Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht

Predigt im Abschlussgottesdienst zum 96. Deutschen Katholikentag am 28. Mai 2006 im Ludwigsparkstadion in Saarbrücken

Datum:
Sonntag, 28. Mai 2006

Predigt im Abschlussgottesdienst zum 96. Deutschen Katholikentag am 28. Mai 2006 im Ludwigsparkstadion in Saarbrücken

Lesungen: 1.: Apg, 1,5-17.20a.c-26

2.: 1 Joh 4,11-16

3.: Joh 17, 6a.11b-19

Gerechtigkeit ist geradezu ein Schlüsselwort für viele Herausforderungen unserer Tage, in den meisten europäischen Ländern und weltweit. Dabei geht es fast immer um soziale Gerechtigkeit. Damit sind wir auch rasch mitten im Streit. Die einen halten sie für eine Illusion und für eine bedenkliche Ausuferung des modernen Sozialstaates, andere denken bei Gerechtigkeit an eine immer größere Verteilung der Güter. Dabei weiß jeder, dass Gerechtigkeit sich durchaus auch nach konkreten Bedürfnissen richtet. So sollen natürliche und soziale Nachteile ausgeglichen werden. Soziale Gerechtigkeit soll dem Wohlergehen aller dienen. In erster Linie ist damit gewiss die elementare Existenzsicherung gemeint, die zur Würde des Menschen gehört.

Zu einem solchen Denken sind wir im Abendland schon seit langem verführt. Aber das durchaus richtige Stichwort „Jedem das Seine“ kann sich im Zeitalter eines Individualismus auch leicht verkehren. Deswegen tut es uns gut, wenn wir etwas in das Alte Testament hineinschauen. Gerechtigkeit ist hier gleichbedeutend mit der Stimmigkeit und Ausgewogenheit aller unserer Lebensbeziehungen: zu Gott, zu den Mitmenschen und auch zu allen Lebewesen und Dingen. Immer müssen wir uns bewusst bleiben, dass wir in dieser Gemeinschaft miteinander verbunden sind. Dies ist die Wurzel von Solidarität. So wollen manche das biblische Wort „Gerechtigkeit“ mit „Gemeinschaftstreue“ übersetzen. Dadurch ist diese Gerechtigkeit ganz nahe beim anderen Grundwort „Frieden“, „Schalom“. Wir verstehen gut, wenn der Psalm 85 sagt: „Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich. Treue sprosst aus der Erde hervor; Gerechtigkeit blickt vom Himmel hernieder. Auch spendet der Herr dann Segen, und unser Land gibt seinen Ertrag. Gerechtigkeit geht vor ihm her und Heil folgt der Spur seiner Schritte.“ (11-14)

So spüren wir auch bald, dass wir vor einem solchen Maßstab rasch unser Versagen bekennen müssen. Unsere Lebensverhältnisse sind nicht im Lot, so dass gerade der Heilige Paulus uns auf die Ungerechtigkeit aller Menschen anspricht (vgl. Röm 1, 18 - 3, 20).

So verstehen wir das Leitwort dieses Katholikentages besser: Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht. Wir sind nicht von uns aus heil und gerecht. Gottes Licht muss uns immer erst zu einer Umkehr in eine „neue Gerechtigkeit“ (vgl. Mt 5, 20-48) hineinführen. Aber dann dürfen wir uns auch viel zutrauen und zumuten. Denn dann können wir über unsere Engstirnigkeit und das Kreisen um uns selbst weit hinauswachsen. Durch die oft übertrieben starke individuelle Ausrichtung von Gerechtigkeit ist vielfach das Vertrauen zerstört worden, dass der andere auch wirklich nicht nur den eigenen Vorteil, sondern das echte Wohl des anderen im Auge hat. Um Gerechtigkeit zu ermöglichen oder wiederherzustellen, brauchen wir in hohem Maß den Wiedergewinn dieses Vertrauens, dass der andere keinen unlauteren Vorteil einstecken will. Dies gilt für beide Seiten, für den, der auf Zuwendung angewiesen ist, aber auch für den, der mit seinen Möglichkeiten und Gütern für den anderen eintritt. Darum müssen wir Unlauterkeit und betrügerische Absichten mit

aller Entschiedenheit und von Grund auf bekämpfen.

Dazu gehört auch, dass wir im Glauben an den Wert und die Würde jedes Menschen, der ein Ebenbild Gottes ist, davon ausgehen, dass jeder Mensch in den wechselseitigen Beziehungen unseres Lebens etwas beitragen kann zum Gelingen des Ganzen. Es gibt eine wichtige Wechselseitigkeit aller im Geben und Nehmen. Auch der Arbeitslose kann noch kleine Zeichen des Entgegenkommens bringen. Dies ist auch wichtig für die Verantwortung der Generationen füreinander. Vor allem dadurch kann das Vertrauen, das oft verletzt ist, wiederhergestellt werden. Dies ist nicht möglich, wenn jeder trickreich und oft heimlich seinen Vorteil sucht.

Wenn jemand sich in einer besonderen Notlage befindet, soll durchaus die Gemeinschaft für ihn einspringen. Das ist in der Regel aber nur für einen Übergang möglich und nötig. Wir müssen die schöpferischen Kräfte in jedem Menschen wiedererwecken. Wenn wir an den Menschen glauben, dann werden wir auch bei allen Enttäuschungen im einzelnen Wunder erleben, wozu Menschen fähig sind.

Diese menschliche Gerechtigkeit ist immer verletzlich und prekär. Wir müssen uns von dem falschen Versprechen heilen lassen, als könnten wir in der säkularen Gesellschaft vollendete Gerechtigkeit verwirklichen. Wir könnten ohnehin das vergangene Elend nicht wiedergutmachen. Viele Versuche, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, haben oft die Hölle hervorgerufen. Die Durchsetzung absoluter Gerechtigkeitsvorstellungen hat nicht selten zu Gewalt und Kriegen geführt. Wir endliche Menschen müssen immer wieder unsere Modelle von Gerechtigkeit selbstkritisch überprüfen, darüber in Dialog treten und – wenn nötig – in fairer Weise darüber auch streiten.

Deshalb müssen wir, um dies offen und überzeugend erreichen zu können, vor Gottes Angesicht treten. Er muss immer wieder unser Erkennen und Wollen von Grund auf reinigen. Wir müssen uns auch immer wieder durch Gottes Anruf ins Weite führen lassen, damit wir nicht nur an uns selbst kleben. Dazu gehört immer wieder, dass wir selbst Anwälte werden für die Menschen, die keine Lobby haben und niemandem einen Nutzen bringen. In unserer Gesellschaft darf sich nicht nur der Lautstarke durchsetzen. Gerade auch verborgene, scheue Not muss von uns einfühlsam wahrgenommen werden. Dies gilt erst recht für die Eine Welt. Gerechtigkeit gibt es eben nicht nur für einige Menschen, Länder und Klassen. Das Maß an Gerechtigkeit entscheidet sich an der Lage der Armen, Ausgegrenzten und Benachteiligten. Globalisierung muss zu einer Chance für alle werden.

Wir haben in unserer heutigen Gesellschaft viele Gelegenheiten, diese „Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht“ besser einzuüben. Dies gilt besonders für alle unsere sozialen Sicherheitssysteme, die auch unter gewandelten Bedingungen den Menschen in den unvorhersehbaren Grundrisiken des Lebens helfen müssen. In den Kategorien eines rücksichtslosen Verteilungskampfes werden wir diese Probleme nicht lösen. Darum müssen wir das Verständnis von Gerechtigkeit wirklich auch erweitern. Es geht um das Gelingen unserer Lebensbeziehungen überhaupt. Dabei müssen wir den wirklich Armen, Schwachen, Benachteiligten, Kranken, Alten und Behinderten mit ganz besonderer Einfühlsamkeit vertreten. Von Anfang an gehört diese Sorge zum Leben des Glaubens, sei es bei den Propheten des Alten Bundes oder in der Predigt Jesu. Dazu brauchen wir aber einen frischen Blick für den Anderen, sowie ein neues Wahrnehmungsvermögen, dass er wirklich in der Not Hilfe braucht, auch wo man es nicht so leicht sieht. Dies ist die Gerechtigkeit, die bleibt, weil sie eng verbunden ist mit Barmherzigkeit und Liebe und weil sie gerade auch so wach bleibt für neue Gesichter der Not unter den Menschen. „Der Pfad der Gerechtigkeit führt zum Leben.“ (Spr 12,28) Amen.(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz