Text: Hebr 1,1-6
Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt; er ist um so viel erhabener geworden als die Engel, wie der Name, den er geerbt hat, ihren Namen überragt. Denn zu welchem Engel hat er jemals gesagt: Mein Sohn bist du, / heute habe ich dich gezeugt, und weiter: Ich will für ihn Vater sein, / und er wird für mich Sohn sein? Wenn er aber den Erstgeborenen wieder in die Welt einführt, sagt er: Alle Engel Gottes sollen sich vor ihm niederwerfen.
Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Die Lesung aus dem 1. Kapitel des Hebräerbriefes im feierlichen Gottesdienst am Weihnachtstag mag uns immer wieder erstaunen: Warum an diesem Tag dieser - wie es scheint - etwas spröde und nicht immer leicht verständliche Text? Um die Auswahl des Textes zu verstehen, muss man auf die konkrete Situation der Christen zur Zeit des Hebräerbriefes zurückschauen. Diese Christen leben in der zweiten Generation. Sie sind müde geworden und auch enttäuscht. Sie sind, was die Heilsbotschaft betrifft, allmählich schwerhörig geworden (vgl. 5,11). Dass viele den gottesdienstlichen Zusammenkünften gewohnheitsmäßig fernbleiben (vgl. 10,25) - auch für uns keine Überraschung -, ist ein bedenkliches Signal. Dazu gibt es auch noch harte Phänomene: Man soll sich nicht in einer zweiten Umkehr zum preisgegebenen christlichen Glauben bekehren können (vgl. 3,12; 6,4-8; 10,26-31; 12,25). In einem langen Prozess hat die Kirche hier anders entschieden. Muss man - eine weitere Anfrage -wirklich wieder ganz vorne anfangen bei den elementaren Grundlagen des Glaubens (6,1)? Der Verfasser will seine Leser wieder anspornen, die erschlafften Hände wieder stark und die weichen Knie wieder fest zu machen (12,2), die Glaubenszuversicht nicht wegzuwerfen (10,35) und darauf zu achten, dass keiner ein ungläubiges Herz hat (3,12).
Was steht nun hinter dieser Erfahrung, dass Herzensverhärtung und Widerspenstigkeit gegenüber Gottes Wort sich durchsetzen können, wie es die Wüstengeneration (3,7-4,11) schon einmal erfahren hat? Wird man die Gnade Gottes verscherzen (12,15)? Ist es möglich, dass man das Heil, das man geschenkt bekommen hat, als belanglos ansieht? Ja, ganz radikal steckt dahinter die Frage: Ist es der Mühe wert, Christ zu sein? Darauf versucht der Hebräerbrief eine Antwort. Er ist in einer Glaubenskrise geschrieben, so etwas wie eine „Homilie für haltbedürftige Christen"? (A. Vanhoye). Sind wir nicht auch in einer bei allen Unterschieden vergleichbaren Situation, die freilich immer - wenn auch in einer anderen Situation - schon bestanden hat? Wir kümmern uns dabei vor allem um die ersten Verse der heutigen Lesung.
„Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten": Es wird daran erinnert, dass die Geschichte der Menschheit von Anfang an erfüllt ist mit dem Wort Gottes selbst. Gott schweigt nicht, er ist nicht tot. Er spricht in unsere Welt hinein, wenn wir es nur hören und lesen wollen. Er ist nicht eintönig. Er spricht wiederholt und in vielen Formen, „viele Male und auf vielerlei Weise". Gott spricht wiederholt zu uns. Er hat Geduld mit unserer Schwäche des Vergessens und der Nachlässigkeit. Er hat auch viele Spielarten uns anzuregen und zu wecken, ein Lied, eine Erzählung, ein Gebet. Er spricht insbesondere durch die Propheten. Sie machen das Wort, das Gott gesprochen hat, in der jeweiligen Stunde und auch für unsere Zeit aktuell, wenden es auf unsere Situation an und helfen uns so beim heutigen Verstehen. Auch wir haben immer wieder prophetisch erfüllte Frauen und Männer bei uns wie in der ganzen Kirchengeschichte. Sie sind Zeugen für die Lebendigkeit des Wortes Gottes in jeder Zeit. Dies gilt für die Väter, denen wir den Glauben verdanken. Denken wir nur auch an die hl. Hildegard von Bingen. Aber mit einem kleinen Wort hebt der Brief die Treue und Kontinuität des so verstandenen Wortes Gottes und des Volkes Gottes hervor, zugleich wird aber dadurch auch seine immerwährende Gültigkeit für alle Zeiten eingeschränkt. Es ist das kleine Wort „einst". Dies galt und gilt für eine lange Zeit der Geschichte des Menschen, und wir dürfen hier, auch wenn es nicht in unserem heiligen Text steht, sicher auch an die Stimme Gottes in der Natur, in der Geschichte und wohl auch fragmentarisch bei anderen Religionen denken. Es wird nichts einfach aufgehoben.
Eine solche Redeweise bereitet schon eine gewisse Fortführung auf eine etwas gegensätzliche und spannungsvolle Weise vor. Tatsächlich wird sie nun auch im folgenden Vers - und er trifft nun Weihnachten voll - scharf zum Ausdruck gebracht: „In dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat". Es gibt auch noch ein anderes Sprechen als durch das schriftlich uns überkommene Wort, auch wenn es durch die Predigt über Jahrtausende immer wieder aktualisiert worden ist. Gott kann viele Sprachen sprechen, z.B. auch durch den Donner, ein Erdbeben, auch durch das stille Säuseln des Windes. Gott spricht nicht nur mit Macht und Gewalt. Jetzt hat er gesprochen durch den Sohn: Er schickt zu uns nicht nur Propheten und bevollmächtige Boten, Priester und Laien. Er hat in seinem Sohn noch ein Sprachrohr ganz eigener Art.
Der „Sohn" hat dabei eine ganz eigene Bedeutung, besonders in der alten Welt, aber auch in vielen Kulturen: Der Sohn ist das Nächste und Liebste, was ein Mensch hat und hergeben kann. Dieser ist ein lebendiger Mensch mit Fleisch und Blut. Er ist so nahe am Ursprung wie niemand sonst, und dies geschieht durch die Beglaubigung und das Siegel der menschlichen Leiblichkeit: Er wird geboren, er lebt mit uns, er freut sich mit uns, er leidet und stirbt mit uns und für uns. In unserer Welt kann wohl auch Gott selbst bei aller Allmacht nichts ihm Näheres und Innigeres schenken als seinen eigenen Sohn. Dies ist wohl ein Grund, warum ein evangelischer Theologe, Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), aus dem Schwäbischen im 18. Jahrhundert sagen konnte, die Menschwerdung Jesu Christi, die Leiblichkeit, sei das Ende der Werke Gottes.
Der Sohn ist Mensch. An anderer Stelle sagt der Hebräerbrief: In allem uns gleich außer der Sünde (vgl. 4,15) Dies ist ganz wichtig: Auch wenn er nicht der Sünde verfiel, so kennt er unsere Schwachheit und Anfälligkeit für das Böse (vgl. z.B. die drei Versuchungen Satans Mt 4,1-11). Dennoch ist er wirklich der Sohn Gottes, was sofort zum Ausdruck kommt in den erklärenden Zusätzen, dass er zum „Erben des Alls" eingesetzt wurde und dass Gott durch ihn auch die Welt erschaffen hat. Dadurch wird das Gottsein dieses Sohnes in seiner ganzen Allmacht hervorgehoben. Er ist der Erbe von allem und der Ursprung der ganzen Welt. Aus dieser letzten Tiefe Gottes kommt der Sohn. Dies wird in den kommenden Versen auch nochmals kräftig unterstrichen: „Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt." Es sind nicht nur die Macht und die Herrlichkeit, die ihn gleichsam als ebenbürtiger Sohn auszeichnet, er hat uns auch von der Verlorenheit der Menschen befreit, unsere Sünden weggenommen und uns zur Freiheit erlöst. Deswegen teilt er nun auch zur Rechten des Vaters göttliche Vollmacht über alles. - Deshalb ist er auch viel erhabener über alle Engel, die er überragt. Wir können hier nicht auf die Auseinandersetzung mit den weit überschätzten Engeln durch den Verfasser in der Zeit des Hebräerbriefes eingehen. Aber auch unsere Zeit anerkennt ja manchmal völlig übertriebene Engelsmächte, kennt aber Gott selbst nicht mehr. Sie können nicht verglichen werden mit der Einzigartigkeit des Sohnes. Sie sind „nur dienende Geister" (1,14).
Jetzt verstehen wir vielleicht ein kleines Wort aus dem Anfang des Textes noch besser. Der Verfasser spricht von der Gottesrede in der früheren Zeit und setzt das neue Wunder in einen gewissen spannungsvollen Gegensatz, denn nun sprach Gott „in dieser Endzeit durch den Sohn". Es ist natürlich nicht nur ausschließender Gegensatz, vielmehr Bekräftigung und Fortführung, gewiss aber auch Überbietung der bisherigen Rede Gottes. In dieser „Endzeit" heißt es, dass es Gottes letztes, endgültiges Wort ist, indem alle noch ausstehende Zukunft der Welt schon Gegenwart wurde. Dieses über Leben und Tod entscheidende Wort Gottes (vgl. 4,12.13) haben uns nicht die vielen bekannten oder auch namenlos gebliebenen Propheten übermittelt, sondern der eine und einzige Sohn Gottes selber. Ihm verdanken wir also nebst Gott unsere Existenz, Ursprung und Ziel, Vergangenheit und Zukunft allen Seins. Da Gott nicht mehr geben kann als seinen geliebten Sohn, den einziggeborenen, kann er uns auch darüber hinaus nichts Neues schenken. Der Sohn ist das letzte Wort Gottes für die Welt, er ist der Logos, von dem das 1. Kapitel des Johannesevangeliums spricht. Darum ist er auch der Sohn der Liebe. Auch Gott kann sich nicht mehr überbieten als durch die Sendung dieses seines Sohnes in unsere Welt.
Jetzt sind wir wohl in der Lage zu verstehen, dass man die Glaubenskrise von damals und die Glaubensmüdigkeit von heute am besten anspricht durch das tiefste Bekenntnis unseres Glaubens, wie es der Hebräerbrief schon an seinem Anfang zur Sprache bringt: Wisst ihr eigentlich, was für eine Größe, ein einmaliges und unerhörtes Geschenk, das nicht mehr zu überbieten ist, uns durch die Menschwerdung Gottes zuteil wurde? Ihr habt die Herrlichkeit und das absolut Einmalige des einen Wortes Gottes bisher nicht verstanden. Sonst könntet ihr nicht alles als so belanglos ansehen, wie ihr es tut. Das ganz Neue ist da, das nie veralten kann - und ihr langweilt euch dabei!
Jetzt müssten wir noch entfalten, um welchen Reichtum es hier geht. Es ist eine unüberbietbare Fülle der Hoffnung. Es ist wirklich in einer sehr zugespitzten Aussagekraft die einzige Rettung, die für uns existiert. Deswegen ist es nicht zufällig, dass hier auch das Wort vorkommt, dass Jesus Christus der „Retter" („soter"), der Heiland der Welt ist. Es ist die Sehnsucht der Menschheit nach einem solchen „Retter", die hier in Jesus Christus erfüllt wird. Darüber und darum dürfen wir uns an Weihnachten freuen. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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