Es ist jedes Jahr dasselbe Lied: Ende Mai/Mitte Juni fehlen sehr viele Lehrstellen für die jungen Leute in Deutschland. Die Zahlenangaben schwanken. Aber gegen 200.000 dürften es auf jeden Fall sein, die noch einen Ausbildungsplatz suchen. Die Zahlenschwankungen sind verschieden begründet. Fast 50 % der Unternehmen melden ihre offenen Ausbildungsplätze nicht den Arbeitsagenturen. Aber viel wichtiger ist, dass, wie eine genaue Statistik zeigt, seit zehn Jahren jeweils Ende Mai die Zahl der fehlenden Stellen einen Höchststand erreicht, der sich bis zum Beginn des Ausbildungsjahres im Herbst fast immer auf ca. 30.000 Plätze absenkt.
Dennoch gibt es einige kleine Lichtblicke, die gewiss nicht übermütig machen. 120.000 Arbeitsverträge konnten bisher abgeschlossen werden. 9.000 Betriebe haben sich neu entschlossen, Ausbildungsplätze anzubieten. In Ostdeutschland liegen die Vertragszahlen fast 6 % über dem Vorjahr. Es lohnt sich also, alle Unternehmen nochmals anzusprechen, um alle Kräfte aufzubieten. Dies ist in einer Zeit konjunktureller Flaute wahrhaftig nicht selbstverständlich.
Aber über die Zahlen hinaus gibt es noch einige positive Signale: Die Industrie- und Handelskammern haben zugesagt und auch eingehalten, dass sie alle Betriebe, die keine Ausbildungsplätze angeboten haben und dazu wohl in der Lage wären, persönlich ansprechen wollen. Dies hat erstaunliche Früchte getragen und zeigt den Weg, den man gehen muss. Es ist auch ein Gewinn, dass über die Hälfte der Unternehmen eng mit den Schulen zusammenarbeiten, z.B. für Schülerpraktika.
Man muss die Angelegenheit auch noch in einem anderen Lichte sehen. Vor einem Jahr war schon ein Gesetz vorbereitet, um die Unternehmen, die nicht ausbilden, mit einer Ausbildungsabgabe zu belegen. Der Widerstand war erheblich. Das Gesetzesvorhaben wurde zurückgestellt. Man wird nun auch so realistisch sein dürfen und annehmen können, dass die „Drohung“ dieses Gesetzes auch dazu beigetragen hat, energischer andere Wege zu gehen. Aber es ist eine große Ermutigung und auch ein wichtiges exemplarisches Zeichen für andere soziale Probleme in unserem Land, dass der gemeinsame Einsatz – im konkreten Fall von Regierung und Industrie- und Handelskammer sowie die verstärkte persönliche Ansprache der Unternehmen - eben doch zu einem erfreulichen Erfolg geführt hat. So viel noch geleistet werden muss: Es gibt eben doch auch gute Wege aus der Misere.
Wir reden viel von Werten. Hier sind sie. Es kommt darauf an, dass wir möglichst allen jungen Menschen, soweit dies erreichbar ist, zum Eintritt in das Berufs- und Arbeitsleben verhelfen müssen. Da geht es nicht nur um einen „Job“. Hier kommt alles darauf an, dass wir jungen Menschen ein reales Zeichen von Hoffnung und Zuversicht für ihr Leben geben können. Wenn dies nicht gelingt, ist vieles andere umsonst. Deshalb gebührt allen großer Dank, die sich in einer oft schwierigen wirtschaftlichen Situation befinden und dennoch Mut und Kraft aufbringen, um solche Zeichen zu setzen.
© Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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