Öffentlicher Abendvortrag am 10. Juni 2014 in Mainz, Erbacher Hof,
in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft der Kirchenhistoriker und ihrem thematischen Studientag „Identität und Autorität. Das theologische Selbstverständnis des Bischofs und seine Amtsausübung im Wandel der Zeit"
Es scheint nichts Beständigeres und Zeitenthobeneres zu geben als das Profil und die Struktur der Ämter und Dienste in der katholischen Kirche mit einer Geschichte von bald zwei Jahrtausenden, jedenfalls was die theologischen Fundamente ausmacht. Wenn wir vom Bischofsbild sprechen, räumen wir schon eher ein, dass es bei der Konzeption des Bischofs immer auch um einen konkreten historisch-gesellschaftlichen Kontext und um seine politischen Implikationen geht. Dann gibt es gewiss immer noch gleichbleibende Konturen des bischöflichen Dienstes, aber auch eine große Vielfalt der verschiedenen geschichtlichen Realisierungen.
Auch bei der Papstgeschichte ist eine ähnliche Fragestellung nicht zu übersehen. Man kann sich ja fragen, welche Identität zwischen dem ersten Papst, dem Fischer Petrus, den großen römischen Päpsten am Ende der Antike, Leo der Große und Gregor der Große, dem Renaissance-Papst Pius II. (1458-1464, Silvio Piccolomini), dem Reformer Hadrian VI. (1522-23) und dem heutigen Papst Franziskus herrscht. Man darf keinen zu engen, theologisch überhöhten und abstrakten Begriff von Identität verwenden, wenn man der Vielfalt der geschichtlichen Realitäten gerecht werden will. Unwillkürlich wird man an den Grabspruch des schon genannten Papstes Hadrian VI. in der deutschen Nationalkirche S. Maria dellʼ Anima in Rom erinnert: „Ach, wieviel kommt darauf an, in welche Zeit auch des besten Mannes Wirken fällt."
Beim Amt des Bischofs scheint mir diese fundamentale geschichtliche Prägung noch schärfer erkennbar zu sein. „Der Bischof in seiner Zeit" ist wohl zum ersten Mal umfassend behandelt worden in der gleichnamigen Festschrift zum 80. Geburtstag von Joseph Kardinal Höffner, Erzbischof von Köln, herausgegeben von den Professoren Peter Berglar und Odilo Engels . Hier wird in den zehn Beiträgen klar unterschieden zwischen dem epochenspezifischen „Bischofstyp", der durchaus auch die Ganzheit seines Zeitalters betrifft, und dem Bischofsideal, das die Treue zur biblischen Norm für eine bestimmte Zeit einfordert und für maßgeblich hält.
Der thematische Studientag der Arbeitsgemeinschaft der Kirchenhistoriker greift in acht Kurzreferaten dieses Thema wieder auf, nachdem es m. W. in den letzten 20 Jahren in der theologischen Diskussion, jedenfalls mit der angedeuteten hermeneutischen Aussageabsicht, eher zurücktrat. Dies ist umso bedauerlicher, da das Thema mit seinen wandlungsreichen Perspektiven wertvolle Einsichten abgeben kann für heutige Reformen in der Kirche, für das Ausmaß und die Grenzen von Veränderungen und damit auch für das ökumenische Gespräch, gerade auch hinsichtlich der Ämter.
Schon die Herausgeber von „Der Bischof in seiner Zeit" haben im Jahr 1986 im Blick auf die jüngste Zeit festgestellt, dass es unmöglich sei, über die letzten vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg verlässlich, d. h. „historisch", zu berichten. Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger steuerte eine Skizze bei „Wie sollte heute ein Bischof sein?" Hier war er bereits nach einigen Jahren als Erzbischof in München (1977-1982), als Präfekt der Glaubenskongregation in Rom (bis 2005) tätig, bevor er als Benedikt XVI. Papst wurde (2005-2013).
Dies alles schränkt die Möglichkeiten eines zuverlässigen Berichts über heute besonders notwendige Elemente in der Ausübung des bischöflichen Dienstes ein. Es geht einerseits nicht ohne objektive Hinweise auf eine auch amtliche Veränderung des Bischofsbildes, hauptsächlich durch das Zweite Vatikanische Konzil, wobei es hier natürlich auch verschiedene Akzente der Auslegung gibt. Auch ist der Grad der Realisierung recht unterschiedlich, dazu auch noch nach Kontinenten und Regionen sowie Ländern. Schließlich kommt anderseits die persönliche Verwirklichung des in gewisser Weise neuen Bischofsbildes nach dem Konzil zur Sprache, in dem notwendigerweise subjektive Elemente und partikulare Erfahrungen gar nicht fehlen können. Ich habe im Lauf der Zeit neben der über 30-jährigen Erfahrung als Bischof verschiedene Studien und Artikel dazu verfasst, die aber nur zum geringen Teil veröffentlicht sind. Diesen persönlichen Vorbehalt muss ich eigens nennen. Ich wähle bewusst eine durch meine Amtsführung und durch meine Erfahrungen geprägte Perspektive, wobei die 21 Jahre meiner Tätigkeit als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz selbstverständlich miteinfließen.
Unter diesen Voraussetzungen habe ich mir für die Darlegung heutiger Akzente und Anforderungen drei Themenkreise ausgewählt, die den Untertitel dieses Vortrags darstellen: weltweite Gemeinschaft und Sendung, Präsenz in der Öffentlichkeit und Vermittlung zwischen Ortskirche und Rom. Damit sind natürlich viele andere Anforderungen und Perspektiven nicht geleugnet, aber sie können nicht zugleich im Vordergrund stehen, meist gar nicht angesprochen werden.
Im Bischofsbild unserer Zeit wird nicht zufällig ein wichtiges Element erkennbar, das der Kölner Historiker Professor Dr. Peter Berglar in seinem umfangreichen Beitrag zu der genannten Festschrift in der Überschrift mit dem kurzgefassten Titel „Der Bischof der Weltkirche" zusammenfasste.
Die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat in verschiedener Intensität die Grenzen der Nationen gesprengt. Die Verbindung untereinander und besonders auch im europäischen Kontext ist gewachsen. Auch die Gemeinschaft mit dem Papst und den römischen Behörden wurde enger. Verschiedene Abgrenzungen und Feindseligkeiten, wie z.B. in der Modernismus-Krise, hinderten die Kontakte und die Kommunikation nicht mehr. Dabei existierte schon früher, worauf P. Berglar mit Recht hinweist, bereits einmal eine ziemlich in sich vereinigte „Welt", nämlich das Imperium Romanum. Erst später, mit dem Zerfall dieses Reiches und der Völkerwanderung, gab es eine Zerteilung in politische Gebilde, die auch die Kirche, wenigstens in ihrer Außendarstellung, mehr in ihrer Vielfalt beleuchtete.
Dies hat sich eigentlich erst gründlich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geändert. Der heutige Lebens- und Wirkraum der Kirche ist der ganze Globus. Vieles rückte zusammen, was vorher voneinander geschieden war. Manche neuen Faktoren zwangen zu einer qualifizierten Einheit, so z.B. die Bedrohung der ganzen Menschheit durch atomare Vernichtungswaffen und immer mehr auch durch die Gefährdung der natürlichen Lebensbedingungen, die bei allen Unterschieden eben doch die ganze Erde betrifft. Die Steigerung der modernen Kommunikation, nicht zuletzt besonders das Fernsehen, hat die Menschen, wenigstens im Blick auf die Informationsvermittlung, näher zusammengerückt. Der Sturz des Kolonialismus brachte eine Besinnung auf die eigene Würde und die eigenen kulturellen Errungenschaften bei vielen außereuropäischen Völkern. Zugleich muss man aber auch sehen, dass viele geistige und gesellschaftliche Prozesse eine eigentümliche Gleichzeitigkeit und Geschwindigkeit annahmen, die praktisch sehr bald alle Völker der Erde erfasste. Zum Teil hing dies auch mit dem Wachsen der modernen Wirtschaft zusammen. Dies alles verstehen wir heute als den Beginn der „Globalisierung". Mit Recht fasst P. Berglar dies folgendermaßen zusammen: „Die historisch überkommene, sich in ihrem juridischen, liturgischen, kulturellen Erscheinungsbild seit über tausend Jahren manifestierende Europazentrik ist am Ende. Übrigens auch demografisch gesehen, lebt doch nur noch ein Drittel ihrer Glieder in der Alten Welt." Heute sind die Zahlen noch drastischer.
Wir sehen dies auch deutlich in der Entwicklung der Staaten zueinander. Dies zeigt sich z.B. schon am Ende des Zweiten Weltkrieges (1945) in der Entstehung der Vereinten Nationen (UNO). Die allen gemeinsamen Menschenrechte schaffen gerade auch durch die Charta der UNO (1948) für den Zusammenhang der Welt eine ganz neue Bedeutung. Es lässt sich bis in die Kunst und Literatur hinein ein wachsendes Bewusstsein von der gemeinsamen Verantwortung für die Menschheit, unabhängig von Kontinenten, Rassen und Nationen, feststellen. Die Kirche selbst lebt nicht im luftleeren Raum. Sie ist auch davon mitgeprägt, hat aber auch schon immer eigene Kräfte und Motive, gerade in der katholischen Kirche, um diese Entwicklung zu fördern. Gewiss muss man hier auch beide Seiten, oft in dialektischer Spannung, sehen, die dadurch verstärkt werden, nämlich wachsende Einheit und sich mehrende Differenzen, gefördert durch „Begeisterung für die Demokratie, Populismus, Pluralismus der Werte und Weltanschauungen, grundsätzliche Gleichheit der Geschlechter, Forderung nach umfassender sozialer Gerechtigkeit, „das ‚Glück‘ für jeden - und zwar hier", also konvergierende und divergierende Tendenzen zugleich.
Die Kirche hat in dieser Bewegung eine eigene Dynamik entfaltet, die theologisch schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzt, vor allem durch ein neues Kirchenverständnis. Mit voller Wucht wird diese Tendenz aus eigenen Quellen jedoch im Zweiten Vatikanischen Konzil gefördert. Dies wird in der weltweiten Kirchenversammlung von 1962 bis 1965 konkret erfahren. Es ist auch die Zeit, in der das Bewusstsein weltweiter Solidarität in der Kirche wächst, so z.B. in der Gründung der großen Bischöflichen Hilfswerke, z.B. „Misereor" im Jahr 1958, 1961 folgt „Adveniat". „So entspricht einer im Menschheitsbewusstsein zusammenwachsenden Welt eine Kirche, die sich, stärker als früher, auch als eine querverstrebte und innerweltliche Solidargemeinschaft versteht." Dies hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Art des Zusammenlebens in einer Weltkirche, auf das Verständnis von Mission, auf den Regierungsstil im Vatikan, aber auch in den Teilkirchen. Ich brauche hier kaum zu betonen, wie sehr diese Tendenz auch mit einem großen Erwartungsdruck, mit einer Egalisierung und Nivellierung verbunden war, sodass die Kirche sich gerade im 19. und 20. Jahrhundert gegen eine solche Tendenz in verschiedener Weise wehren musste. Vielleicht war die darin verbundene Abkapselung nicht vermeidbar. Aber die Kirche konnte auch neben Irrtümern positive Früchte der modernen Entwicklung nicht leugnen und musste ihr Verhältnis zur Welt differenzieren. Dies geschah vor allem auf Weltebene im Zweiten Vatikanischen Konzil. Die Gründung des Ökumenischen Rates der nicht-katholischen Kirchen (1948) ist ebenfalls schon ein früher Ausdruck dieser Dynamik.
Diese Wende auch in der ekklesiologischen Neuorientierung möchte ich mit zwei zentralen Stichworten des Zweiten Vatikanischen Konzils kennzeichnen, nämlich „Communio" und „Missio". Vielleicht sind dies die beiden leitenden Grundbegriffe des Konzils, wie sie besonders auch das Schlussdokument der Außerordentlichen Bischofssynode 1985 zusammengefasst und hervorgehoben hat.
„Communio" („Koinonia") ist die Gemeinschaft der Kirche mit Gott durch Jesus Christus im Hl. Geist. Diese Gemeinschaft ereignet sich vornehmlich und grundlegend im Wort Gottes und in den Sakramenten. Die Taufe ist dabei Zugang und Grund der kirchlichen Gemeinschaft, die Eucharistie Gipfel und Höhepunkt des gesamten christlichen und kirchlichen Lebens (vgl. UR 22, LG 15). Die Gemeinschaft des eucharistischen Leibes Jesu Christi baut die vielfältige, strukturierte Gemeinschaft aller Gläubigen im Leib Christi, der Kirche, auf (vgl. LG 9 und 11). Die Einheit und Vielfalt der Kirche ist dabei in der Gemeinschaft der Bischöfe mit und unter dem Papst als dem Nachfolger Petri gegeben. Die eine und einzige katholische Kirche ist so in allen Teilkirchen anwesend und tritt auch aus ihnen hervor (vgl. CD 11 und LG 23). So zeigt sich im Bischofsdienst mit und unter dem Petrusamt eine echte Vielfalt, die einen wirklichen Reichtum ausmacht und zugleich darin echte Fülle und Einheit mit sich bringt. Dies ist gegenüber mancher Auflösung und Zerstörung lebendiger Vielfalt, wie sie heute oft in einem schädlichen Individualismus und hemmungslosem Pluralismus erfolgen, der Gewinn wahrer Katholizität, die immer eine geistgewirkte Einheit in lebendiger Vielfalt darstellt und so erst wirklich Identität gewährleistet.
Jeder Bischof lebt in dieser „Communio". Er steht auf vielen Ebenen in Verbindung mit der ganzen Kirche, nicht zuletzt durch die Bischofsweihe und die mit ihr verliehene Kollegialität. Hier steht der Bischof auch mit seiner Verantwortung für die Teilkirche in der „Communio": z.B. mit dem Presbyterium, der besonderen Sorge für die Priester, für die Ordensgemeinschaften und Säkularinstitute, für die kirchlichen Berufe, für alle Berufungen, nicht zuletzt für die Laien mit ihren Familien und für die Jugend. Hier vollzieht der Bischof den Dienst am Wort und den Dienst der Heiligung; hier übt er nach dem Bild des Guten Hirten sein Leitungsamt aus. In dieser „Communio" erhält er geistliche Kraft und Unterstützung für seinen Dienst. Die weltweite Verbindung der Bischöfe untereinander, besonders mit und unter dem Papst, ist dabei - vor allem in Situationen äußerer Bedrängnis - eine außerordentliche Stütze.
Bei der „Communio" geht es immer zugleich um die „Missio". Der Bischof darf nie seine Verwurzelung und Beheimatung in der geistlichen und sakramentalen Tiefe der Communio verlieren, aus der er in seinem amtlichen Dienst und auch als geistlicher Mensch lebt. Aber er ist gerade heute immer wieder herausgefordert, diese von Gott gewirkte und geschenkte Gemeinschaft zu erneuern, zu vertiefen und auszubreiten. Er darf sich nie damit zufrieden geben, als ob sie schon vollendet wäre. Wenn der Communio-Gedanke hier nicht fundamental ergänzt wird durch das Erfordernis der „Missio" entsteht ein falscher Eindruck, als ob nämlich diese jetzt gegebene und gelebte Communio gleichsam „rund" und für sich schon vollendet wäre. In Wirklichkeit aber wird diese „Communio" durch die Missio immer wieder grundlegend geöffnet und auf die Menschen hin ausgerichtet. Dabei geht es einerseits gewiss um den Dienst an der zerrissenen Welt und an den betroffenen und verwundeten sowie verletzten Menschen.
Aber diese Sendung des Bischofs liegt noch tiefer: sie hat Anteil an der Gabe und Aufgabe des Heils, das der Herr in Kreuz und Auferstehung für alle erworben hat und das als Heil der Welt wirklich zu allen Menschen gelangen möchte (vgl. LG 16, GS 18-22, AG 7, DV 3). Dies geschieht natürlich nicht allein durch den Bischof, der freilich die letzte Verantwortung innehat. Dies erfolgt stets in Zusammenarbeit mit den übrigen Gliedern der Kirche, die mit allen Diensten und Ämtern zusammen eine Gemeinschaft der Zeugen der Hoffnung sind. In diesem Sinne ist „Missio" natürlich hier mehr als die Missionstätigkeit der Kirche. Sie entspricht dem Sinn und Begriff des Apostolischen in seiner Doppelbedeutung: Dieses ist nicht nur der wesentliche Rückbezug auf die Gründung der Kirche in der apostolischen Zeit und damit die Bewahrung des apostolischen Erbes („Hinterlassenschaft"), sondern auch die Notwendigkeit der Sendung in die Welt und in die verschiedenen Sprach- und Kulturräume hinein, die jeweils eine Neuorientierung dieses Erbes notwendig machen. Erst beides ergibt den vollen Begriff des Apostolischen, was oft verkannt wird.
So hat der Dienst des Bischofs, übrigens analog auch der Presbyter und Diakone, einen ganz grundlegenden Anteil an der Sendung der Gesamtkirche. Dies bezieht sich auch auf seine Verpflichtung für die Missionstätigkeit der Kirche (vgl. AG 11, 20, 29, 30), darf aber nicht darauf allein eingeschränkt werden. So heißt es in bezeichnender Weise im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche „Christus Dominus", die Bischöfe sollen sich „ihrer apostolischen Aufgabe ... zuwenden als Zeugen Christi vor allen Menschen. Sie sollen sich nicht bloß um die kümmern, die schon dem obersten Hirten nachfolgen, sondern sich mit ganzem Herzen auch jenen widmen, die irgendwie vom Weg der Wahrheit abgewichen sind oder die Frohe Botschaft Christi und sein heilbringendes Erbarmen nicht kennen, bis schließlich alle ‚in lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit‘ (Eph 5,9) wandeln." (CD 11) Dabei ist hier gewiss auch der Dialog in der Ökumene (UR), mit anderen Religionen (vgl. NA) und mit den Nichtglaubenden angesprochen. Aber durch diesen kräftigen Akzent der „Missio" in der Mitte der amtlichen Gestalt des Bischofs ist ein Wesenszug gegeben, der gewiss nicht immer genügend gesehen wird und dennoch gerade heute elementar zum Wirken des Bischofs gehört. Darum ist auch sein Horizont wirklich weltweit geworden, nicht nur in der humanen Mitverantwortung, sondern auch in der wirklichen Hoffnung auf das Heil für alle. Dieser zentrale Gedanke weltweiter missionarischer Verantwortung ist um die Jahrtausendwende nochmals in der Gesamtkirche und bei uns bewusster geworden.
Wir dürfen uns darum in der modernen Welt nicht immer wieder bloß in die Defensive, gleichsam mit dem Rücken an die Wand stellen lassen, sondern müssen mit dem großen, einmaligen Gut unserer Botschaft in die Offensive gehen und „Rechenschaft von der Hoffnung" geben, die uns erfüllt. Dies hat natürlich Konsequenzen für den Umgang des Bischofs mit den Menschen in Kirche und Welt. Wenn er sich den geistigen, leiblichen und weltlichen Nöten der Menschen auch außerhalb des Gefüges der Kirche zuwendet, verfehlt er nicht seine Aufgabe, sondern er erfüllt grundlegend den Dienst des guten Hirten, wie er heute notwendig ist. In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig zu sehen, dass bereits die Weltbischofssynode 2001 in ihrer Themenbeschreibung einen wichtigen Hinweis auf diese Dimension enthält. Ihr Thema lautet nämlich: Der Bischof als Diener des Evangeliums Jesu Christi für die Hoffnung der Welt. Damit sind viele Fragen und Aufgaben angesprochen, die im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr erörtert werden können. Sie beziehen sich auf die Felder und Bereiche der Tätigkeit des Bischofs, auf den Stil seines Auftretens und nicht zuletzt auch auf Kriterien zur Bestellung von Kandidaten für das Bischofsamt.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch eine neue Form der Präsenz in der nun auch weltweiten Öffentlichkeit, die sich aber natürlich im Bereich eines einzelnen Bischofs zunächst auf seine Diözese und im Horizont einer Bischofskonferenz auf ein Land oder auch ein Sprachgebiet, evtl. auch einen Kontinent beschränkt. Aber in jedem Fall ergibt sich eine neue Form einerseits der Aufmerksamkeit, die in einer maßlos überfluteten Medienwelt ein hohes Selektionsvermögen und anderseits zugleich eine alte Kunst erforderlich macht, nämlich die „Unterscheidung der Geister". Sie sind nicht einfach Frucht einer geeigneten Begabung eines einzelnen Bischofs, sondern bei aller Disposition zum öffentlichen Zeugnis auch ein Ergebnis von Bildung, Erziehung und permanentem Studium. Man kann und muss in diesem Bereich viel neu lernen. Dies gilt gerade auch für das Bischofsbild in dieser Zeit.
Diese Präsenz hängt natürlich sehr eng mit der vielfachen Gebrochenheit unserer modernen Welt zusammen: mit dem Zerbrechen der einen Christenheit und Kirche am Beginn der Neuzeit, dem Toleranzgedanken und der Religionsfreiheit als demokratisch verbürgtes Menschenrecht, der Auflösung eines z.T. sehr engen Staat-Kirche-Verhältnisses, dem Ruf nach Transparenz in allen gesellschaftlichen Bereichen, der Liberalisierung der ethischen Normen in privater und sozialer Hinsicht sowie der Lebensentwürfe mit dem geistig-weltanschaulichen und religiösen Pluralismus sowie der tiefgreifenden Säkularisierung aller Lebensbereiche. Dies soll als Zusammenfassung einmal genügen.
Damit entsteht eine sehr offene Situation, die einerseits durch Gleichgültigkeit, Misstrauen, Verdacht und auch Feindseligkeit, anderseits aber auch durch Transparenz, Solidarität, Offenheit und Toleranz geprägt ist. Es herrscht sicher auch eine Situation des Wettbewerbs unter den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen. Dialog und Argumentation, persönliche Glaubwürdigkeit und Willen zur Verständigung haben zweifellos eine gewisse Chance. Eine Religion, die sich nicht abkapselt und nach innen auswandert, muss sich dieser Situation stellen. Zu diesem Dialog und evtl. auch zu dieser Auseinandersetzung sind alle Christen im Rahmen ihrer Möglichkeiten aufgerufen, ganz gewiss auch der Bischof.
Dieser gesellschaftliche Dialog hatte immer schon viele Formen. Er hat seit der frühen Neuzeit, besonders seit der Reformation, auch viele Mittel der Publizistik benutzt, ja diese sogar vielfach entwickelt, z.B. Flugblätter, Möglichkeiten des Buchdruckes. Heute sind es zahlreiche Medien.
In der Tat sind die Medien darum auch nicht einfach „neutrale" Mittel zur Vertretung ziemlich verschiedener, ja beliebiger Inhalte. Im Gegenteil, unsere sogenannte „Wirklichkeit" ist heute in vielen Bereichen von Anfang an von den Medien her mitbestimmt und sogar medial durchdrungen. Dies zeigt sich auf vielfache Weise. Die Medien haben heute außerdem einen fast totalitären Anspruch, nämlich alle über alles zu informieren. Dieser Tendenz ist gerade in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft kaum eine Grenze entgegenzusetzen. Mit der Forderung nach Transparenz aller Verhältnisse und dem herrschenden Interesse der Öffentlichkeit wird fast alles zugänglich gemacht, so dass z.B. der in den meisten Verfassungen gewährte „Persönlichkeitsschutz" außerordentlich schwer gewährleistet werden kann. Die jüngsten Urteile zur Verpflichtung von Google, bestimmte ehrverletzende Inhalte zu löschen, zeigen aber bereits ein gestiegenes Problembewusstsein. Nicht zufällig hat man die Macht der Medien in der modernen Gesellschaft mit einer Art „vierter Gewalt" verglichen. Durch die Publizität dieser Art entsteht eine neue öffentliche Wirklichkeit. Es gibt nicht einfach die Information über die Wirklichkeit, sondern schon die Nachricht gehört zu einem dichten Geflecht von Erkenntnisinteressen und ist immer schon eingebettet in Kommentarteile, d.h. Deutung. Sie ist eine Momentaufnahme und klebt geradezu an der Aktualität. Die Wirklichkeit löst sich so in endlose Spiegelungen, Eindrücke, Meinungen und Beobachtungen auf, wird pausenlos interpretierbar und so am Ende wieder undurchsichtig. In unmittelbar oder mittelbar politischen Kontexten steigert sich diese Spiegelung nochmals. Die damit verbundene Kurzlebigkeit der Nachricht erschwert im Übrigen jedes Dementi. Ein solches kann kaum eine nachhaltige Wirkung haben.
In diesem Rahmen muss auch jede Berichterstattung über Kirche gesehen werden, besonders auch über Ämter und Strukturen. Es liegt auf der Hand, dass hier das beschriebene Gesamtbild besonders Wirkung zeigt. Die offiziöse Säkularität des Weltbildes in den Medien, besonders im Fernsehen, abstrahiert - sieht man einmal vorläufig von Reportagen und Berichten ab - weitgehend von der religiös-theologischen Aussageabsicht z.B. eines kirchlichen Vorgangs. Was bleibt, ist vorwiegend die soziale oder politische Relevanz, die natürlich recht verschieden interpretiert werden kann. Die eigene religiöse Bedeutungskraft von Phänomenen wird in hohem Maß ausgeklammert. Der Gegenstand, über den berichtet wird, wird dann recht beliebig und dehnbar. Es bleibt eine gewisse Leere, die verschieden aufgeladen werden kann.
Es gibt in jeder heutigen Information über Kirche eine schwierige Verhältnisbestimmung von Fremdverständnis und Selbstverständnis. Die Kirche kann kaum erwarten, dass die säkularen Medien nur ihr Selbstverständnis reproduzieren, so sehr die Autonomie der einzelnen Lebensbereiche gerade unter den Bedingungen einer säkularisierten Welt Anerkennung und Respekt fordert. Eine gewisse „Verfremdung" ist wohl auch unerlässlich, um die Bedeutung einer zunächst „kirchlichen" Nachricht für die Gesellschaft und Andersdenkende zu interpretieren. Säkulare Journalisten beurteilen solche Darstellungen, die den Insidern weitgehend als Fehlinterpretationen vorkommen, im Allgemeinen günstiger: Kirche bleibt überhaupt im Gespräch, auch wenn manches Detail schief sein mag. Freilich kann das Fremdverständnis so dominieren, dass aus der Information eine Deformation, d. h. aus der Nachricht eine Entstellung wird.
Diese Deformation ist für die Kirche gefährlicher als für andere Lebensbereiche. Die Welt des heutigen Durchschnittsbürgers, seine Sicht der Wirklichkeit und der Wirkungszusammenhänge, sind von den Medien mehr geprägt als von anderen Einflussfaktoren. Die eigene unmittelbare Erfahrung hat für das Weltverständnis des Menschen an Bedeutung verloren. Dies gilt erst recht für viele Menschen in ihrem Verhältnis zur Kirche. Sie haben oft keine lebendige Beziehung mehr zu einer Gemeinde und deren Leben. Umso mehr bestimmen die Medien, besonders das Fernsehen, das Bewusstsein der meisten Menschen. Das Visuelle genießt eine hohe Glaubwürdigkeit, denn man ist der festen Überzeugung - auch wenn diese langsam schwindet -, Bilder könnten nicht lügen. Es ist außerordentlich schwer, das dadurch gewonnene Verständnis, das auch in ein Vorurteil umschlagen kann, zu durchbrechen und zu hinterfragen. Ich übergehe hier einmal das Internet und die Sozialen Medien.
Hier liegt ein Grundkonflikt der Kirche mit den modernen Medien vor, weil es vielfach kaum möglich erscheint, den Panzer eines solchen Vorverständnisses zu durchbrechen. Der Grundkonflikt besteht in einem verschiedenen Wirklichkeitsverständnis, das bei der Berichterstattung über die Kirche eine Rolle spielt. Die komplexe Realität Kirche, die immer aus vielen Dimensionen besteht, wird in den Medien nicht selten eindimensional abgeflacht und reduziert. Es gibt hier darum sehr rasch Missverständnisse auch innerhalb der Kirchenmitglieder selbst. Es gibt schnell innerkirchliche Konflikte über Glaubensaussagen. Die Verkürzungen vieler Medien erhöhen diese Gefahr außerordentlich.
Ein weiteres Thema ist die Behandlung von innerkirchlichen Konflikten in den öffentlichen Medien. Für eine Bischofskonferenz ist es z.B. sicher angezeigt, zunächst einmal das Gemeinsame in den Vordergrund zu stellen. Man braucht deswegen Differenzen innerhalb der Kirche nicht zu verschweigen. Aber für die Kirche ist die gemeinsame Aussage- und Handlungsfähigkeit vordringlich. Es kann in manchen Sachverhalten auch wichtig sein, verschiedene Positionen zu kennen, die entweder noch einen Ausgleich finden müssen oder Momente eines Kompromisses darstellen. Man hilft dadurch dem Verständnis vor allem differenzierter Entscheidungen.
Im Übrigen hat es keinen Sinn, echte und wahre Konflikte, die oft auch in der Schwierigkeit der Sache liegen, zu leugnen. Es ist immer besser, mit Ehrlichkeit und Offenheit Meinungsverschiedenheiten darzulegen, als sie zu vertuschen oder zu leugnen. Es wäre töricht zu leugnen, dass es auch unter Christen, Katholiken und Amtsträgern Konflikte geben kann und gibt. Ein falsches Harmoniebedürfnis ist ähnlich falsch wie eine Konfliktstrategie, die überall Differenzen wittert und fördert. Christen werden nicht daran erkannt, ob es auch unter ihnen Konflikte gibt, sondern wie sie sich ihnen stellen und wie sie ihnen begegnen. Hier müssen wir noch viel lernen. Es ist jedoch meine Erfahrung, dass eine offensive Vorwärtsverteidigung, die nicht kleinlich ist bei der Mitteilung der Wahrheit, sondern ehrlich und offen verfährt, mit einem gewissen Vertrauen und mit einer vergleichsweise saubereren Berichterstattung belohnt wird. Dies ist nicht zwangsläufig der Fall, aber es ist im Allgemeinen der bessere Weg.
Es gibt viele Konflikte in der Kirche, von denen manche innerhalb und außerhalb der Glaubensgemeinschaft die Meinung vertreten, ein Problem sei eigentlich gelöst oder wenigstens bei gutem Willen sofort lösbar. Dies gilt z.B. für Fragen der Bevölkerungsentwicklung, der künstlichen Geburtenregelung sowie der Geschiedenen Wiederverheirateten. Man darf die damit gegebenen Probleme nicht verharmlosen. Aber allen zu einfachen Lösungen gegenüber kann und muss man argumentativ entgegenhalten, dass sie es sich zu simpel machen und dass sie so den wahren Problemstand nicht erreichen können. In den allermeisten Fällen haben auch andere - innerhalb und außerhalb der Kirche - kein Rezept, das auch nur annähernd allgemein akzeptiert wäre. Leute, die zuerst sehr dominieren, werden dann meist stiller. Freilich muss man in solchen Bereichen selbst sehr versiert sein. Aber wir müssen im gesellschaftlichen Diskurs entschieden mehr Gegenfragen stellen.
Die Behandlung von Konflikten, die innerhalb der Kirche herrschen, in einer großen Öffentlichkeit ist im Übrigen eine heikle Sache, zumal wenn sie personenabhängig ist. Obwohl man sonst gerne nach der inneren Pluralität und lebendigen Vielfalt ruft, werden nicht selten kleine und kleinste Differenzen zu großen Konflikten emporgesteigert, die maßlos übertrieben sind. Offenbar treiben nicht wenige - ohnehin bei der oft vergröberten Sprechweise - in die sichtbar werdenden Ritzen der Meinungsvielfalt einer Gemeinschaft viele Keile. Das innere Klima kann darunter sehr leiden. Meine Erfahrung lehrt mich hier Zurückhaltung.
Die Diskrepanz zwischen Sachgerechtigkeit und Mediengerechtigkeit öffentlicher Äußerungen ist heute in allen Bereichen zu einer Kernfrage geworden. Man darf darum die Gesetzmäßigkeiten und Forderungen der modernen Medien nicht übersehen. Reine Darstellungsfähigkeit reicht jedoch für sich nicht aus. Taktik und Jonglierkunst allein versagen sehr bald. Sachlich richtige Entscheidungen der Kirche mediengerecht darzustellen, gerade wenn sie dem Zeitgeist entgegenlaufen, ist eine elementare Forderung kirchlicher Führung unter dem oft schwierigen Druck moderner Massenmedien. Sachkenntnis und Darstellungsfähigkeit, Sensibilität für die Rezeption und Zivilcourage, Geistesgegenwart und eine gute Menschenkenntnis sind unerlässliche Voraussetzungen. Dies ist kein fester Besitz, sondern sie müssen sich im Zusammenspiel auch immer wieder erst bewähren. Ohne das berühmte Quäntchen Glück geht es auch hier nicht.
Eine solche Präsenz in der säkularen Öffentlichkeit, die durchaus auch das Forum der Kirche einbezieht, ist heute für den bischöflichen Dienst unerlässlich. Es geht aber nicht darum, das vielfältige Interessensspiel in den Medien einfach mitzumachen. Die Leinwand ist immer gefährlich und verführt zu einem Überschätzen der medialen Präsenz. Man muss nicht auf alles antworten. Man muss nicht in allen Talkshows sitzen. Man darf nicht bei allem mitmachen. Auch hier ist wichtig, ob man wirklich etwas Gediegenes zu sagen hat und sagen kann. Deshalb sind Sachkunde und die Fähigkeit zur Konzentration elementar wichtig. Man hat auch nicht immer die Möglichkeit, alles vorher zu planen oder vorbereiten zu lassen. Nicht selten muss man spontan antworten. Aber auch dann muss man immer noch eine eigene Handschrift haben - und vor allem die notwendige solide Kenntnis der Sache.
Diese neue Präsenz in der Öffentlichkeit verlangt auf der einen Seite Offenheit, Dialogbereitschaft, aber auf der anderen Seite auch Mut zur eigenen Identität und zur Selbstbehauptung. Die Balance, die man dazwischen immer wieder suchen und finden muss, ist ein Kunststück.
Ein letztes Element scheint mir noch in engem Zusammenhang mit dem schon Gesagten wichtig zu sein. Wir haben gesehen, dass ein elementares Kennzeichen des heutigen Bischofsbildes das ständige Bewusstsein ist, zu einer großen Gemeinschaft mit weltweiten Dimensionen zu gehören, in deren Mitte zweifellos der Nachfolger des hl. Petrus und damit der Primat des Papstes steht, aber nicht allein für sich, sondern für die ganze Kirche, besonders auch wo sie bedrängt ist.
In den bisherigen Ausführungen ist direkt und indirekt deutlich geworden, wie sehr die gemeinschaftlichen Elemente des allen zugesprochenen Evangeliums, der Versammlung und Beratung vor Gott und der Sendung durch Jesus Christus zum Bischofsamt gehören. Darum ist es auch immer vernetzt in einer „Communio Ecclesiarum" und darin mit dem Dienst des Nachfolgers Petri. Man kann auch sagen, dass Communio, Kollegialität, Universalität, Einheit und Eintreten füreinander zum Grundbau von Kirche gehören und eben darum sich auch in den Ämtern wiederfinden, besonders eben im überörtlichen Dienst des Bischofs. Dies wird in frühester Zeit schon deutlich in der Bischofsweihe und in den nachbarschaftlichen Besuchen. So verdanken die frühen Synoden, die ja Bischofsversammlungen sind, ihre Existenz der Aufgabe der gemeinsamen Klärung der Botschaft Jesu Christi durch die „Unterscheidung der Geister", wozu auch die Vergleichung und Vereinigung der Überlieferungen gehört, der gemeinsamen Ordnung der Kirche und der rechten Leitung. Wenn dies gelingt sind - nach der Überlieferung der Kirche - der gemeinsame Glaube, die „Eintracht des Herzens", die gegenseitige Liebe und die „consonantia disciplinae" (Origenes) die Früchte dieses Miteinanders.
Dies ist gewiss nur möglich, wenn es ein wirklich ausgewogenes Verhältnis zwischen den synodalen Bereichen gibt. Die innere Zuordnung darf z.B. nicht zu einer introvertierten Abkapselung gegenüber anderen Gemeinschaften oder zu einer Isolation im Blick auf die Kirche im Ganzen und gegenüber ihrem Zentrum führen. Die einzelnen Gemeinschaften und Gemeinden müssen sich immer wieder gegen alle Tendenzen zur Eigenbrötlerei in den lebendigen Zusammenhang der einen und ganzen Kirche aufbrechen lassen. Wenn das Konzil und nach ihm auch die Leitung der Gesamtkirche die erklärte Absicht hatten, durch Dezentralisierung die relative Eigenständigkeit der Ortskirchen zu stärken, dann darf dieser mühsame, heikle und auch für das Zentrum in Rom selbst keineswegs einfachen Prozess nicht durch grundsätzliche Bestreitungen der Notwendigkeit und der legitimen Rechte eines Zentrums der Weltkirche gefährdet werden. Es wäre außerdem fatal, wenn die katholische Kirche in einer Zeit, wo sich nichtkatholische Kirchen der Notwendigkeit einer auch sichtbaren Einheit der Kirche und der Nützlichkeit eines Petrusdienstes - in welcher Form auch immer - bewusster werden, die konkrete Universalität der Kirche schwächen und die umgreifende Einheit als Weltkirche einbüßen würde. Im Übrigen wäre es anachronistisch und geradezu selbstzerstörerisch, wenn wir Katholiken im Zeitalter einer wachsenden Einheit der Menschheit und der Weltgesellschaft überholte Partikularismen und Nationalismen nachholen zu müssen meinten.
Die Schwierigkeiten sind jedoch nicht zufällig, denn auch Rom muss neue Formen der Ausübung seiner verantwortlichen Leitung des Zentrums der Weltkirche finden, indem es nämlich sehr viel mehr die gewachsenen Eigenheiten und die besonderen Erfordernisse einer Region, eines Sprach- oder Kulturraumes berücksichtigt. Das Zentrum der Weltkirche darf sich nicht als eine in sich selbst kreisende Institution und selbstgenügsame Organisation begreifen, die am Ende an den wirklichen Fragen und den wahren Bedürfnissen der Gemeinden und der Ortskirchen vorbeizulaufen droht. Rom beraubt sich selbst wertvoller Anstöße und Initiativen, wenn es in fataler Weise die Potenzen und Gaben von Teilkirchen nivellieren würde. Zweifellos git es da und dort die Gefahr eines alten und doch auch neuen Zentralismus.
Das Verhältnis von Teilkirche und Weltkirche kann also weder in den Kategorien der Rivalität noch unter dem Gesichtspunkt einer nur „formalen" Verteilung von Kompetenzen und Rechten allein sinnvoll verstanden werden. Dies schließt nicht aus, dass aufgrund der verschiedenen Funktionen und Situationen beider stets eine lebendige Spannung besteht und auch das bipolare Zueinander in rechtlichen Formen noch besser verbindlich geregelt werden kann. Wichtig als tragende Basis sind jedoch ein gegenseitiges Vertrauen, das der einen und gemeinsamen Sache dient, und der wechselseitige Austausch von Glaube, Hoffnung und Liebe für das Leben der Welt.
In dieser Perspektive ist es auch evident, dass es als Instrumente dieser Beziehung Konzilien und Synoden gibt, die zwar im Wesen von Kirche ein theologisches Fundament haben, aber im konkreten geschichtlichen Leben der Kirche tief von den jeweils vorherrschenden Ekklesiologien bestimmt werden. Das synodale Prinzip ist gerade der entscheidende Kreuzungspunkt und Vermittlungsort zwischen diesen verschiedenen Ekklesiologien. Aber darüber kann ich in diesem Zusammenhang nicht eigens handeln.
Es ist hier nicht der Ort, um die Probleme bischöflicher Kollegialität, der Bischofskonferenzen, der Bischofssynode sowie die Funktion des Kardinalkollegiums usw. noch eingehender zu erörtern. Erzbischof G. Benelli hat 1973 mit Recht darauf hingewiesen, wie viel unter dem Pontifikat Pauls VI. seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil geschehen ist, um die Beziehungen Roms zu den Ortskirchen strukturell und institutionell zu verbessern. Darin ist auch der Lokalkirche ein angemessener Ort eingeräumt. „Die Ortskirche muss sich entwickeln, entfalten, muss wachsen und ihre Sendung erfüllen in Freiheit und Eigenverantwortung, immer aber - und dies ist mehr als eine bloße Begrenzung, sondern der Wesensgrund ihrer inneren Lebenskraft - in Gemeinschaft mit den übrigen Kirchen und mit Rom ... Einer berechtigten Dezentralisierung gibt er (der Heilige Stuhl) durchaus Raum, zumal sie dringlicher geworden ist unter dem Druck psychologischer und soziologischer Umstände." Erzbischof G. Benelli hat auch keinen Zweifel daran gelassen, dass in diesem Verhältnis noch sehr vieles verbessert und vertieft werden kann (Verbesserung der wechselseitigen Kommunikation, der gegenseitigen Konsultation usw.). Vermutlich wird eine spätere Kirchengeschichtsschreibung das Pontifikat Pauls VI. gerade unter dieser Hinsicht würdigen. Zwar hat sich in den folgenden Jahren die Einrichtung der Bischofssynode intensiviert und differenziert, sie hat aber strukturell und im praktischen Vollzug wohl noch keine wirklichen Fortschritte gemacht. Papst Franziskus müht sich sehr um eine wirkliche Verbesserung.
Es kann wohl auch im Blick auf die kollegiale Dimension der Leitung der Kirche nicht übersehen werden, dass diese Neuregelung zum größten Teil nur die Beziehungen Roms zu den Ortskirchen auf der Ebene des bischöflichen Amtes und vor allem der Nuntiaturen betrifft. Nun soll diese Art zwischenkirchlicher Beziehungen weder - soweit möglich - in ihrer theologischen Begründung noch in ihrer grundlegenden praktisch-rechtlichen Struktur bestritten werden. So vielfältig die Relationen zwischen dem Episkopat (einschließlich einzelner Bischofskonferenzen) und dem Zentrum der Weltkirche geworden sind, so notwendig ist es in Ergänzung dazu, dass in diesen Beziehungen die unverkürzte Wirklichkeit des kirchlichen Lebens und der pastoralen Situation von verschiedenen Blickpunkten her und in allen Dimensionen gegenwärtig bleibt. Dies hat Konsequenzen. Wenn Rom und auch die einzelnen Bischöfe wirklich auf das konkrete Leben der einzelnen Gemeinden hingeordnet bleiben wollen, dann sind die Beteiligung von Priestern und Laien an der Beratung der jeweiligen pastoralen Lage und ihre Mitverantwortung bei der Vorbereitung und Realisierung dieser Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen nur angemessen. Indem das Konzil in „Lumen gentium" (Art. 31, AA) den Laien auf ihre Weise und zu ihrem Teil eine Partizipation an der Sendung der Kirche und einen Anteil am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Jesu Christi zugesprochen hat, ist für ihre synodale Mitwirkung auch hier ein Anknüpfungspunkt gegeben. Das nachkonziliare System der Räte (vgl. CD 27; AA 26; PO 7) bietet eine - sicher noch in vieler Hinsicht verbesserungsfähige - Form dieser Partizipation des ganzen Gottesvolkes und auch eine neue Gestalt synodaler Elemente in der Kirchenverfassung. Mag die konkret-praktische Ausgestaltung dieser Strukturen noch viele Einzelfragen aufwerfen, so kann man nicht mehr hinter diese Prinzipien des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückgehen.
Das neue Verhältnis zwischen Universalkirche und Teilkirche, Rom und den Einzelbischöfen bzw. den Bischofskonferenzen stellt auch neue Anforderungen. Es ist eine viel stärkere Präsenz der Bischöfe, z.B. auch durch die Bischofssynoden, in Rom notwendig. Nicht wenige Bischöfe - nicht nur Kardinäle - werden auch als Mitglieder in die römischen Behörden berufen, was unter Umständen nicht nur zeitlich, sondern auch in der Vorbereitung einen erheblichen Aufwand erfordert. Dazu kommt auch die sprachliche Kompetenz, denn in sehr vielen Fällen ist Italienisch faktisch die „lingua franca" geworden. Hier hat sich sehr viel geändert. Es ist jedoch nicht leicht, diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Dies gilt noch in anderer Hinsicht. Man hat, auch als Einzelner, wenn man etwas zu sagen hat, in den römischen Gremien durchaus ein Gewicht. Ob das schon für eine Realisierung reicht, steht auf einem anderen Blatt. Es braucht für die Bischöfe persönlich und auch für die Vertretungen der Bischofskonferenzen zunächst einmal eine hohe Sachkenntnis, aber auch - besonders bei ungewohnten Vorschlägen - eine beträchtliche Zivilcourage, um eventuell neue Gedanken und Verfahrensweisen vorzuschlagen. Es ist nicht so leicht, hier ohne Starrsinn und mangelnde Sensibilität beharrlich auf notwendige Reformen aufmerksam zu machen. Ich weiß gut um eine gewisse kuriale Mentalität, die ungewohnte Wege eher vermeiden möchte. Oft weiß man aber auch in Rom, dass in verschiedener Hinsicht neue Wege gegangen werden müssen. Es braucht dann schon unverdrossenen Mut zur Nachhaltigkeit, um manche Vorschläge zu einer gründlichen Diskussion zu bringen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat uns eigentlich so viel Spielraum in den Beziehungen zwischen Rom und den Ortskirchen gebracht, dass es durchaus Chancen gibt, auch echt gehört zu werden. Ich kann das ewige Jammern über den römischen Zentralismus, den es gewiss in unangemessener Form heute noch gibt, nicht mehr hören, wenn man selbst - wo es nur eben möglich ist - nicht die Initiativen zu Reformen ergreift, die notwendig sind. Auch wenn man vielleicht mehrfach abgeschüttelt wird, so muss man hier in Geduld und Beharrlichkeit auch öfter seine eigenen Überzeugungen zu Gehör bringen. Es fehlt oft an der schon erwähnten Zivilcourage, wenn wir nicht so viel von unseren eigenen Erfahrungen, sofern sie auch mit anderen Ortskirchen kompatibel sind, zu Gehör und vielleicht auch zur Annahme bringen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat uns dafür die notwendigen Freiheiten und auch die Spielräume eröffnet, die ein stärkeres Einwirken auf das Zentrum in Rom ermöglichen. Leider fehlt hier auch sehr oft das Zusammenwirken in den einzelnen Bischofskonferenzen selbst, aber auch in den Zusammenschlüssen auf der Ebene von Sprachräumen und Kontinenten. Wir müssen in diesem Gespräch, selbstverständlich mit guten Argumenten, viel mutiger werden. Dies ist für meine Begriffe ein wichtiges Erfordernis in der Amtsführung heutiger Bischöfe.
Dies hat natürlich eine große Bedeutung für die Ernennung neuer Bischöfe. Es besteht immer wieder ein bestimmter Hang, nicht nur - was ganz selbstverständlich ist - kirchlich loyale Bischöfe zu ernennen, sondern auch Kandidaten vorzuziehen, die - wie man gerne sagt - wenig Schwierigkeiten machen, vielleicht sogar „pflegeleicht" sind. Ohne größere Selbständigkeit und ohne die geforderte Zivilcourage kann man aber die Erfordernisse eines heutigen Bischofs, von denen bisher die Rede war, nicht erfüllen. Der Reformwille, den zweifellos auch Papst Franziskus hat, muss sich besonders in dieser Hinsicht konkret bewähren. Nach meiner Erfahrung ist dies noch ein weiter Weg. Dabei geht es wirklich darum, misstrauische Mentalitäten in Rom zu verbessern. Hochmut gegenüber der Kurie ist freilich nicht am Platz, denn dort arbeiten sehr viele unter nicht einfachen Bedingungen gut, kompetent und selbstlos.
Zum Schluss kommt es mir noch auf etwas Wichtigeres an. Manchmal kommt es mir so vor, als ob - in Ergänzung und Korrektur zu solchen Gedanken - alles darauf zielen muss, im nüchternen Alltag des Lebens das Evangelium zu verkünden und den Mitchristen zu helfen, aus diesem Evangelium zu leben. Dies sind dann ganz unspektakuläre Dinge. Hier lässt sich nicht schrecklich viel berichten, aber es kommt sehr darauf an, dass man ein stiller Beter ist, die Gemeinden besucht, Nöten nicht ausweicht und Menschen anhört, auch wenn dies manchmal viel Geduld kostet. Der bischöfliche Dienst ist im Kern und im Grunde etwas, was sehr demütig macht. Man stellt sich in eine große und lange Schar von Zeugen, die nichts anders tun sollen und wollen, als das Evangelium Jesu Christi getreu weiterzugeben. Eines Tages gibt man - auf welche Weise immer - die Stafette im Ringen um den Erhalt und die Ausbreitung des Evangeliums weiter.
Einen solchen Dienst kann man angesichts der Herausforderung und der Würde nur in Furcht und Zittern (vgl. Phil 2,12; Hebr 12,21) vollziehen. Der Bischof ist sich bewusst, dass er nicht nur unter einer hohen Erwartung der Menschen, sondern auch unter dem Gericht Gottes steht, in dem auch der beste Knecht und Diener immer der Barmherzigkeit Gottes bedarf. Deshalb möchte ich gerade diese wichtige Erkenntnis zusammenfassen mit den bekannten Worten des Hl. Augustinus über den bischöflichen Dienst: „Wo mich erschreckt, was ich für euch bin, dort tröstet mich, was ich mit euch bin. Für euch nämlich bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ. Jenes ist der Name der übernommenen Pflicht, dieses der der Gnade; jenes ist Gefahr, dieses Heil."
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz