Predigt am Hochfest Weihnachten, 25. Dezember 2012, im Mainzer Dom
Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Die Geschichte und die Politik ist in vieler Hinsicht von der Gier und dem Streit um Macht gekennzeichnet. Diese kann viele Formen annehmen. Es gibt nicht nur die kriegerische Auseinandersetzung mit der Überlegenheit von Waffen, sondern es gibt auch den Propagandakrieg, mit dem man den Ruf eines Gegners ruinieren kann.
Es ist bezeichnend, dass nicht wenige Denker, Wissenschaftler und Weise Aussagen über die Macht eher etwas scheuen. Jedenfalls kann man beobachten, dass sie sich eher im vorgerückten Alter zur Frage der Macht äußern. Dabei fällt auf, dass öfter eine Haltung eingenommen wird, die die Macht nicht nur in ihren Gefahren und Versuchungen darstellt, sondern Macht als solche moralisch grundsätzlich korrumpiert sieht. Die menschliche Erfahrung oft eines längeren Lebens hat offensichtlich hier Wirkung gezeigt: Macht ist böse.
Nun wissen wir alle, dass die Ausübung von Macht zum Menschen gehört. Dies fängt schon bei einfachen Dingen an. Wo wir stehen und etwas aus eigener Initiative betreiben, kann kein anderer sein. Wir engen durch unser eigenes Tun auch den Wirkraum anderer Menschen ein. Dies kann eine Form von Macht sein. Darum muss die Ausübung von Macht immer geregelt werden, vor allem durch das Recht begrenzt werden. Wenn die Spielregeln des Umgangs mit Macht verletzt werden, kommt es rasch zu Willkür, ruinösem Wettbewerb und Vernichtungsstrategien. Kriege sind „nur" ein Sonderfall dieses Verhaltens.
Oft beschreiben wir die Geschichte in der Perspektive der Macht. Die Sieger nehmen die erste Stelle ein. Die Opfer werden nur kurz, wenn überhaupt, erwähnt. Darum müssen wir die Geschichte oft auch mit einer anderen Optik betrachten, nämlich aus der Perspektive derer, die zu Unrecht als Verlorene gelten. Deshalb muss die Geschichte auch gegen den Strich gebürstet werden, damit wir nicht nur die Sieger feiern.
Es mag überraschend sein, dass Weihnachten viel mit dieser Einschätzung der Macht zu tun hat. Am deutlichsten sehen wir dies, wie der König Herodes im Zusammenhang der Geburt Jesu um seine Macht fürchtet. Jesus muss nach Ägypten fliehen, „denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten" (Mt 2,13). Die Sterndeuter kehren nicht mehr zu Herodes zurück, sondern „sie zogen auf einem anderen Weg heim in ihr Land" (Mt 2,12). Die Wut des Königs kennt keine Grenzen: „Als Herodes merkte, dass ihn die Sterndeuter getäuscht hatten, wurde er sehr zornig, und er ließ in Bethlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte." (Mt 2,16) Auch als Herodes starb, musste man seinen Sohn nicht minder fürchten (vgl. Mt 2,22).
Wie sehr die Menschen und auch Jesus selbst unter der Verführung durch Macht stehen, zeigt uns in den Evangelien die Geschichte von der Versuchung Jesu (vgl. Mt 4,1-11). Es sind gleichsam klassische Versuchungen zu sozialer Macht, zur Faszination und zum Reichtum. Jesus wehrt sich jeweils, indem er sehr gezielt ein Wort der Schrift gegen diese Betörungen setzt (vgl. 4,4.6.7.10).
Macht ist etwas so Allgemeines und Universales, dass wir uns auch Gott kaum denken können, ohne dass wir diese Kategorie gebrauchen. Macht ist Können. Gott kann alles. Er ist allmächtig. Aber gerade daran hat sich auch der Zweifel an Gottes Güte, ja an seinem Gottsein entzündet, wenn man an die vielfach geschundene Kreatur denkt. Manche wollten deswegen auch auf das Wort von der „Allmacht" in Anwendung auf Gott verzichten. Dies ist nicht notwendig.
Hier kann uns Christen das Ereignis von Weihnachten weiterführen. Freilich dürfen wir nicht einfach in der Verlängerung der üblichen Machtvorstellung denken. Gott kommt ja nicht mit Macht im gewöhnlichen Sinne. Dies haben die Menschen immer erhofft, wenn sie auf den Messias warteten. Das Kommen Jesu stellt aber unsere Kategorien auf den Kopf und dreht sie um. Gott kommt herab, er steigt zu uns nieder, er scheut nicht die Armut im Stall und in der Krippe, ja er ist auch in seinem künftigen Leben bewusst in der Nähe des endlichen, armen Menschen. „Gottes des Unsichtbaren Ebenbild hat die Niedrigkeit menschlichen Daseinsbeginns nicht verschmäht und hat über Empfängnis, Geburt, Weinen, Krippe alle Kleinheit unserer Natur durchlaufen." (Hilarius von Poitiers) Er kam zu uns nur als der verborgene Gott. Er kommt im Kind, das uns oft als Inbegriff der Ohnmacht vorkommt. Gottes Macht ist so groß, dass er sich das Herabsteigen, ja die Ohnmacht leisten kann. Seine Größe zeigt sich weniger im Herrschen im Sinne eines unbeschränkten Verfügens über alles, was lebt. Seine Macht besteht vielmehr im Schonen und im Vergeben. Das ganze Leben Jesu bestätigt diesen Anfang. Immer wieder verzichtet er bis in den Tod hinein auf jede Gewalt. Von Anfang an wird sein Leben dadurch bestimmt: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz." (Phil 2,6-8)
Dadurch kam es zu einem wunderbaren Tausch, der den Menschen in einer Weise erhöht, die ihm keine Machtausübung der Welt verleihen kann. „Gott verkehrte auf menschliche Weise mit den Menschen, damit der Mensch lerne, göttlich zu handeln. Auf gleicher Stufe handelte Gott mit den Menschen, damit der Mensch auf gleicher Ebene mit Gott handeln könnte. Gott wurde klein erfunden, damit der Mensch groß würde. Der du einen solchen Gott verschmähst, kannst du wohl im Glauben Gott den Gekreuzigten annehmen?" (Tertullian)
Verstehen kann man dies aber nur, wenn wir unsere Kategorien blanker Machtausübung im weltlichen Sinne hinter uns lassen. Wir müssen im wörtlichen Sinne umkehren, umdenken. Wir müssen das Wort von der Macht neu buchstabieren. Dann ist Macht Dienst. Dies ist der Grund, warum die Großen der Welt von Herodes bis zum heutigen Tag den verborgenen Gott in Jesus nicht erkennen können. Es sind einfache Menschen, die um ihre Armut und Ohnmacht wissen. Es sind Maria und Josef, die das Geheimnis dieses Kindes hüten, auch wenn sie es noch nicht ergründen können. Es sind die Hirten auf dem Feld, die die „Zeichen der Zeit" besser zu lesen verstehen als die Mächtigen. Und es sind Simeon und Hanna, die Frommen und Gerechten aus dem Haus Israel, die wirklich verstehen.
Dies ist das Geheimnis von Weihnachten. Deshalb ist die Geburt Jesu von Nazareth auch eine Revolution in unserem Gottesverständnis. Darum brauchen wir auch, solange wir leben, jedes Jahr Weihnachten, dass wir es endlich verstehen, das kleine und verletzliche Wort „Gott". Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz