Vortrag beim Festakt des Magistrats der Stadt Fulda und des Bistums Fulda anlässlich des 1250. Todestages des Heiligen Bonifatius am 5. Juni 2004 im Schlosstheater in Fulda
I.
Die denkwürdigen Tage der lebendigen Erinnerung an den hl. Bonifatius, der vor 1250 Jahren eines gewaltsamen Todes starb, gelangen heute und besonders hier in Fulda zum Höhepunkt. In dem auch heute noch als Standardwerk anerkannten Buch „Winfrid-Bonifatius und die christliche Einigung Europas“ von Theodor Schieffer, zum Jubiläum vor 50 Jahren erschienen , kann man im abschließenden „Ausblick“ folgendes lesen: „Die eigentlichen Zentren den Bonifatianischen Tradition aber waren Fulda und Mainz, die Stätten Sturmis und Luls. Bei der aufblühenden Abtei, der Hüterin des Grabes, lag der geistige Schwerpunkt. Von ihrem ausgedehnten Besitz, von ihrer führenden Rolle in Kunst und Gelehrsamkeit, die im 9. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichen sollte, zeugen jetzt schon die reiche Urkundenüberlieferung, die Klosterbauten und der erste Dom, die Handschriftenschätze und die Verbreitung der insularen Schrift. Wir kennen auch Lul als einen besonders bildungsbeflissenen Bonifatius-Schüler; er hat sich sogar ein unsterbliches Verdienst erworben, indem er den Priester Willibald, der nach des Meisters Tode zu ihm nach Mainz kam, mit der Abfassung der Vita betraute, und erst recht, indem er die unschätzbare Briefsammlung unter seine Obhut nahm.“ Bonifatius hatte schließlich schon bald nach der Gründung des Klosters Fulda im Jahr 744 diese seine Lieblingsabtei zu seinem Alterssitz und zum Ort seines Begräbnisses ausgewählt. Nach einigem Zögern während des Leichenzuges rheinaufwärts in Utrecht und Mainz – man wollte den Heiligen festhalten und nicht weiterziehen lassen – kam der Leichnam schließlich nach Fulda.
Wenn man weiß, wie sehr eine Grabstätte und Reliquien vor Ort die Verehrung, ganz besonders in der damaligen Zeit, prägten, kann man leicht ermessen, welchen Vorrang Fulda bekommen und erhalten hat. In Mainz ist die Verbindung zu Bonifatius gewiss unbestreitbar: es ist der Ausgangspunkt und wohl auch das Zentrum seiner Mission als Bischof (722) und Erzbischof (732). Aber es finden sich keine bestimmten Spuren seines Aufenthaltes. Vieles liegt im Dunkel der Geschichte. Daran hat sich auch nichts grundlegend geändert, als Bonifatius im Jahr 746 das Bistum Mainz erhält. Die Verehrung hängt ganz entscheidend an seinem Grab und dem Ort der Verwahrung der Reliquien. Darum war auch die Verbindung von Mainz zum hl. Bonifatius lockerer. Die Verehrung war deshalb auch weniger ausgeprägt, z.B. auch in der Liturgie.
Immerhin konnte Mainz, vor allem durch den Nachfolger und Schüler des hl. Bonifatius, Lul, unter Berufung darauf, dass Bonifatius Missionserzbischof in Mainz und schließlich Bischof von Mainz war, im Jahr 780/81 Metropolitansitz werden. Daraufhin erfolgte zunehmend der rasche Ausbau des Erzbistums Mainz zu der wohl für viele Jahrhunderte größten Metropolitankirche. Immerhin hat Bischof Lul, wie soeben Th. Schieffer notierte, bald nach dem Tod seines Vorgängers die Korrespondenz des Heiligen sammeln lassen und auch durch den Priester Willibald die erste „Vita“ erstellt. Darin liegt kein geringes Verdienst gerade der Mainzer Tradition, die in dieser Hinsicht auch später sich ähnliche Verdienste erworben hat, z.B. im 16. Jahrhundert durch Nikolaus Serarius. So ist es auch angemessen und gut, wenn wir heute in Fulda und morgen in Mainz dieses Jubiläum besonders feiern, gemeinsam und mit unterschiedlichen Akzenten. Schließlich verbindet uns auch auf alte und neue Weise die Bonifatius-Route, die am 10. Juli als Wander- und Pilgerweg von Mainz nach Fulda eröffnet wird.
II.
Es ist nicht so leicht, 1250 Jahre wirklichkeitsgerecht zurückzudenken. Wir stellen uns nämlich vielleicht dieses Germanien des 8. Jahrhunderts zu wenig konkret vor. Auch wenn es ein großes Gefälle von Norden nach Süden gab, so war das Land in vielem weit entfernt von jeder Zivilisation und Kultur. Arnold Angenendt macht mit plastischen Worten immer wieder aufmerksam auf die einzigartige Situation im damaligen Frankenreich östlich des Rheins. „Es gab keine Straßen, kein Steinhaus und wohl kein einziges Buch. Und dann kommt da ein Missionar, der die Botschaft der Bibel verkündet, Kirchen und Klöster gründet – eine ungeheuere zivilisatorische Leistung, die dazu noch immens teuer gewesen ist.“
Die Franken, selbst schon aus verschiedenen Kleinstämmen gewaltsam zusammengebracht, beherrschten in ihrem Reich eine Vielzahl von ethnisch und kulturell sehr verschiedenen Völkergemeinschaften: Romanen, Burgunder, Bayern, Alemannen, Thüringer, Goten, Bretonen und auch Basken sowie Slawen. Die einzelnen Völkerschaften behielten ihre Eigenart. Jedes Volk hatte sein eigenes Recht, nur das Königsrecht galt für alle. Was außerhalb des antiken Imperiums war, darf wirklich als „barbarisch“ gelten. Die antike Kultur und Bildung hatte im Süden noch eine echte Tradition oder wenigstens Reste erhalten. Besonders in Südgallien gab es eine echte Schriftkultur und Zivilisation. Wir können uns manchmal kaum vorstellen, wie wenig kulturell vorbereitet dagegen die Gegend östlich des Rheins war. So waren die kulturellen Verschiedenheiten ganz besonders groß.
Dies brachte auch viele Schwierigkeiten für das entstehende Christentum mit sich. Im Norden und Osten, wo die antike Hochkultur überhaupt nicht ankam oder nur oberflächlich gestreift wurde, musste das Christentum selbst die Voraussetzungen schaffen, um überhaupt unter diesen Bedingungen aufgenommen und angenommen werden zu können. So ist es nicht zu verwundern, dass diese erste Aufnahme auch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau stattfand und dass darum die Christianisierung immer wieder durch kräftige heidnische Grundströmungen überlagert worden ist. Im Norden bedurfte dieses schwache Christentum vielfach der Neubelebung und Reorganisation. Im Süden gelang die Erneuerung vor allem um die Mitte des 6. Jahrhunderts rascher und nachhaltiger. Aber insgesamt ist die Christianisierung der Franken ein Prozess von längerer Dauer. Auch findet sich erst spät ein Verbot heidnischer Kulte . Es ist immer noch eine stärkere Zurückhaltung gegenüber spezifisch christlichen Normen zu finden. Bei aller religiös-kirchlichen Gesinnung blieben viele Adelige in ihrer persönlichen Lebensführung den Sitten der heidnischen Vorzeit verhaftet. So gibt es auch noch einige Zeit nach der fortschreitenden Christianisierung große Grausamkeiten, wie wir besonders aus der Frankengeschichte des Gregor von Tours erfahren können. Die ungehemmte und schrankenlose Barbarei ist auch oft nach dem Empfang der Taufe nicht zu übersehen. Diese Brutalität zeigt uns auch, wie sehr das Menschenbild wankt, und wie wenig es feste Lebens- und Rechtsordnungen gibt. Es fehlten vor allem auch die Erfahrungen, um ein größeres Herrschaftsgebiet mit seinen Konflikten führen und befrieden zu können. So wurde das eigene Geschlecht immer wieder in seiner Herrschaft dadurch bestätigt, dass man alle potenziellen und realen Rivalen tötete. Nur mühsam kann sich das frühe Recht einen Weg bahnen durch Rache und Vergeltung hindurch. Nur so kann man sich auch erklären, warum die Blutrache während weiter Teile des Mittelalters als Institution beibehalten wurde. Unter dem Einfluss der Kirche gab es freilich ab dem 8. Jahrhundert ernsthafte Fortschritte.
Ähnliches wäre auch noch für viele andere Lebensbereiche aufzuzeigen. So hatte der Mann vielfach und beinahe selbstverständlich die Möglichkeit, sich von seiner Frau zu trennen. Der Mann hatte eine geradezu fraglose Möglichkeit, ein Nebenverhältnis zu unterhalten. So gab es in hohem Maße eine Doppelmoral, die dem Mann eindeutig zusprach, was der Frau strikt untersagt war. Man darf auch nicht vergessen, dass es lange Zeit dauerte, bis besonders im Norden und im Bereich von slawischem Einfluss Menschenopfer völlig aufhörten (vgl. die Funde bei den Abodriten in Arkona auf Rügen). Es ist unter diesen Umständen auch verständlich, dass es eine große Zahl von Sklaven gab. Die Herren konnten schrankenlos über das Leben ihrer Sklaven verfügen. Die Kriegszüge brachten immer wieder verschleppte Kriegsgefangene ins Land. Ihnen ging es besonders schlecht. Manche humanitären Verbesserungen für die Sklaven, die es bereits ansatzweise in der Antike gab, wurden nicht weiter verfolgt.
In dieser Situation bedeutet die Herrschaft der Karolinger einen ungeheuren Wandel. Die 14 Generationen dieser Familie haben das historische Werden des künftigen Europa maßgebend bestimmt. Die Karolinger gehören zu den wichtigsten politischen Kräften, die dieses Europa gefördert und geprägt haben. Viele Faktoren spielen dabei eine große Rolle. Die Herrscher aus dieser karolingischen Familie hielten oft über eine längere Zeit hinweg die Führung inne. Sie haben nicht selten so lange herrschen können, wie die meisten Menschen in der damaligen Zeit lebten. Dies belief sich auf ungefähr 25 Jahre. Allein Karl der Große regierte 47 Jahre. Dieses längere Leben erlaubte natürlich ganz andere Planungen und Vorgaben für die politische Gestaltung, bot aber auch ganz andere Bildungsmöglichkeiten, sodass die Karolinger in ihren Höfen wirklich ein reges geistiges Leben entfaltet haben. So gab es Ansätze zu einer wirklichen Kultur des Abendlandes. Die Wissenschaft konnte aufblühen. Die Künste wurden gefördert. Geistliche Schulen und Klosterschulen wurden in größerer Zahl eingerichtet. Die „Karolingische Renaissance“ verbesserte das durchaus bekannte, aber heruntergekommene Latein. Dies war eine wesentliche Voraussetzung z.B. für den Erfolg der Liturgiereform, für die Erneuerung der Bibelstudien und für jede Form von Leitung und Führung. Es gab schließlich auch ein Mittel zur internationalen Verständigung. Dies alles wiederum ermöglichte die Schreib- und Buchkunst, wie sie besonders auch in Fulda zu hoher Blüte kam.
Man muss sich dieser Entwicklung bewusst bleiben, um die Möglichkeiten und den Erfolg der angelsächsischen Mission im Frankenreich zu verstehen. Die karolingischen Herrscher suchten geradezu nach einer Hilfe, um unter Einsatz von Kultur und Bildung eine größere Einheit der weit verzweigten und isolierten Stämme zu erreichen, aber auch, um angesichts der skizzierten sittlichen Zustände Humanisierungsprozesse einzuleiten. Es ist leicht verständlich, dass man sich der Religion des Christentums bediente, um diese Ziele zu erreichen, auch wenn dies ein langer Prozess wurde. Auf der anderen Seite wurde es so auch möglich, dass die Kirche in der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung minimale Voraussetzungen antraf, um in ihrem Sinn überhaupt wirken zu können. Insofern ist der Anfang zum Gelingen Europas eine gute Fügung der Interessen und Ziele sowohl der Karolinger als auch des kirchlichen Christentums. Vielleicht haben wir zu wenig auf das optimale Zusammentreffen solcher Voraussetzungen geachtet, damit das Christentum auch eine wirklich geschichtsfähige Kraft werden konnte. Es genügt ja nicht, bloß bestimmte neutestamentliche Normen zu kennen und zu zitieren. Es ist notwendig, sie auch gesellschaftlich und politisch realisieren zu können. Dies ist nicht zu jeder Zeit und in gleicher Weise möglich. Dies kann uns ein Blick in die damaligen Anfänge Europas lehren. Bei seinem ersten Aufenthalt auf dem europäischen Festland (716) hatte Bonifatius diese Zusammenhänge wohl noch nicht genügend verstehen können und musste bei der ohnehin sehr unglücklichen Situation in Friesland im Herbst desselben Jahres ergebnislos wieder in seine Heimat zurückkehren. Als er zwei Jahre später wieder aufbrach und endgültig Abschied nahm von seiner Heimat, hatte er wohl die „Strategie“ einer wirksamen christlichen Missionierung von allen Seiten her tiefer durchdacht.
III.
Die Angelsachsen, die von Rom aus missioniert wurden, wollten nicht zuletzt auch als Dank einige Generationen später den Kontinent für das Christentum und die Kirche gewinnen. Außerdem wollten sie ihren friesischen und sächsischen Verwandten das Evangelium bringen. Die missionarische Aktivität bekam dabei zwei unterschiedliche Akzente: im Frankenreich selbst ging es stärker um die Kirchenreform, in den nordöstlichen Regionen um die Erstverkündigung des Glaubens. Diese Christianisierung der Germanenvölker auf dem Kontinent ist zuerst von Willibrord begonnen worden, indem er der Eroberung der Franken folgte. Dies ist auch für Bonifatius ein wichtiges Element, dass er nun Kontakte und Kooperation mit den führenden politischen Kräften, konkret den Karolingern, suchte. Willibrord hatte nun auch schon ein zweites Element dieser neuen angelsächsischen Mission, das Bonifatius ungleich stärker einsetzte, realisiert, nämlich die Beauftragung durch den Papst. Dies waren die beiden neuen Elemente der Christianisierung: die Bindung an die Herrscher und die Rom-Bindung. Beides war wohl eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg. Ohne das Vertrauen und die Missionsvollmacht durch den Papst schien diese Mission wenig fruchtbar zu werden. Ähnliches galt aber auch für die Bindung an die Führenden im Lande. Die Rückversicherung bei den Herrschern erwies sich als geglückte Planung. Mit der Ernennung vor allem zum Erzbischof im Jahr 732 hat der Papst einen entscheidenden Schritt getan von einem Missionskonzept zum Auftrag der Kirchenreform und Kirchenorganisation im rechtsrheinischen Gebiet.
Bonifatius nutzte vor allem auch die Schaffung eines Großreiches, denn nur so war es auf die Dauer möglich, die Stammesgrenzen zu überschreiten und die wenigstens potenziell universale Geltung des Evangeliums und des christlichen Menschenbildes zu verkündigen. Die kulturelle Blüte unter den Karolingern und diese umfassendere Perspektive halfen, den Versuch zu wagen, ein Christentum einzupflanzen, das auf einer höheren Ebene als bisher angesiedelt werden konnte. Es scheint mir sehr wichtig zu sehen, dass dies ein Erfordernis für eine bessere Realisierung der kirchlichen Sendung war und nicht primär nur aus der Anlehnung an die Mächtigen zu erklären ist. Damit soll freilich nicht geleugnet werden, dass diese Kooperation mit den Herrschern in deren Augen primär auf die Festigung ihrer Herrschaft zielte. Eine Instrumentalisierung der Kirche konnte so auf die Dauer wohl kaum vermieden werden.
Bonifatius hat jedoch nie einfach nur das römisch-angelsächsische Christentum importiert. Es ist ganz erstaunlich, in welchem Maß er sich bei aller elementaren Konfrontation mit dem einheimischen Heidentum und seiner religiösen Welt doch auch sehr stark auf die Situation vor Ort einließ . Aus den Quellen kann man auch erfahren, dass sich Bonifatius den damals in Hessen üblichen Dialekt aneignete . Auch heute noch ist diese Kenntnis einer zunächst fremden Sprache eine wichtige Voraussetzung für alle Missionierung. Außerdem besaß Bonifatius, der immer Mönch war und blieb, - von den Herrschern her gesehen – in der Gründung von Klöstern eine größere Freiheit als in der hierarchischen Kirchenorganisation, wenn freilich auch auf die Klöster später mehr Einfluss ausgeübt werden konnte. Die Klöster wurden jedenfalls zu wichtigen Zentren der Mission und der Inkulturation, ja auch – wie noch zu zeigen sein wird – der sozialen Veränderung durch den christlichen Glauben. Man denke hier besonders auch an die Gründung der Abtei Fulda (744) als zentrale Stätte des Gebetes und der Pflege von Bildung und Kultur. Im Übrigen hatte Bonifatius auch eine ausgewogene Strategie der Berufung von Mitarbeitern, indem er einerseits einige angelsächsische Landsleute gewinnen konnte, die eine gewisse Unabhängigkeit mitbrachten, und die ihm selbst loyal verbunden waren, und andererseits so auch eher die Möglichkeit gewann, einheimische Kräfte für kommende Aufgaben vorzubereiten und zu schulen. So hatte Bonifatius im Blick auf die Kirchenreform in den Jahren nach 742 große Erfolge, einschließlich einer Reihe von Reformsynoden. Ziel der Reform war eine straffe Organisation der Kirche, das Zurückdrängen heidnischer Praktiken und eine intensivere geistliche Orientierung der Priester. Gewiss, vieles blieb nur Programm. Die innerkirchliche Opposition war stark. Besonders die fränkischen Adelsbischöfe sperrten sich gegen die notwendige Erneuerung. Die Karolinger fanden eine Grenze in ihrer Unterstützung des Bonifatius, wo ihre eigene Machtstellung nicht gefestigt war. Es gelang Bonifatius im Übrigen nur sehr schwer, die Bischofssitze von ungeeigneten Inhabern zu befreien. Wie lange brauchte er, um schließlich im Falle von Mainz den Bischof abzusetzen, selbst wenn er wie Gelibib des Mordes überführt war. Nach dem Höhepunkt der Reformerfolge mit dem Concilium Germanicum (742) und anderen Reformsynoden (wie z.B. die Gesamtfränkische Synode 745) sowie der Gründung des Klosters Fulda war der Höhepunkt der Kirchenerneuerung bald überschritten.
Es folgen nun eher verschiedene Misserfolge, wenn man sie so nennen kann. Die Franken gewinnen einen eigenen Zugang zum Papst und halten Korrespondenz mit ihm, ohne dass Bonifatius der Mittler wäre. An den epochalen Ereignissen, die mit dem Jahre 750 einsetzten , und zu denen er die Voraussetzungen geschaffen hatte, war er selber kaum noch aktiv beteiligt. Pippin wird ohne Beteiligung des Bonifatius durch fränkische Bischöfe gesalbt. Er drängt aus Gründen politischer Taktik Bonifatius in den Hintergrund. Bonifatius war immer mehr angefeindet worden. In gewisser Weise hat ihn dies selbst immer unbeugsamer gemacht. Er wurde auch immer stärker resignativ und sah sich erfolglos und gescheitert. Im Grunde hat er sich beinahe selbst überlebt. Die Karolinger brauchten gleichsam keine angelsächsische Aufsicht und Kontrolle mehr. Bonifatius wurde als „Fremder“ empfunden. Die Franken hatten selbst den Weg zum Papst gefunden und schienen den alt gewordenen Mittler und Legaten, der bisher unentbehrlich war, nicht mehr zu brauchen. Zu Rom war das Verhältnis auch nicht mehr so uneingeschränkt positiv. Diese letzte Wegstrecke des Bonifatius hat etwas von einer gewissen Tragik an sich. Er war der große Wegbereiter, der die fränkische Kirche zu neuem Leben brachte. Jetzt schien er seine Dienste abgeleistet zu haben. In gewisser Weise ging die Geschichte über ihn hinweg, aber er hat eben auch eine große Zielsetzung dieser Zeit erfüllt.
In der Literatur wird immer wieder das Stichwort „starrsinnig“ für das Verhalten des alten Bonifatius gebraucht. Mag sein, dass es Spuren einer fragwürdigen Unbeirrbarkeit gerade auch in politischen Fragen gab, aber ich bin mir nicht sicher, ob „starrsinnig“ das richtige Wort für die Unbeugsamkeit ist. Jedenfalls – und daran besteht kein Zweifel – hat Bonifatius viel mehr erreicht, als er sich selbst klar war und als er damals wissen konnte. Dies sollte wenigstens in einer Richtung und an einigen Beispielen genauer aufgezeigt werden.
IV.
Gerade angesichts der resignativen Grundstimmung des alternden Bonifatius wird es gut sein, auf die Folgen des Religionswechsels und die Veränderungen in sozialer Hinsicht durch die Christianisierung zu blicken. Natürlich war dies nicht das Verdienst des Bonifatius allein. Während auf weite Strecken hin in der frühen Mission ganze Felder im Sozialbereich vom Christentum unberührt blieben, vor allem im Blick auf die Ehe, das Rechtswesen und die Sklaverei, hat das Christentum, auch wenn es ein langer und zögerlicher Prozess war, in diesem Bereich sehr viel mehr verändert. Zunächst einmal hat das Versprechen konkreter Hilfe im Alltag die Bereitschaft zum Glaubenswechsel gefördert. Gewiss gab es hier manche religiös fragwürdige Erwartungen an die bloße Nützlichkeit eines Religionswechsels im irdischen Sinn. Vieles existierte noch für lange Zeit nebeneinander her, so z.B. heidnischer Opferdienst und heilige Eucharistie. Das Christentum hielt sich auch da und dort mit seinen Forderungen, auch auf den fränkischen Synoden, eher etwas zurück, z.B. auch im Blick auf den Ausschluss der Ehescheidung. In der Mitte des Religionswechsels steht die Taufe mit der Loslösung vom Teufel.
Für den Erfolg der Christianisierung war natürlich vor allem auch die Veränderung der neuen Christen in ihrem Handeln wichtig. Dies ging nicht von heute auf morgen. Die Menschen mussten erst in die neue Tradition hineinwachsen. „Eine solche Entwicklung brauchte Zeit und Geduld, ist doch die Christianisierung ein Prozess ohne Ende, daraus ergab sich zwangsläufig für einen gewissen Zeitraum das Neben- und Ineinander von heidnischen und christlichen Formen und Überzeugungen, also das typische Bild einer Mischkultur.“ Man kann dies z.B. gut in der schon genannten Verwandlung der Bestattungskultur sehen. Jedenfalls ist es wichtig, dass der Mentalitätswandel durch die Bekehrung das soziale Verhalten beeinflusste, und der neue Glaube einen entscheidenden Einfluss hatte auf die Veränderung der Sozialkultur.
Die Forschungen der letzten Jahrzehnte und Jahre machten nun einige Bereiche offenkundig, in denen tatsächlich solche sozialen Veränderungen in einschneidender Weise erfolgten und eine große Wirkung erzeugten. Dies geschieht vor allem in der Fürsorge und in der Bekämpfung der Armut. In der Antike hielt man dies weitgehend für ein unabänderliches Schicksal, sodass auch der Staat in der Bekämpfung keine Verpflichtung erblickt hatte. Dies hat sich im Christentum radikal verändert. Dies gilt im Blick auf die konkrete Hilfestellung für Bedürftige, Arme und Kranke . „In der Armenpflege zeigte sich daher in herausragender Weise die lebensbewahrende Verantwortung der Kirche für ihre Glieder. Entsprechendes Handeln war für die Missionare konstitutiver Ausdruck ihres Glaubens und damit selbstverständlich, trat ihnen doch gemäß der Botschaft des Evangeliums in den Armen Christus selbst gegenüber. Armenfürsorge, die sich nicht so sehr auf die Flächen deckende Beseitigung eines sozialen Missstandes als vielmehr auf die Linderung individueller Not konzentrierte, war daher der Prüfstein vorbildlichen christlichen Handelns. Das Ausgeliefertsein der Gesellschaft an Naturereignisse, Krankheit und Tod mit den allgegenwärtigen Folgen, nämlich Bedürftigkeit und Armut, wurde demnach von den Missionaren nicht als Schicksalsschlag akzeptiert, sondern vom Beginn ihres Auftretens an als Appell an ihre Barmherzigkeit aufgefasst. Die Möglichkeit dazu hatten sie durch die päpstliche Vorschrift, ein Viertel ihrer Einkünfte für die Bedürftige zu verwenden, womit übrigens auf längere Sicht der Aufbau einer kirchlichen Armenpflege intendiert war.“ Man darf jedoch nicht nur die materiellen Leistungen betrachten, sondern auch die sprachschöpferische Aneignung dieser neuen Mentalität: So ist es z.B. ein langer Prozess, um das Wort „Barmherzigkeit“ zu finden und zu prägen.
Mit der karitativen und medizinischen Versorgung, die nicht zu übersehen ist, ging vor allem in den Klöstern eine geistliche Betreuung einher. Es gab z.B. damals in großen Klöstern eine Pflege der Lepra-Kranken. Allmählich bildet sich die institutionelle Krankenseelsorge in eigenen Häusern heraus, die lange Zeit zwischen Hospiz, Armenheim und Krankenhaus angesiedelt war. Wir haben schon davon gesprochen, dass es zwar nicht so rasch eine Abschaffung der Sklaverei gab, sie aber in vieler Hinsicht erheblich gemildert wurde. Ähnliches gilt, wie schon erwähnt, für die Gefangenen. Die Fürsorge für die Gefangenen und ihr Loskauf lag weitgehend auf den Schultern der Kirche. Überhaupt wurde das neue Verhältnis zum Nächsten ein zentraler Aspekt im Verständnis von Gesellschaft und Kirche. Die Wertschätzung der menschlichen Existenz und der Schutz des Lebens überhaupt dürfen hier nicht vergessen werden. „So führte die Kirche einen intensiven Kampf gegen Abtreibung und Kindestötung, von Bonifatius einmal als schreckliches Verbrechen und Mord bezeichnet. Nach germanischer Rechtsauffassung war ein noch ungeborenes oder gerade geborenes Kind ausschließliches Eigentum der Gemeinschaft, die über sein Leben verfügen konnte. Auf den Einfluss der Kirche ist es zurückzuführen, wenn in den revidierten Volksrechten des 8. Jahrhunderts die Abtreibung unter Strafe gestellt wurde.“ Nicht zuletzt muss hier auch wiederum die allmähliche Durchsetzung des christlichen Eheverständnisses genannt werden. „Gerade hier trug die Kirche zur rechtlichen Gleichordnung von Mann und Frau ebenso wie zu deren besserem Rechtsschutz bei... Generell gilt jedenfalls, dass die aus den germanischen Volksrechten bekannte patriarchalische Struktur durch das christliche Personenverständnis abgeschwächt wurde. Zumindest in Ansätzen ist in der Überlieferung gegenüber den paganen Sozialformen eine Verbesserung der Stellung der Frau, die Betonung der lebenslangen Treue in der Ehe und der Schutz der Kinder zu beobachten, was sicher einer Erhöhung der Lebensqualität der Menschen gleichkam und sich auf den Erfolg der Missionen auswirkte.“
Viele Forschungen haben auch aufgezeigt, dass die Kirche eine viel größere Sorge für die Bildung trug. Dies erklärt sich gewiss zu einem Teil auch aus dem Interesse, besonders die Führungsschichten offen auf die Christianisierung hin zu erziehen. Denn es besteht kein Zweifel, dass man sie für eine Zuwendung zum Umgang mit der Bibel und überhaupt mit einer Buchreligion vorbereiten wollte. Die einfache Bevölkerung ist gewiss nicht unmittelbar davon berührt worden. Aber es ist auch zu erkennen, dass dieses Bildungsbewusstsein sich im Lauf der Zeit auch auf diese Schichten übertrug.
Weniger die schriftlichen Quellen als vielmehr die Archäologie zeigt uns, dass das Christentum nun auch im Land verbreitet wurde, und dass größere Dörfer eine Kirche besaßen. Nicht zuletzt dadurch wurde auch das Dorf als Zentrum des ganzen Gemeindelebens geschaffen. „Was hier ohne viel Geräusch und Prunk, schier wie zufällig und planlos sich vollzog, gehörte zu den größten Leistungen des Mittelalters; es hat alle Veränderungen überdauert, lebenskräftig besteht es fort bis auf den heutigen Tag.“ Dies alles hat der Kirche mit ihrer Verkündigung und Seelsorge eine neue Wirksamkeit verliehen.
Dies soll nicht im Sinne eines Triumphalismus, also eines glorreichen Sieges des Christentums über das Heidentum verstanden werden. Aber es wäre auch ungerecht und unredlich, diese sozialen Veränderungen durch die Christianisierung zu verschweigen. Es ist gut, dass die jüngere Forschung mit ihren sozialgeschichtlichen Akzentuierungen diesen Wandel überzeugend herausgearbeitet hat. Es braucht auch nicht geleugnet zu werden, dass es in diesem langwierigen Prozess viele Verzögerungen, Widersprüche und Rückfälle gegeben hat. Aber es wäre auch völlig unangemessen, wenn man diesen Beitrag des Frühmittelalters zum Werden und zu den Grundlagen Europas zu sehr hintanstellen würde. Darum sagt L.E. von Padberg abschließend und zusammenfassend: „Das Veränderungspotenzial der Christianisierung ist insgesamt als recht umfassend anzusehen. Die Quellen berichten davon nur in Ansätzen, weil ihren Autoren der Vollzug der Mission wichtiger war als die Reaktionen oder gar die Motive der Bevölkerung. Gleichwohl ist der allmähliche Prozess der Anpassung an die neuen Deutungsschemata nachvollziehbar zu erkennen. In der Übergangsepoche wirkten jedenfalls die gemeinschaftsstiftende Kraft des Glaubens und die Maßnahmen zur Erhöhung der Lebensqualität werbend, sodass sich im Laufe von Generationen selbst tiefer sitzende Vorstellungen veränderten.“
V.
Diese Entwicklung hat wie viele geschichtliche Erscheinungen auch in der Kirche ihre Sonnen-, aber auch ihre Nachtseiten. Bei der irdischen Verwirklichung des Evangeliums gibt es fast immer Ambivalenzen. Das Ringen zwischen Wesen und Unwesen muss immer wieder neu entschieden werden. Auch deshalb ist es wichtig, an der „ecclesia semper reformanda“ festzuhalten. Dies gilt gewiss auch für die Kirche im Frühmittelalter und besonders im Zusammenhang der Christianisierung im Frankenreich. Es gibt hier sicher auch Verflechtungen, die manchmal erst über eine längere Zeit in ihren Fernwirkungen offenkundig wurden. Dabei denke ich an eine potenzielle und schließlich auch reale Dominanz der Herrscher gegenüber der Kirche und an einen immer stärkeren Zugriff der Politik auf die Bischofsernennungen. Willibrord und besonders Bonifatius haben mit der Schaffung der „romverbundenen Landeskirche“ einen Kompromiss im guten Sinne des Wortes gefunden. Aber auf jeden Fall haben die angelsächsischen Missionare eine völkische Kirche aufgebrochen, weil alle Menschen und Völker vor und für Gott denselben Wert und die selbe Würde haben. So hat Bonifatius die fränkische Kirche zur Gemeinschaft aller Christen geöffnet. Dies war in seiner Situation nur dadurch möglich, dass er sie auf Rom und den Papst hin orientiert hat. So hat er die Grundlagen für das fränkische Reich Karls des Großen mitgeschaffen, das völkerübergreifend war. Im Übrigen hat Bonifatius die Problematik einer zu engen Symbiose von Religion und Politik durchaus gesehen. Er hat in den Briefen an die Päpste hier auch durchaus Zweifel und Bedenken geäußert. Aber zu seiner Zeit sah er keine Alternative.
Unter diesen Umständen greift auch eine nationale und erst recht eine nationalliberale Perspektive in der Beurteilung des Bonifatius zu kurz. Eine gewisse Geschichtsschreibung im nationalliberalen Zeitalter – leider ist auch ein Strang protestantischer Kirchengeschichtsschreibung nicht ganz davon frei – hat in Bonifatius im abschätzigen Sinne einen „Römling“ gesehen, der die „deutsche Kirche“ an Rom ausgeliefert habe. „Romhörigkeit“ ist die etwas mildere Variante. Untergründig und abgemildert spielt auch heute manchmal dieser Tadel noch eine Rolle. Es ist aber auch keine Ruhmestat, wenn man in ultramontaner Manier von katholischer Seite aus, vor allem im l9. Jahrhundert, Bonifatius apologetisch in einer problematischen Weise als „Apostel der Deutschen“ herausgestellt hat, um den Vorwurf zurückzuweisen, die katholische Kirche sei national immer unzuverlässig gewesen und habe das Deutschtum zu wenig gefördert. Ich glaube, dass man heute mit diesen Vorwürfen auch aufgrund der historischen Forschungen gelassener umgehen kann. Es ist offenbar auf keiner Seite einfach, einer nationalistischen Versuchung ganz zu entgehen. „Apostel der Deutschen“ ist freilich ein Titel der ansatzweise schon nach der Jahrtausendwende aufkommt und im 16. Jahrhundert wieder eine große Rolle spielt. Man braucht den Titel deswegen nicht zu verleugnen. Bei unseren nordwestlichen Nachbarländern spricht man im Blick auf den hl. Willibrord unbefangen vom „Apostel der Friesen“, vom „Apostel der Niederlande“ oder heute sogar – gewiss zu sehr verfremdet – vom Apostel der Benelux-Länder. Aber es ist offenbar immer noch eine nicht genügend gestellte und schon gar nicht gelöste ökumenische Aufgabe, die für alle christlichen Kirchen Europas gemeinsame Bedeutung des Bonifatius und der vergleichbaren Missionare gebührend herauszustellen. Vielleicht hilft das Jubiläum zu diesem eigentlich schon längst fälligen Schritt.
Ungeachtet einer differenzierten Beurteilung und auch dieser nüchternen Sicht interner Gefahren des eingeschlagenen Weges ist es aber notwendig, die überaus positiven Seiten in der Christianisierung Europas hervorzuheben. Es scheint mir auch notwendig zu sein, diese humanisierenden Wirkungen und sozialen Veränderungen stärker herauszustellen, denn die frühere Beschäftigung mit Bonifatius, so segensreich und fruchtbar sie war, hat immer auch die Gefahr nicht ganz vermeiden können, dass eben eine biographische Grundorientierung individualistische Züge bekommen kann. Dies ist aber den großen Gestalten des Frühmittelalters wenig angemessen, „die nicht dank schöpferischer Originalität, sondern als Repräsentanten, als Verdichtungen sittlicher Mächte zu geschichtlicher Wirkkraft aufgestiegen sind – und kaum ein Beispiel ist für diese Einsicht so überzeugend wie Bonifatius!“
VI.
Durch alle Verwandlungen und Brüche hindurch zehren wir immer noch von dem, was in jener Zeit gegründet worden ist. Hier darf man gewiss nicht nur auf Bonifatius allein schauen. „Die Ordnung, die er mitgeschaffen, enthält die Keime zu späterer Entfaltung oder doch zu einem kontinuierlichen Werden in Stoß und Gegenstoß, aber bei aller organisch-genetischen Fortentwicklung setzt bald ein neuer Abschnitt mit neuen Kräften und neuen Ideen ein.“ Es gibt eben auch im Fortriss der Zeit und der Geschichte epochemachende Einschnitte und so etwas wie bleibende Gründungsakte, auch wenn sie nicht so spektakulär in Erscheinung treten. Es ist wirklich ein Anfang, der gründet, nicht nur ein Beginn.
Dies gilt vor allem auch in ethischer und religiöser Hinsicht. Darum sind die in den letzten Jahrzehnten für Bonifatius und seine Zeit öfter verwendeten Worte „Grundlegung“, „Vorläufer“ und „Baumeister“ nicht von der Hand zu weisen. Vieles von diesen Anfängen ist in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten vertieft und erweitert worden. So zehren wir heute noch von den Auswirkungen des Mentalitätswandels und der sozialen Veränderungen, die der Christianisierungsprozess ausgelöst hat, auch wenn er immer wieder auch Einbußen und Rückfälle erleiden musste, ja nie einfach vollendet sein kann. Vieles ist dabei so sehr als Textur und Matrix in die bewegte Geschichte und ihre oft verborgenen Tiefenstrukturen eingegangen, dass diese neugewonnenen Mentalitäten über Jahrhunderte wenigstens im Sinne eines Hauptstromes das Verhalten vieler Menschen – oft unter anderen Begriffen und Etiketten – mitbestimmt haben. Es gibt ja auch immer wieder eine Renaissance des Christlichen in recht verschiedener Gestalt, dies gilt nicht zuletzt für den Humanismus des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, der ja viele Motive aus dem Erbe von Glaube und Kirche in sich aufgenommen hat. Wie wir heute sehen, gilt dies auch für nicht wenige Teile der Aufklärung und des Deutschen Idealismus. Auch in Zeiten einer wachsenden Säkularisierung gibt es kulturelle und ethische Standards, die ihre Herkunft aus der Geschichte und Wirkung des christlichen Glaubens nicht verleugnen können, auch und gerade dann, wenn die erkennbare Herkunft und das Bewusstsein davon schwächer und blaß geworden sind. Es gibt eben Dinge, die man - wenigstens in den hochzivilisierten europäischen Ländern - gewöhnlich nicht tut. So wären auch die säkularen Formen der Wohltätigkeit – vom Roten Kreuz bis zu vielen heutigen Stiftungen – letztlich nicht möglich ohne diesen Wurzelgrund. Nicht selten muss man diese Herkunft erst wieder identifizieren.
Dies darf jedoch nicht zu einer falschen Vorstellung führen. Die überkommenen religiösen und sittlichen Maßstäbe und Überzeugungen sind kein selbstverständliches Kapital, das gewissermaßen endlos Gewinne erwirtschaftet. Es kann aufgezehrt werden. Und es wird schwächer, wenn der lebendige Grund für diese Lebenswerte und dieses Ethos nicht mehr gepflegt wird. Zu dieser „Pflege“ gehört das Ensemble der gottesdienstlichen Verehrung, der religiösen Überzeugungen und der christlichen Lebenspraxis. Die Imprägnierung, die davon historisch ausgegangen ist, kann eben unwirksam und wie ausgewaschen werden. Ich bin überzeugt, dass wir heute – hier wäre ein Rückblick auf Friedrich Nietzsche lehrreich – mehr und mehr spüren, welche Folgen dieser moderne Verdunstungsprozess des christlichen Glaubens nach und nach hat. So ist es kein Wunder, dass viele Erkenntnisse und Wahrheiten des christlichen Glaubens fremd geworden sind. Es gibt manchmal Züge eines nachchristlichen Neuheidentums, wie man es sich kaum nochmals vorstellen konnte. Es gibt aber auch eine Wiederkehr des Religiösen in einer dumpfen und manchmal geradezu irrationalen Form. Das Christentum hatte, nicht zuletzt auch durch die Art ihrer Liturgie und ihrer Theologie, aber auch das Gewicht der sittlichen Tat, eine innere Rationalität behalten und eine soziale Kontrolle religiöser Phänomene hervorgebracht, wie sie andere Religionen kaum kennen. Diese Entwicklung ist aber kein Naturereignis, sondern es bedarf dazu einiger geistiger und ethischer Voraussetzungen. Denn diese Überzeugungen bleiben nur lebendig in einer dazugehörigen „funktionierenden“ Lebenswelt. Bei aller Imprägnierung unserer Kultur durch diesen Christianisierungsprozess können die gewonnenen Mentalitäten und sozialen Veränderungen in ihrer motivierenden Kraft auch zerfallen, wenn sie nicht – wenigstens auf die Dauer – durch eine kontinuierliche Lebenspraxis gestützt werden.
Es ist hier nicht möglich, aber auch nicht notwendig, dafür Belege aus allen Lebensbereichen zu erbringen, einschließlich der Kunst und der Politik unserer Tage. Aber alle Diskussionen über den fehlenden Wertekonsens und seinen immer kleiner werdenden Nenner haben natürlich im Schwund dieser gemeinsamen kulturellen Überzeugungen eine Ursache. Ich darf nur nochmals auf die Auseinandersetzung über die Grundlagen des neuen Europa hinweisen, die bei der demnächst wohl endgültigen Gestaltung einer europäischen Verfassung jedem ganz deutlich zum Bewusstsein kommt.
VII.
Darum kann man kein Bonifatius-Jubiläum begehen, ohne sich genauer zu fragen, was nun gleichsam heute als Kairos fällig ist. Ich kann dies hier nur noch andeuten. Es scheint mir unabweisbar zu sein, dass wir die elementare missionarische Dimension der christlichen Glaubens wieder neu entdecken müssen. Dafür gibt es in der Epoche der frühmittelalterlichen Christianisierung wenigstens Anstöße. Dazu gehört zuerst ein radikales Ergriffensein vom Evangelium Jesu Christi und den von ihm her vermittelten religiösen, anthropologischen und ethischen Grundüberzeugungen. Dazu gehört der rational aufhellbare Glaube, dass Gott das Heil aller Menschen will, dass dieses Heil in Jesu Christi Leben und Sterben für alle Menschen manifest geworden ist und geradezu nach einer beständigen Mitteilung ruft. Ohne eine leidenschaftliche Verwurzelung in diesem Glauben und besonders in der Universalität des Heils für alle Menschen kann es keine Mission geben. Hier liegt für Bonifatius das Grundelement für die berühmte „Peregrinatio“ der angelsächsischen Missionare. Eine solche grundlegende Sendung gehört aber zu jedem Christsein. Gerade darum gibt es eben auch Kirche. Besonders eindrucksvoll ist hier der Schluss des Matthäus-Evangeliums, mit dem der Leser und Hörer in die künftige Geschichte der Kirche hinein entlassen wird: „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 18-20) Man beachte in diesen Versen die fünffache Wiederholung des kleinen Wortes „alle“ und „alles“: alle Macht, alle Völker, alle Menschen, alles zu befolgen, alle Tage. Seit Jesus Christus, über Raum und Zeit erhaben, die Herrschaft Gottes vom Vater über die Welt und die Geschichte übernommen hat, ist der Auftrag zu dieser Sendung das Herzstück des kirchlichen Lebens und Wirkens. Darum sagt der Auferstandene beim endgültigen Abschied von dieser Welt: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird, und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde.“ (Apg. 1,8) Und die Jünger sowie mit ihnen auch die Christen von heute haben diesen verheißenen Geist Gottes zur Sendung und zum Zeugnis in alle Welt wirklich erhalten.
Unzählige Jünger sind wirklich in alle Welt hinausgezogen, in alle Erdteile. Sie haben das Evangelium unermüdlich in allen Sprachen und Kulturen verkündet. Sie haben sich vorwiegend um das ewige Heil des Menschen gekümmert, aber auch das irdische Wohl der Menschen war den Glaubensboten nicht gleichgültig. Darum trugen sie auch Sorge für die Beseitigung von Unwissenheit durch Erziehung, Bildung und Schule, nicht weniger für die Heilung von Krankheiten durch Krankenpflege und Medizin sowie für die Linderung von Hunger und Elend jeglicher Art. In diese Reihe gehören auch – wie viele vorher und nachher – Bonifatius sowie seine Gefolgschaft, die ja aus Frauen und Männern bestand und deren Spuren überall noch in unserer Heimat zu finden sind. Ich nenne nur die heilige Lioba und die heilige Walburga. Der große Adolf von Harnack hat schon vor mehr als 100 Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass die Ausbreitung des Christentums in frühester Zeit nicht in erster Linie durch die Amtsträger erfolgte – trotz der Bedeutung der Missionare, Wanderprediger und Wanderbischöfe -, sondern vor allem durch das lebendige Zeugnis der gewöhnlichen Christen, der Laien, besonders der Kaufleute und Soldaten, die jeweils an ihrer Stelle andere für den christlichen Glauben gewinnen konnten. Um diesen Ansatz viel radikaler wieder für die Kirche und ihre Christen von heute zurückzugewinnen, bedarf es aller Anstrengungen. Daran müssen wir auf allen Ebenen mit großer Entschiedenheit weiterbauen. Sonst zerfällt unser christlicher Glaube ganz. Es braucht einen fundamentalen neuen missionarischen Elan.
Der alte Bonifatius ist trotz mancher Enttäuschung in Gesellschaft und Politik, vielleicht gerade wegen ihr, am Ende seines Lebens nochmals in die Fremde hinausgezogen. Dies scheint mir ein tiefes Sinnbild für sein ganzes Leben und Wirken zu sein. Gewiss hat er gerade auch nach seinem Tod eine so große Bedeutung erhalten. Die Heiligenverehrung und der Märtyrerkult haben entscheidend dazu beigetragen. Heute wissen wir freilich auch, wie wichtig dabei die Verehrung in seiner angelsächsischen Heimat war, zu der er immer Verbindung hatte. Vielleicht hat man am Ursprung der Mission des hl. Bonifatius und seiner Gefährten den letzten Grund und das Geheimnis dieses Lebens besonders gut erkannt. Denn Erzbischof Cuthbercht (Gutbertus) von Canterbury schreibt wenige Wochen nach dem Märtyrertod des Bonifatius vom 5. Juni 754 an den Mainzer Bischof Lul, Schüler und Nachfolger des Heiligen, Worte, die ein wahres Vermächtnis sind: „An Orten, die vor ihm nie jemand zu betreten wagte, hat er das Evangelium verkündet... Deswegen verehren wir ihn.“
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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