hat.

2. Die Unterzeichnung als Ermutigung

Die Unterzeichnung ist eine große Ermutigung ökumenischer theologischer Arbeit. Wir kennen die jahrzehntelange Klage, die Ergebnisse der theologischen Dialoge würden von den Kirchenleitungen nicht genügend ernstgenommen, die Ökumene leide an dieser Hinhaltetaktik, die Theologen seien müde und resigniert. Nun ist es soweit, daß wir die mit großer Mühe in vielen Ländern erarbeiteten Vorstufen und Teilergebnisse in konzentrierter und neu geordneter Form verbindlich annehmen können. Damit wird auch erwiesen, daß die gediegene theologische Forschungsarbeit sich im Lauf der Zeit durchsetzt. Freilich müssen wir aus diesem Prozeß auch lernen, daß gerade die professionellen Ökumeniker aus Theorie und Praxis, Theologie und Kirchenleitung Konsenstexte dieser Art zumeist überschätzen. Auch wenn sie wissenschaftlich wohl erwogen und spirituell durchaus eindrucksvoll sein können, so sind sie noch nicht mit Leben und Spritualität erfüllt. Es dauert länger, bis sich jahrhundertealte Denkgewohnheiten und Verhaltensmuster abbauen lassen, und eine neue Sprache, die manchmal für alle Partner fremd ist, sich bewähren kann. In diesem Sinne wurde auch die theologische Zunft durch die nun auf Verbindlichkeit angelegte Erklärung aufgeweckt, denn offenbar hatte man auf weite Strecken hin die inneren Tendenzen und zahlreichen Belege einer jahrzehntelangen ökumenischen Arbeit relativ wenig mitverfolgt. Die offizielle Ökumene hatte das Zeitmaß, die Breite und die Tiefe der notwendigen Rezeption nicht so recht eingeschätzt.

Deswegen dürfen wir uns aber die Freude über das nun Erreichte nicht nehmen lassen. Wir haben Grund, dankbar auf die vielen Bausteine zurückzuschauen, die sich nun zur "Gemeinsamen Erklärung" zusammenfügen, die in den Zusatzdokumenten noch wichtige Erläuterungen findet. Wir danken besonders auch all denen, die trotz manchmal sachlich unzureichender und persönlich verletzender Attacken unverdrossen, zuversichtlich und selbstlos ihren Auftrag erfüllt haben. Zur Theologie gehört gewiß der kritische Einwand des einzelnen Experten, aber auch die eher verborgene, nicht weniger wichtige Treue zu einem Auftrag der Kirche.

 

3. Konsens und Fundament

Entscheidend ist jedoch das Ergebnis des Konsens-Prozesses der Gemeinsamen Erklärung. Für viele ist das Ergebnis vielleicht enttäuschend, denn sie haben einen umfassenderen Konsens erwartet. Sie finden den Text eher etwas ängstlich und noch mit zu vielen offenen und strittigen Fragen belastet. Vielleicht haben wir manchmal auch einen fragwürdigen Begriff von Konsens im Auge gehabt. Nicht selten erscheint er nämlich als Ideal im Sinne uneingeschränkter Übereinstimmung in allen Dimensionen einer zuvor strittigen Sache. Unsere Texte haben hier und dort noch Spuren einer solchen Vorstellung, die sich wie Eierschalen ausnehmen. Der Konsens-Begriff ist untergründig stark von einem emotionalen und vielleicht sogar logischen Gefälle zur Uniformität hin geprägt. Ein solches Verständnis überfordert uns, weil man so jede Differenz zwischen Katholiken und Lutheranern im Verständnis der Rechtfertigung ausräumen müßte.

Im übrigen hat die klassische Theologie in beiden Kirchen immer auch unterschieden zwischen dem, was Konsens erfordert, und dem was des Konsenses nicht bedarf. Das Verständnis für diesen Unterschied war gerade zwischen dem Bereich der Glaubenslehre und dem Bereich der kirchlichen Riten, Gebräuche und Disziplin weit verbreitet. Im übrigen hat man immer auch zwischen fundamentalen und nicht-fundamentalen Glaubenslehren unterschieden. Denken wir nur an die Glaubensbekenntnisse und die Katechismen. Das Zweite Vatikanische Konzil bekennt sich seinerseits zu einer "Rangordnung oder Hierarchie der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhanges mit dem Fundament des christlichen Glaubens." (Unitatis Redintegratio, Art. 11) Die christlichen Kirchen können also trotz ihres Getrenntseins im Grundlegenden des Glaubens eins sein. Auf katholischer Seite wurden dabei zwei wichtige Bilder gebraucht, die sich ergänzen. Johannes Paul II. sagte in seiner Ansprache am 450. Jahrestag der Confessio Augustana im Jahr 1980, daß "wichtige Hauptpfeiler der Brücke im Sturm der Zeiten erhalten geblieben sind" und daß wir neu entdeckt haben, "wie breit und fest die gemeinsamen Fundamente unseres christlichen Glaubens gegründet sind". Kardinal Jan Willebrands sagte bei derselben Gelegenheit, "daß die Spaltung von damals nicht bis in den gemeinsamen Wurzelstock gegangen ist und daß das Gemeinsame unseres Glaubens wesentlich tiefer und weiter reicht als das Trennende" (Das katholisch-lutherische Gespräch über das Augsburger Bekenntnis, Dokumente 1977 - 1981, herausgegeben von H. Meyer = LWB Report 10, August 1982, S. 56f und 54).

 

4. "Differenzierter Konsens"

Aus mannigfachen Gründen stehen die evangelischen und noch mehr die katholischen Theologen dem Gedanken der Fundamentalartikel und einer ökumenischen Anwendung der "hierarchia veritatum" skeptischer gegenüber. Stattdessen hat sich der Begriff eines "differenzierten Konsenses" eingebürgert. Das Wort Konsens wurde im ökumenischen Gespräch ohnehin immer mehr durch qualifizierende Eigenschaftsworte bestimmt: "weitreichender Konsens", "Konsens in der Sache", "wachsende Konvergenz", "fundamentale Gemeinsamkeit". Damit will man sagen, die zur Kirchengemeinschaft erforderliche Übereinstimmung ist in der umstrittenen Problematik durchaus erreicht, aber die Art der Übereinstimmung muß noch näher spezifiziert werden. Ein erreichtes Konsens-Stadium ist noch nicht Einheit. So meint der Konsens im Prozeß der Einigung eine Vorform voller und sichtbarer Gemeinschaft.

In der "Gemeinsamen Erklärung" hat man für die spezifische Struktur der erzielten Übereinstimmung einen eigenen Begriff geprägt, nämlich "Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre" (vgl. Nr. 5, Nr. 13, Nr. 40). Zwei Elemente sind vor allem wichtig. Einmal handelt es sich um "Grundwahrheiten". Eine Einigung darüber ist zwar noch kein voller Konsens z.B. in der Entfaltung der ganzen Rechtfertigungslehre, aber es gibt eine Übereinstimmung bezüglich der Fundamente und tragenden Überzeugungen. Falls noch Unterschiede verbleiben, wird diese Gemeinsamkeit nicht einfach aufgehoben. Man hat bewußt nicht formuliert "Konsens in den Grundwahrheiten", sondern hat artikellos und weniger bestimmt von einem "Konsens in Grundwahrheiten" gesprochen. Es könnte also durchaus noch andere Grundwahrheiten geben, bei denen der Konsens nicht oder noch nicht feststeht. Dieser Befund wird immer wieder in verschiedener Form umschrieben, z.B. "ein hohes Maß an gemeinsamer Ausrichtung und gemeinsamem Urteil", "ein gemeinsames Verständnis unserer Rechtfertigung".

Dies führt zu befreienden Feststellungen. Die Gemeinsame Erklärung "enthält nicht alles, was in jeder der Kirchen über Rechtfertigung gelehrt wird" (Nr. 5); sie zeigt jedoch, "daß die weiterhin unterschiedlichen Entfaltungen nicht länger Anlaß für Lehrverurteilungen sind" (Nr. 5). "Die unterschiedlichen Entfaltungen in den Einzelaussagen sind damit (d.h. mit einem Konsens in Grundwahrheiten) vereinbar" (Nr. 14). Es gibt also noch Fragen "von unterschiedlichem Gewicht, die weiterer Klärungen bedürfen", aber es herrscht auch die noch wichtigere Überzeugung vor, "daß das erreichte gemeinsame Verständnis eine tragfähige Grundlage für eine solche Klärung bietet" (Nr. 42). Es gibt also trotz aller Gemeinsamkeit noch offene Fragen in der Rechtfertigungslehre und darüber hinaus, sie haben aber - auch wenn sie gewichtig sind - nicht zur Folge, daß die Einheit der Kirchen nicht gegeben ist. Es gibt also innerhalb der Gemeinsamkeit legitime Differenzen. Sie sind auch nicht grundsätzlich und durchgängig nur die Signatur eines Mangels, sondern sie sind stets davon geprägt, daß die Kirche eine Einheit in Vielfalt ist. Das Ausmaß der Verschiedenheit bei einem solchen "differenzierten Konsens" muß freilich geklärt werden.

 

5. Die Legitimität des theologischen Vorgehens

Bei vielen bleibt ein Mißtrauen. Nimmt man die Wahrheit in Aussagen gerade des Bekenntnisses, für das viele Menschen Haus und Hof, Heimat und Leben hingegeben haben, ernst? Walten hier nicht zu rasch Beliebigkeit und Manipulation, wie man eine wächserne Nase nach allen Seiten formen kann? Immer wieder werden hier unzulängliche Modelle entworfen und unglückliche Antworten versucht. So sind manche der Meinung, die Annahme der Gemeinsamen Erklärung habe auch eine Aufgabe der Entscheidungen des Konzils von Trient zur Folge. Dies aber wäre ein unannehmbares Mißverständnis.

Wir sehen dank der exegetisch-historischen und hermeneutisch-theologischen Kenntnisse die damaligen Texte in einem lebendigen Fluß und in einem umfassenderen Kontext. Wir erheben uns deshalb nicht dünkelhaft über die Entscheidungen der Väter, aber wir können manches tiefer verstehen. Man kann heute besser zwischen der Intention des Gesagten und der sprachlichen Form, den diese gefunden hat, unterscheiden. Man kann eine begrenzte Aussageabsicht erkennen, die man später oft zu sehr ausgedehnt hat. Man hat im harten Gefecht und in der Polemik, die die gegnerische Position gelegentlich auch perspektivisch verkürzt, letztlich doch aneinander vorbeigeredet, wie wir dies auch heute noch in Situationen des Streits feststellen. Indem man solche Begrenzungen und manchmal auch Deformationen erkennen kann, lassen sich einzelne Texte entschärfen. Außerdem kann man entdecken, daß die einzelnen Partner nicht immer dieselbe Sprache sprechen. Es gibt unterschiedliche Begrifflichkeiten, andere Zugänge und verschiedene Annäherungsweisen an die Rechtfertigung. Dies betrifft z.B. Grundbegriffe wie Sünde, Konkupiszenz, Heilsgewißheit und Verdienst bzw. Werke. Wir können heute manchmal sicherer erkennen, daß sich diese verschiedenen Verständnismöglichkeiten nicht schlechthin ausschließen müssen, sondern sich nicht selten komplementärhaft ergänzen können. In einer unmittelbaren Kampfsituation kann man dies vielleicht nicht immer deutlich genug wahrnehmen. Sehr viele Untersuchungen der letzten Jahrzehnte zeigen unmißverständlich, daß in der Situation der Polemik solche Entfremdungen voneinander entstehen können, die Menschen geradzu blind machen können. Vielleicht muß man diese Art von Erkenntnis von innen her kennen, um ihr wirklich ganz zu trauen. aber sie hat natürlich auch ihre Gefahren, die freilich nicht automatisch eintreten müssen. Man kann z.B. nicht alles nur auf verschiedene Sprach- und Denkformen reduzieren. Es gibt nun einmal inhaltliche Aspekte, die Differenzen enthalten, und die man nicht leugnen kann (vgl. Nr. 18 - 39, 43).

Die Gemeinsame Erklärung ist aber darüber hinaus noch viel bescheidener. Sie nimmt sich nicht heraus, über die objektive Wahrheit früherer Aussagen von hoher Warte aus zu urteilen, sondern man fragt sich, ob die heutigen Partner von den damaligen Verurteilungen betroffen sind. So heißt es: "Die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der lutherischen Kirchen wird nicht von den Verurteilungen des Trienter Konzils getroffen. Die Verwerfungen der lutherischen Bekenntnisschriften treffen nicht die in dieser Erklärung vorgelegten Lehre der römisch-katholischen Kirche." Dieser wichtige Satz wird auch an zentraler Stelle in der "Gemeinsamen Offiziellen Feststellung" zitiert. Die Erklärung hat in diesem Sinne eine doppelte Zielsetzung, daß sie nämlich die Übereinstimmung in "Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre" erweist und daß die wechselseitigen Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts den heutigen Partner nicht mehr treffen. Die wissenschaftliche Forschung und das ökumenische Gespräch haben auf diesen beiden Wegen die "Gemeinsame Erklärung" vorbereitet.

 

6. Der künftige Weg

Wie wird es am Tag danach weitergehen? Es scheint mir nicht seriös zu sein, sofort zu ganz anderen Themen weiterzuspringen. Wir sind ja ohnehin in der Kennzeichnung des Erreichten allzu bescheiden geworden. Vielleicht war die Rede vom "Durchbruch" am Anfang etwas zu enthusiastisch. Die Rede vom "ersten Schritt" markierte immerhin noch eine vorwärtsweisende Dynamik. Wenn jetzt oft nur eine "bedeutsame Annäherung" in zentralen Lehrfragen angenommen wird, ist die verbindliche Gemeinsamkeit arg geschrumpft. Ich möchte lieber von einem Markstein sprechen, den die Erklärung in sich darstellt, und von einem Meilenstein, wenn man den Text in die Geschichte hineinstellt, nach rückwärts und nach vorwärts.

Gerade angesichts des Zögerns sehr vieler evangelischer Theologen muß die vertiefende Diskussion der Aussagen selbst mit allen Kräften weitergehen. 243 kritische Unterschriften von Hochschullehrern gefährden die Rede vom "Konsens in Grundwahrheiten". Als katholischer Theologe sehe ich in der Gemeinsamen Erklärung eine "authentische Interpretation" des Trienter Rechtfertigungsdekrets, die in jedem Unterricht der Gnadenlehre und der Theologischen Anthropologie, erst recht auf der ökumenischen Gesprächsebene ihren Platz beanspruchen muß und z.B. in den kommenden Auflagen der dogmatischen Entscheidungssammlungen, wie z.B. Denzinger - Schönmetzer - Hünermann, "Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen", Aufnahme finden müßte. Eine intensive Beschäftigung mit dem gemeinsamen Zeugnis der Rechtfertigungslehre in einer den Menschen von heute aufweckenden Sprache wird in verschiedenen Partien der Texte erwartet.

Schließlich sollte die Gemeinsame Erklärung der weiteren ökumenischen Arbeit zu den noch offenen Themen im Bereich der Sakramente, der Kirche und der Ämterfrage einen kräftigen Schub geben, denn die entsprechenden Lehrverurteilungen sind im Blick auf eine verbindliche Rezeption noch weitgehend unaufgearbeitet. Der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen hat die Vorarbeiten dafür schon lange zur Verfügung gestellt, ähnlich wie bei der Rechtfertigungslehre. Dabei wird gewiß die Frage eine zentrale Rolle spielen, in welchem Sinne die Rechtfertigunslehre ein kritischer Maßstab ist für das Verständnis und die Gestalt besonders der Sakramente, der Kirche und der Ämter. Vielleicht darf man sagen, daß vermutlich erst bei diesem letzten Thema die wirkliche Gemeinsamkeit auf eine wahrscheinlich besonders schwierige Probe gestellt wird. Wenn dies eingelöst wird, dann ist der Weg zu einer wechselseitigen Einladung zur Teilnahme am Herrenmahl nicht mehr weit und bald frei. Aber man sollte sich bei aller Sehnsucht nach diesem Ziel auch keinen voreiligen Erwartungen hingeben. Die Eucharistie ist für die katholische Kirche - aber nicht nur für sie - so etwas wie der Gipfel der kirchlichen Lebensvollzüge, das spirituelle Gemeinwohl der ganzen Kirche und die Einholung vieler individueller und sozialer Strukturen in das eine Ganze der Kirche. Ich weiß um die hohen Erwartungen, aber ich weiß auch um den Flurschaden wenigstens jetzt oder in absehbarer Zeit (noch) nicht einlösbarer ökumenischer Versprechungen, die nicht nur die Leidenschaft eines verständlichen Drängens, sondern auch die mühsame Geduld des Reifens brauchen.

Der 31. Oktober 1999 ist dafür eine unentbehrliche und überaus gewichtige Zwischenstation, die uns nicht lähmen darf, sondern auf dem Weg zur Einheit der Kirche mit Mut und Zuversicht erfüllen kann. Ich wünsche allen eine durch Gottes Geist gesegnete Bekräftigung dieser Hoffnung, deren Realisierung uns vom Herrn als besonders wichtiger Auftrag seines Testaments übergeben worden ist: "Alle sollen eins sein" (Joh 17,21) Augsburg 1999 ist darum eine große Chance, vielleicht ein einmaliger Kairos. So etwas wiederholt sich nicht einfach. Augsburg 1530 ist uns dafür eine unübersehbare Mahnung.

(c) Bischof Karl Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz