Es ist wieder still geworden um den Entwurf für eine Europäische Verfassung. Dies steht in einem spannungsvollen Verhältnis zur Bedeutung mancher Entscheidungen in diesen Wochen, denn bis Ende dieses Jahres sollen die Beratungen des Entwurfs auf der Ebene der Regierungschefs in der Europäischen Union abgeschlossen werden. Dem Vernehmen nach soll die Präambel erst am Ende dieser Diskussion beraten werden.
Dann wird Gelegenheit sein, nochmals zu diskutieren und schließlich zu entscheiden, ob diese Präambel einen Bezug zu Gott oder/und einen spezifischen Hinweis auf die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas enthält. Im Augenblick ist dieses Thema eher zurückgetreten. Dies hat auch einen guten und sinnvollen Aspekt, damit wieder das Ganze in den Blick kommt. Denn hinsichtlich des gesamten Entwurfes darf man durchaus feststellen, dass sich der Text trotz mancher Einwände sehen lassen kann. Es konnte ja nicht einfach sein, aus den sehr verschiedenen Verfassungstraditionen der Länder in der Europäischen Union eine Grundgestalt auszuwählen, die am Ende eine reale Aussicht hat auf eine breite Annahme. In diesem Sinne haben Kenner der Materie die bisherige Fassung als einen „großen Wurf" bezeichnet, der auf der einen Seite als zustimmungswürdig und auf der anderen Seite als kompromissfähig gilt. Vielleicht ist dies gerade auch angesichts einer skeptischen und etwas missmutigen Europahaltung festzustellen, die dies leicht übersieht. Man darf auch nicht vergessen, dass der Entwurf, wenn er angenommen würde, die Europäische Union viel demokratischer, transparenter und auch effektiver machen würde. Es ist darum auch gar nicht überraschend, dass jetzt noch um nicht wenige Bestimmungen des Vertragsentwurfs hart gerungen wird.
In diesem größeren Zusammenhang nimmt der Entwurf – was wohl bisher nicht genügend beachtet worden ist – vielfach Bezug auf die Religion, auf die Religionsgemeinschaften und die Kirchen. Nach der Präambel im jetzigen Wortlaut schöpft die Europäische Union „aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben". Diese Anerkennung ist im Vergleich zur Präambel der Grundrechtecharta aus dem Jahr 2000 ein echter Fortschritt. Dabei geht der Blick ja nicht nur auf ein vergangenes zu respektierendes Erbe, sondern formuliert bewusst, dass diese Überlieferungen mit ihren Werten in Europas Erbe weiterwirken und gerade auch so lebendig geblieben sind. Dies ist dann auch ein Fundament, um später in Art. 51 die Stellung von Religion und Kirchen genauer zu umschreiben. Es heißt dort:
„(1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.
(2) Die Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.
(3) Die Union pflegt in Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags dieser Kirchen und Gemeinschaften einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit ihnen."
Dieser Passus ist in sich bemerkenswert. Er verzichtet zwar auf ein eigenes, ausgeführtes europäisches Religionsrecht, aber er respektiert doch den Ort und die Stellung von Religion und Kirche. Man versucht nicht, den kleinsten gemeinsamen Nenner auf europäischer Ebene auszuhandeln, sondern, ähnlich wie in vielen Kulturbereichen, sollen die staatskirchenrechtlichen Verhältnisse in den einzelnen Ländern weiterhin in Geltung bleiben. Den Kirchen gleichgestellt werden auf besondere Initiative einiger Länder „weltanschauliche Gemeinschaften", womit wohl vor allem die Freimaurer gemeint sind. Diese Verankerung von Religion und Kirche in den Mitgliedsstaaten bedeutet aber nicht, dass damit Religion und Kirche nur eine provinzielle Bedeutung hätten. Es gibt im Sinne des 3. Absatzes regelmäßige Kontakte auf der europäischen Ebene selbst. Damit ist vorausgesetzt, dass die eigene Identität der Kirchen und auch ihr besonderer Beitrag in Europa anerkannt werden, was schließlich in einem „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog" zum Ausdruck kommen soll.
Auch sonst im Entwurf ist direkt oder indirekt von Religion und Kirche die Rede. So wird ausdrücklich die individuelle und die kollektive Religionsfreiheit anerkannt (vgl. Art. II-10). Auch an anderer Stelle werden Grundrechte auf der Ebene der Europäischen Union anerkannt, die eine Bedeutung haben für die Religion, so z.B. hinsichtlich des Rechts auf Bildung (Art. II-14), auf die Nichtdiskriminierung aus Gründen des religiösen Bekenntnisses (Art. II-21) und die Achtung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen (Art. II-22). Der Verfassungsentwurf erkennt auch an, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften sich von repräsentativen Verbänden und partikulären Interessenvertretungen unterscheiden.
Es scheint mir, dass diese Zusammenhänge mehr Beachtung verdienen. Aber freilich hat auch die Erkenntnis, wie sehr von Religion und Kirche schon die Rede ist, nicht zur Konsequenz, dass darüber im Entwurf schon genügend Ausführungen zu finden sind, sondern dass auch in der Präambel außer den bisher schon genannten Hinweisen das Gewicht des Gottesbezugs und die Bedeutung der jüdisch-christlichen Wurzeln Europas stärker thematisiert werden sollen. Dies soll nun noch etwas eingehender begründet werden. Dabei geht unser Blick zuerst allgemein auf Präambeln, bevor wir den in Frage stehenden Entwurf nochmals genauer betrachten.
Präambeln, besonders bei rechtlich verbindlichen Texten, haben immer schon Probleme hervorgerufen. Rasch entsteht die Frage nach ihrer Verbindlichkeit. Da sie in Sprache und Stil meist nicht umgangssprachlich formuliert sind, stößt ihr feierlicher und pathetischer Ton manche ab. Dennoch gibt es schon in der orientalen und okzidentalen Welt vor unserer Zeitrechnung – aber auch in der römischen Rechtsentwicklung und danach – ausführliche und wichtige Präambeln. Gerade totalitäre Staaten haben sich überlanger, rhetorischer Floskeln bedient. Sie müssen sich jedoch auf das Notwendige und Wichtige beschränken. Alles andere verwirrt. Als z.B. im Kontext der Einheit Deutschlands auch die Frage nach einer Verfassungsrevision aufkam, hat die beantragte Streichung des Gottesbezugs keine Mehrheit gefunden.
Eine Verfassungspräambel wird jedoch auch bei großer Knappheit immer die gesellschaftlich-politische Realität übersteigen und einen überschießenden, transzendierenden Charakter haben. Peter Häberle, der die Präambeln gründlich untersucht hat, fasst zusammen: „Präambeln sind ein Appell an alle Bürger und eine Weisung für den Juristen. Sie bilden ein Herzstück verfassungsstaatlicher Verfassungen, eine Verfassung (in) der Verfassung. Sie stellen der Theorie und Praxis noch viele Aufgaben. Sie sind aber auch einen große Chance: weil sie über scheinbar äußerliche Momente der Sprache zu tieferen Inhalten und Funktionen von Verfassungen führen. Präambeln gehören zum Feiertag und Alltag eines Verfassungsstaates. Dass sie der Sprache und dem Verständnis der Bürger nahe kommen, ist eine oft erfüllte Forderung (...). So führen Präambeln in exemplarischer Weise alle Interpreten einer offenen Gesellschaft zusammen." Um so erstaunlicher ist es, dass die Präambeln in der Rechts- und Politikwissenschaft relativ selten ausführlicher behandelt werden. Nicht wenige sehen darin offenbar eher eine unverbindliche Verfassungslyrik. Aber dies wäre auch in anderer Hinsicht ein Irrtum, denn die Präambel ist nach allgemeiner Überzeugung, die zugenommen hat, Bestandteil der Verfassung und hat über den moralischen Appellcharakter hinaus auch einen unübersehbaren rechtlichen Gehalt.
Als Vergleich und Exempel möchte ich kurz die Präambel in unserem Grundgesetz anführen, die bekanntlich mit den Worten beginnt: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben." Ähnliche Formulierungen haben unsere verschiedenen Länderverfassungen, die ja zum Teil älter sind als das Grundgesetz, z.B. Rheinland-Pfalz von 1947.
In diesem Zusammenhang muss man auch die Struktur des Grundgesetzes ins Auge fassen. Am Anfang stehen nicht mehr wie bei vielen klassischen europäischen Verfassungen die Staatsziele, sondern die Menschenwürde und das dazugehörige Menschenbild. Vor den Gräueltaten des Nationalsozialismus ist diese revolutionäre Veränderung verständlich, offenbart aber auch eine Schwäche, die manche Staatsrechtler einem solchen Verfassungstyp auch immer wieder angelastet haben. Dies sei nämlich per definitionem ein schwacher Staat. Aber es genügt nicht, nur auf die Zurückweisung einer Verabsolutierung der Staatsgewalt zu blicken. Freilich geht es auch nicht darum, den Einzelnen auf einen Glauben an Gott zu verpflichten, was schon wegen des Grundrechtes der Religionsfreiheit nicht möglich ist. Bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat war es ganz klar, dass zwar die meisten Bürger unter „Gott" den persönlichen Gott ihres biblischen Glaubens verstehen, dies aber nicht zwingend ist. Andere verstehen darunter nur den unpersönlichen Weltbaumeister, einen „Herrn des Stirb und Werde" oder z.B. unsere schicksalhafte Bestimmung. Aber es ist mit der Nennung Gottes eine Grenze für das politische Handeln angegeben. Auch dem noch so souveränen menschlichen Tun sind Schranken gesetzt, die sich am Ende nicht nur innerweltlich begründen, sondern eine transzendente Instanz bilden, die dem Menschen ein Richtmaß für sein Handeln darstellt. Dies gilt nicht zuletzt auch im Blick auf die Freiheit des Menschen, die immer auch Rücksicht auf den Nächsten und vor allem auf den Schwachen voraussetzt: Solidarität. Dem Staat ist jede Verabsolutierung untersagt.
Kein Christ wird also den Gottesbezug der Präambel allein für sich beanspruchen, aber niemand kann es den Christen dieses Staatswesens verwehren, in dem, was hier „Gott" genannt wird, den Schöpfer von Himmel und Erde und den Vater Jesu Christi zu entdecken und zu benennen. Auch hier könnte man übrigens auf andere Artikel aufmerksam machen, zu denen ein Bezug gegeben ist (vgl. Art. 56, 64, 140, 141 usw.). Es geht also nicht bloß um eine historische Reminiszenz, sondern eben in der Tat um ein Erbe, das heute noch lebendig ist. Aber es bleibt doch auch nicht minder wahr, dass der Gottesbezug in der Präambel zunächst einmal an Werte und Normen erinnert, die der Verfassung und besonders dem politischen Handeln vorausliegen. Sie sind nicht nur aufschlussreich im Blick auf die Abwehr des Totalitarismus, sondern „Gott" ist ein besonders wichtiger Hüter der Humanität. Die Wahrheit darf z.B. nicht politischen Strategien ausgeliefert und verraten werden. Das Gemeinwohl bezieht sich nicht nur auf die Gruppen, die ohnehin schon begünstigt sind. Die Achtung vor dem Menschenrecht auf Leben ist unbedingt. Der Gottesbezug richtet ein Maß auf, das nicht vom Menschen manipuliert werden kann. Es erinnert ihn an den letzten Grund von Wahrheit und Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden.
Es bleibt die Frage, ob die Herkunft Europas nicht stärker bestimmt werden soll. Dies ist zuerst eine Frage der historischen Wahrheit, denn es besteht kein Zweifel, dass dieses Europa durch alle Wandlungen hindurch eben doch sich in vielem, auch da wo man es gar nicht mehr so leicht merkt, seine Errungenschaften den Wirkungen des biblischen Glaubens verdankt (vgl. z.B. Anstöße für die Entwicklungen der Naturwissenschaften, der Menschenrechte usw.). Der Satz aus dem bisherigen Präambel-Entwurf „Schöpfend aus den kulturellen, religiösen humanistischen Überlieferungen Europas (...)" ist so zu allgemein und abstrakt. Europa hat eine eindeutige Herkunft und hat auch zu der bestimmten kulturellen Identität beigetragen, die eben Europa auszeichnet. Von dieser Herkunft ist nicht abzusehen.
Wie die eben zitierte Passage aus der Präambel lautet, wäre sie auch ähnlich für eine Verfassung Chinas oder Indiens zu formulieren. So lädt nämlich die Formel auch nicht ein zu einer wirklichen Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit diesem gewachsenen und von bestimmten Kräften genährten Europa. Mindestens müsste man formulieren: „Schöpfend aus dem griechisch-römischen, jüdisch-christlichen und humanistischen Überlieferungen (...)" Man kann sich sogar überlegen, ob man nicht auch andere Quellen noch hinzunimmt, nämlich germanische, slawische und islamische Einflüsse. Europa ist eben gerade auch der kritisch konstruktive Dialog zwischen vielen Kräften und Traditionssträngen. Die Erwähnung jüdisch-christlicher Wurzeln mit der Betonung auch griechisch-römischer Ursprünge und humanistischer Überlieferungen würde so auch besser korrespondieren mit den Grundrechten, die ja selbst wiederum ein Fundament brauchen – man denke nur an die Menschenwürde – und mit den Aussagen über Religion und Kirche übereinstimmen müssen, die eingangs erwähnt wurden (bes. Art. 51).
Die Diskussion über die Verfassung sollte es sich nicht leicht machen, diese Überlegungen nochmals aufzugreifen. Bis jetzt besteht dafür leider nicht viel Hoffnung. Viele haben sich schon dafür eingesetzt, nicht zuletzt auch der Vorsitzende des Konventes, der ehemalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d´Estaing. Er hat diese Forderung heute vor einer Woche, am 6. November, in der Paulskirche nochmals wiederholt. Vielleicht – und dies ist meine Hoffnung – könnte es am Ende der Konsultation wenigstens gelingen, nochmals auf das Thema zurückzukommen. Wenn dann die harten politischen Brocken, die ja nicht selten elementaren Interessen einzelner Nationen entsprechen, geklärt sind, könnte eine Atmosphäre entstehen, in der man nochmals auf die Frage der endgültigen Gestaltung der Präambel zurückkommen könnte. Dies geschieht gewiss nicht einfach von selbst. Darum wollte ich auch am heutigen Abend und an diesem Ort den Anstoß geben, sich mit der dadurch aufgezeigten Problematik nochmals intensiver zu beschäftigen. Wir haben eine einmalige Gelegenheit, aber auch eine einzigartige Verantwortung gegenüber der Geschichte Europas, seiner gewesenen Geschichte, seiner Gegenwart und seiner Zukunft.
© Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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