Wir werden durch die vielen Flüchtlinge, die auf mannigfachen Wegen zu uns kommen, elementar herausgefordert. Heute lesen wir in den Zeitungen, dass in Italien allein gestern 2.700 Flüchtlinge, die in Schlauchbooten die Küste zu erreichen versuchten, gerettet worden sind, darunter auch von einem deutschen Marineschiff. Die Menschen kommen heute vor allem aus den Krisenregionen der Welt.
Flüchtlinge und Heimatvertriebene gab es schon von früh in der Geschichte der Menschheit. Auch ein Blick in die Bibel bestätigt dies. Bereits der Vater des Glaubens für die drei großen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islam - Abraham - war ein Flüchtling. Wegen einer Hungersnot versuchte er, in Ägypten zu überleben (vgl. Gen 12,10). Seine Nachfahren wurden in Ägypten ausgebeutet und unterdrückt. Der Auszug aus Ägypten („Exodus") zeigt, dass Gott die Flüchtlinge schützt, begleitet und sich mit ihnen identifiziert. Das Volk Israel erinnert in seinem wohl wichtigsten Glaubensbekenntnis an die Erfahrungen von Flucht. Dort heißt es: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer..., die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis" (Dtn 26,5-7). Im Neuen Testament berichtet das Matthäus-Evangelium von der Flucht Jesu nach Ägypten (vgl. Mt 2,13ff.). Jesu Anhänger wurden in den ersten Jahrhunderten verfolgt, gefoltert und getötet (vgl. schon Apg 8,1). Die ersten Synoden befassten sich ausführlich mit Flüchtlingsfragen und schufen die Grundlage dafür, dass die Kirchen jahrhundertelang als Orte des Asyls galten, aus denen kein Flüchtling gewaltsam entfernt werden durfte. Verfolgte sollten im Schutz der Kirche Gelegenheit erhalten, ihre Sache einem Richter vorzutragen. Schon im Alten Testament gab es ein solches Asylrecht (vgl. Num 35,22f.). Vieles davon ist auf oft sehr differenziertem Wege bis in unsere heutige Welt weitergegeben worden. Der moderne Rechtstaat übernahm die grundsätzliche Funktion des Asyls in der Kirche. Staatliches Recht soll den Flüchtling schützen und ihm ein rechtsstaatliches Verfahren ermöglichen. Auch wenn wir heute im kirchlichen Recht, d.h. im CIC von 1983, keine Bestimmung mehr zum Asylrecht haben, ist der Gedanke eines kirchlichen Asylschutzes lebendig geblieben. So nahmen Pfarrhäuser der Bekennenden Kirche in der Nazizeit ebenso wie katholische Pfarrhäuser Juden auf.
Der Schutz von Flüchtlingen gehört also vom Anfang der biblisch-christlichen Religion an zum genuinen Auftrag der Kirche. Immer mehr galt: Die Menschenrechte gelten auch für Rechtlose und Heimatlose. Die Kirchen schärften durch Predigten, Feste und Informationsarbeit das Gewissen und ermutigten die Gemeinden, Flüchtlinge aufzunehmen. Dazu gehört bis heute der soziale Beistand durch Erstversorgung, Unterbringung, Beratung, Unterstützung bei Behörden, Petitionen, Familienzusammenführung und alle Formen der Integration. Kirche und Caritas/Diakonie sind Anwalt für Asylsuchende und Flüchtlinge. Sie setzen sich ein für eine menschenwürdige Behandlung und faire Verfahren. Dadurch entsteht nicht grundsätzlich, aber in einzelnen Fällen ein Spannungsverhältnis zu den politisch Verantwortlichen sowie zu staatlichen Organen und Behörden. Manchmal entstehen auch erhebliche Konflikte. Ich darf jedoch aufgrund unserer eigenen Erfahrung im Land Rheinland-Pfalz erklären, dass wir auch in schwierigen Fällen bei den staatlichen Behörden Gesprächs- und Kooperationsbereitschaft gefunden haben und finden. Manchmal ist es schwer, allseits zufriedenstellende Lösung zu finden. Das sogenannte „Kirchenasyl" erlaubt uns, die schwierige Zeit einer Lösungssuche zu überbrücken und damit doch noch eine gewaltfreie und auch durchaus rechtskonforme Lösung zu finden und so auch Hilfe zu leisten. Man darf sich also von den ohnehin wenigen Kirchenasylen keine Karikatur machen, sondern muss sie im Zusammenhang der grundlegenden Sorge der Kirche für die Fremden sehen.
Ich erwähne diese zum Teil auch geschichtlichen Erfahrungen, um deutlich zu machen, dass die Sorge für die Flüchtlinge eine Urangelegenheit der christlichen Religion ist, aber offenbar ist Flucht ein kaum austilgbares Phänomen der Menschheitsgeschichte. Wir kennen dabei sehr viele Formen. Flüchtlinge sind Personen, die wegen begründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugungen oder ihrer ethnischen Herkunft ihre Heimatregion oder das eigene Land verlassen. Wenn Flucht oder Ausreise gewaltsam erzwungen werden, spricht man von Vertriebenen oder Deportierten. In diesen Fällen gibt es aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention Anspruch auf Asyl oder Prüfung als Asylbewerber.
Auch wir Deutsche haben in jüngster Zeit besonders im Blick auf Massenvertreibungen und Umsiedlungen viele schreckliche Erfahrungen machen müssen. So gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach dem 1. Weltkrieg einen zwangsweisen Bevölkerungsaustausch, der z.B. fast zwei Millionen Türken und Griechen betraf. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Europa ein ideologischer Nationalismus, dem die Deckungsgleichheit von Staat und Staatsvolk vorschwebte. Es kam nicht nur zu rigorosen Assimilierungszwängen in Ost- und Mitteleuropa, sondern es gab auch mit unmenschlichen Mitteln Aus- und Umsiedlungen.
Vertreibungsschicksal und Flüchtlingselend sind nicht nur über die modernen Medien jedem heute bekannt geworden. Manche Vertreibungen haben wir jedoch, obwohl sie gewaltig groß waren, beinahe vergessen. Vor diesem Hintergrund müssen wir gut 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch von den Vertreibungen sprechen, welche vor allem die deutsche Bevölkerung in den europäischen Ostgebieten erleiden musste. Die erstaunlich rasche Eingliederung dieser Bevölkerungsgruppen - man spricht von 12 bis 15 Millionen Flüchtlingen - hat vielleicht manches Leid zu schnell vergessen lassen, das heute immer noch viele Menschen bewegt. Dies gilt auch für den Umgang der Heimatvertriebenen mit ihrem Schicksal. Dies gilt z.B. für die „Charta der Heimatvertriebenen" vom 05.08.1950, wo der Kernsatz lautet: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat." Dies sind unvergessliche Worte.
Wir haben jedoch heute bei aller gleichbleibenden Natur von Flucht und Flüchtlingsschicksal doch auch wichtige Veränderungen. Umweltkatastrophen, sinkende Grundwasserspiegel oder Viehseuchen schicken täglich unzählige Menschen auf eine neue Völkerwanderung. Rund um den Globus treiben Arbeitslosigkeit und Billiglöhne Gastarbeiter in andere Länder. Bauern verlassen ihre Höfe und drängen in die immer mehr wachsenden Megastädte des 21. Jahrhunderts. Ungezählte fliehen aus ihren Slums auf der Suche nach einem menschenwürdigen, besseren Leben. Man hat dafür mit Recht auch den Begriff des „globalen Marsches" (P. J. Opitz) geprägt. Die Zahl der Regionen hat zugenommen, die durch Flüchtlingsbewegungen riesigen Ausmaßes geprägt sind - ein großer, von Zentralasien bis nach Südosteuropa reichender Gürtel politischer Instabilität. Deshalb haben sich auch die Zahlen der Menschen, die heute als Flüchtlinge weltweit unterwegs sind, erhöht. Wir sprechen davon, dass ca. 60 Millionen Menschen in unserer Gegenwart zu solchen Flüchtlingen zählen, wobei ich vermute, dass die wirkliche Zahl noch viel höher ist.
Wirtschaftliche und soziale Not sind dramatisch gestiegen und sind heute für viele Menschen auf der Welt nicht weniger lebensgefährlich als Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität und politischer Gesinnung. In diesem Sinne ist die Flüchtlingsbewegung heute wirklich zu einem „globalen Marsch" geworden. Sie ist im Unterschied zu unserer früheren Erfahrung einer gewissen Regionalisierung ein Weltproblem geworden. Deswegen erschrecken wir auch immer wieder vor der wachsenden Welle der Menschen unterwegs, die in diesem Elend auch noch ihre Heimat aufgeben, obwohl sie damit oft noch die einzige letzte Gewissheit lassen und in eine völlige Ungewissheit hineingehen. Papst Franziskus hat dies in seiner Umwelt-Enzyklika „Laudato si" an vielen Stellen sehr drastisch und in vieler Hinsicht aufgezeigt (vgl. z.B. Nr. 49). Dabei ist diese Not, wie der Papst zeigt, sehr eng auch mit den ökologischen Schäden verbunden, die wir weitgehend selbst verursachen. Es ist zu einfach und zu billig, wenn wir z.B. meinen, mit dem Wort „Wirtschaftsflüchtlinge" das Problem begrifflich in den Griff zu bekommen. Das umfassende Problem stellen die weltweiten Migrationsbewegungen dar, die wir gewiss von den politisch verursachten Fluchtbewegungen unterscheiden müssen. „Anders als Flucht, die in jedem Fall Folge drohender Gewalteinwirkung ist und sich damit gegen den freien Willen der Betroffenen vollzieht, kann Migration auch freiwillig erfolgen - zur Verbesserung individueller und kollektiver Lebenschancen, ohne dass eine unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben vorliegt. Das macht Migration - massenhaft betrieben - allerdings nicht minder problematisch als Massenflucht, sondern zu einer schwierigen politischen Aufgabe, und zwar sowohl für die Länder, aus denen sie erfolgt, wie auch für jene, in die Menschen wandern."
Dies hat aber auch grundlegend zur Folge, dass wir diese weltweiten Migrationsbewegungen nicht als begrenzten Ausschnitt besonderer Not- und Armutssituationen begreifen dürfen, sondern die immer größer werdende globale Perspektive bedenken müssen. Angesichts der Besonderheit dieser Not dürfen wir auch unsere Hilfe nicht zu klein und zu eng ansetzen. Wir dürfen sie nicht zerstückeln. Dem globalen Marsch muss auch eine wenigstens global orientierte Hilfe entsprechen. Wir müssen mit allen Kräften eng zusammenarbeiten.
Es ist hier nicht der Ort, um ausführlich von der Flüchtlingshilfe der Kirchen zu reden. Die Sorge für die Flüchtlinge gehört, wie oben schon gezeigt, von Anfang an zu den elementaren Aufgaben des kirchlichen Lebens. Deswegen erfolgen auch in allen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften enorme Anstrengungen. Dies gilt nicht nur für die weltweiten Werke, wie z.B. die Caritas International oder die Flüchtlingshilfe der Jesuiten, sondern auch für die einzelnen Länder, Bistümer, Gemeinden und kirchlichen Verbände. Vieles davon ist in der großen Öffentlichkeit weniger bekannt. Die vielen Ehrenamtlichen, die weitgehend diese Arbeit leisten, haben in der Regel für sich kein eigenes Sprachrohr in die große Welt hinein. Vom stillen und manchmal auch unscheinbaren Tun der Liebe kann man vielleicht auch nichts Sensationelles erzählen. Darauf sind wir ja auch oft eingestellt.
Ich muss jedenfalls in dem mir zugänglichen Bereich unseres Landes feststellen, dass sehr viele Menschen, Gruppen, Vereine und Einzelne in einer überraschenden Häufigkeit und Dichte bei der Bewältigung der Flüchtlingsproblematik sich enorm einsetzen. Dabei können wir nicht selten auch viele Flüchtlinge, die selber ein böses Schicksal hatten, in der Hilfe für andere wiedererkennen. Hier lassen sich z.B. viele ansprechen, die der Kirche den Rücken gekehrt haben, jetzt aber durch die Dringlichkeit dieses Weltproblems und das mutige Miteingreifen der Kirche sich wieder motivieren lassen.
Dabei geht es um vieles: Wir stellen im Verbund mit Kreisen, Städten und Gemeinden geeignete Häuser, z.B. nicht mehr besetzte Klöster, nach einem gemeinsamen Umbau zur Verfügung; wir nehmen Kinder zur weiteren Heranbildung in unsere Schulen auf; wir begleiten in aller Stille Hunderte von Kindern, die ohne Eltern zu uns gekommen sind, und zwar ohne Begleitung aus ihrer Herkunftsfamilie; wir werden um diskrete Hilfe gebeten für besonders traumatisierte Restfamilien, in denen Frauen ihre Kinder allein durch das Leben bringen müssen, der Vater als einziger Ernährer enthauptet worden ist. Wir kümmern uns um durch Gewaltanwendung traumatisierte Frauen.
Wir tun dies nicht erst heute, wie ich schon dargelegt habe: der Auftrag zur Flüchtlingsseelsorge gehört schon von Anfang an zu den Grundlinien kirchlicher Sendung. Deshalb wollen wir auch heute helfen, ja geradezu zupacken, wo man uns braucht. Wir wollen aber ganz besonders mit jenen zusammenarbeiten, die uns als Partner annehmen und uns mit allen Kräften dort engagieren, wo wir gemeinsam wirkungsvoller helfen können. In diesem Sinne verstehe ich auch diese Landeskonferenz, die uns in der Hilfe enger zusammenführen kann.
Schließen möchte ich mit den letzten Worten von Papst Franziskus aus der schon genannten Enzyklika „Laudato si" vom 24.05.2015, und zwar aus dem Schlussgebet:
„Gott der Liebe,
zeige uns unseren Platz in dieser Welt
als Werkzeuge deiner Liebe
zu allen Wesen dieser Erde,
denn keines von ihnen wird von dir vergessen.
Erleuchte, die Macht und Reichtum besitzen,
damit sie sich hüten
vor der Sünde der Gleichgültigkeit,
das Gemeinwohl lieben, die Schwachen fördern
und für diese Welt sorgen, die wir bewohnen.
Die Armen und die Erde flehen,
Herr, ergreife uns mit deiner Macht
und deinem Licht,
um alles Leben zu schützen,
um eine bessere Zukunft zu bereiten,
damit dein Reich komme,
das Reich der Gerechtigkeit, des Friedens,
der Liebe und der Schönheit.
Gelobt seist du.
Amen."
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz