Es wird immer schwerer, die jüngste Zeitgeschichte in das lebendige Gedächtnis zurückzurufen. Wir können zwar gut in alle früheren Epochen zurückschauen, tun uns aber mit der Erinnerung der eben gerade gewesenen Geschichte ziemlich schwer. Dies hängt offensichtlich nicht nur daran, dass die verschiedenen Archive für diese Zeit noch nicht oder kaum zugänglich sind. Offenbar ist unser Erinnerungsvermögen an die jüngste Vergangenheit schwächer ausgeprägt. Wir leben immer schneller und lassen vieles rascher hinter uns.
Deswegen mag es gut sein, anlässlich der Erinnerung, dass Dr. Helmut Kohl am 1. Oktober vor 30 Jahren, also im Jahr 1982, zum Bundeskanzler gewählt worden ist, ein wenig die Ge-samtsituation der damaligen Zeit zu vergegenwärtigen. Ich will dies anhand von zwei Stich-worten der Situation der 70er und 80er Jahre versuchen, und zwar in geistig-spiritueller und in ethisch-politischer Hinsicht. Es sind die beiden Schlüsselworte „Grundwerte" und „Geistige Erneuerung". Der Begriff „Grundwerte" stammt, wie wir sehen werden, besonders aus den 70er Jahren, „Geistige Erneuerung" wird später häufiger gebraucht. Ich bin jedoch kein Historiker oder Politikwissenschaftler. Freilich habe ich als eine Art Generalist die Grundwerte-Debatte schon früh verfolgt und kommentiert. Seither hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Dies geschah vor allem in meiner Freiburger Professorenzeit. Mit dem Programm einer „Geistigen Erneuerung" hatte ich wenige Jahre später als junger Bischof von Mainz aus zu tun. Gewiss kann ich nur einige fragmentarische Erinnerungsstücke zusammenbringen.
I. „Wende" als programmatischer Anspruch
Nachdem die junge Bundesrepublik Deutschland, vor allem auch durch die großen Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft, zu Ansehen und Wohlstand kam, dauerte es nicht lange, bis die Frage aufkam, ob der geglückte Anfang abgeschlossen sei und eine neue Epoche beginne. In diesem Zusammenhang spielte auch das Wort von der „Wende" eine programmatische Rolle. Der Begriff bekam nochmals eine stärkere Bedeutung, als die erste Koalition aus SPD und FDP im Herbst 1969 mit großem Anspruch angetreten ist. Die Regierungserklärung Willy Brandts vom 28.10.1969 klang wie eine Verheißung für eine bessere Zukunft. Ein hoher Anspruch und ein kräftiges Aufbruchspathos gingen damit einher. Es gab eine starke Polarisierung des öffentlichen und kulturellen Lebens. Dies nährte auch viele Erwartungen, nicht zuletzt die Überzeugung, in der Politik sei alles machbar. Vor allem in der Familien-, Jugend- und Bildungspolitik war der Umbruch der 68er Jahre spürbar. Von daher versteht sich auch, dass der Begriff der „Wende" prinzipiell und programmatisch ins Spiel kam, durchaus als Trend- und Tendenzwende verstanden.
Es war zu erwarten, dass eine spätere Bilanz dieser Jahre sich vor allem den vielen Verhei-ßungen und Versprechungen zuwandte. Dies geschah besonders im Zusammenhang der Bun-destagswahlen vom 5.10.1980. Vor allem die CDU schickte sich an, in dieser Situation eine „politische Wende" herbeizuführen. So formulierte Helmut Kohl am 25.10.1979 im Vorfeld der Wahlen: „Wir brauchen eine neue Politik. Forderungen nach Steuersenkungen, Familien-geld, Senkung der Staatsquote, das alles ist gewiss nötig und richtig, aber es genügt nicht. Wir brauchen vor allem einen neuen politischen Stil ... Diese neue Politik muss wieder von realistischen Annahmen und Erwartungen, kurz: von einem vernünftigen Menschenbild ausgehen. Damit meine ich vor allem eines: Die Politik muss den Menschen wieder in seinen Alltagserfahrungen anerkennen und unterstützen." Dabei ging es vor allem auch um eine „politische Erneuerung der geistigen Grundlagen unserer freiheitlichen, und das heißt auch: streitbaren Demokratie". Damit werden der Sinn und die Orientierung der nun geforderten „Wende" offenkundig.
II. Das Problem der „Grundwerte"
Dieser Ruf nach einer grundlegenden Änderung war in den 70er Jahren, besonders um die Mitte, deutlicher geworden. Auch hier ist die Wahl zum Bundestag am 3.10.1976 zu einem Einschnitt in der Diskussion geworden. In vielen gesellschaftspolitischen Beiträgen kommt der Begriff der Grundwerte auf. Reformvorhaben, die in ganz verschiedenen Zusammenhän-gen auf Grundwerte Bezug nahmen (Pornografie, Abtreibungsgesetzgebung, Ehescheidung, Strafvollzug, elterliches Sorgerecht, Jugendhilfegesetz, Erziehungsziele und „Rahmenrichtlinien"), verschärften den Vorwurf, sie führten zu einem Schwund des Konsensus in den ethischen Grundüberzeugungen, sodass vor allem der ethische Gehalt des Rechtes mehr und mehr schwinde. Die Deutsche Bischofskonferenz erklärte in einem Wort zu Orientierungsfragen am 7.5.1976: „Nun zeigen sich gegenwärtig Verschiebungen im Wert- und Normbewusstsein unserer Gesellschaft. Viele Bürger stehen kritisch, wenn nicht ablehnend gegenüber verpflichtenden Ansprüchen des Sittengesetzes. Die personale Verantwortung des Einzelnen wird oft mit subjektiver Beliebigkeit vertauscht. Es wird üblich, soziale Konflikte und soziales Fehlverhalten immer seltener dem Einzelnen als Folge sittlich falschen Handelns anzulasten, sondern vielmehr allein als Folge einer ungerechten Wirtschafts- und Gesellschaftskultur hinzustellen." Hinzu kommen ein ähnlich gelagerter Diskussionsbeitrag der Kommission I „Der Staat und die Grundwerte" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 3.9.1976 und eine verschärfte Stellungnahme zur Diskussion durch den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Joseph Kardinal Höffner, vom 7.9.1976. Die Parteien waren dadurch elementar herausgefordert. So kam es zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung um die Anerkennung und Unverletzlichkeit tragender Wertvorstellungen in einer Tagungsserie der Kath. Akademie Hamburg, bei der Bundeskanzler Helmut Schmidt am 23.5.1976, Helmut Kohl am 13.6.1976 und Werner Maihofer (für die FDP) am 20.6.1976 zu Wort kamen. Die Akademietagungen hatten ein starkes Echo in den Medien. Helmut Kohl hat hier besonders die Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit hervorgehoben. „Diese Grundwerte ... ergänzen und bedingen einander. In einer inzwischen historischen Epoche, in der die politischen Freiheiten wenigen vorbehalten waren, bedeutete mehr Gleichheit auch mehr Freiheit für viele. Dies hat sich geändert. Heute ist nicht die Gleichheit der Menschen bedroht, sondern ihre Freiheit. Die Forderung nach mehr Gleichheit zeigt heute nur allzuoft ihr freiheitsfeindliches Gesicht. Eine rigorose Verwirklichung der Gleichheit bringt den Menschen um sein Recht auf Individualität." Ich habe damals als Beobachter dieser Diskussion die Überzeugung vertreten, man müsse zum Verständnis die latente Problematik der Grundwerte etwas tiefer in den Ursprüngen aufsuchen.
Das Grundgesetz setzte ganz bewusst an den Anfang der Verfassung die Grundüberzeugung von der Würde des Menschen: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen", wie der „Herrenchiemseer Verfassungskonvent" im August 1948 formulierte. Das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten ist die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft. Man hat freilich damals schon diesen - wie man meinte - „Abbau von Staatlichkeit" unter Hinweis auf die klassische Staatszwecklehre kritisiert. Dies bedarf gewiss einer wenigstens kurzen Reflexion.
Die Einigkeit in den Grundrechten war in den damaligen verschiedenen politischen Gruppie-rungen nicht zuletzt durch die gemeinsame Erfahrung von Unfreiheit, Zertreten der Men-schenwürde und Willkürherrschaft in den Jahrzehnten vorher getragen und vorgezeichnet. Auch wenn man sich nicht positiv in der näheren Bestimmung mancher Grundrechte einig war, so gab es aus der gemeinsamen Abwehr des nationalsozialistischen Gräuels und der stalinistischen Erfahrungen heraus gleichsam spiegelbildlich doch einen faktischen Konsens über das, was wir heute „Grundwerte" nennen. Darin war man sich einig: So etwas darf nie mehr geschehen. Die tatsächliche Übereinstimmung, welche ihren Sitz im Leben dem moralischen Erbe der Generation des Widerstandes verdankte, wurde besonders in den folgenden Jahren wenig in den geistigen Dimensionen entfaltet. Der äußere Wiederaufbau und der wirtschaftliche Wohlstand haben die Kräfte weitgehend absorbiert. Zweckrationale politische Bündnisse ließen manche Grundsatzfragen zurücktreten. Dies gilt wohl auch für die CDU: Die einheitsstiftende Persönlichkeit Konrad Adenauers und die gemeinsamen Interessen der regierenden Gruppen bzw. Parteien bildeten lange Zeit wirksame Integrationsfaktoren, welche eine vertiefende und explikative Interpretation der „Grundwerte" eher entbehrlich erscheinen ließen.
In diesem Sinne habe ich damals die Hintergründe zu erhellen versucht. Man hat in der öko-nomischen Prosperität auf die im Grundgesetz implizierten fundamentalen Überzeugungen vertraut, als ob diese „Substanz" gefahrlos und unangefochten von der Gründergeneration mit ihren Erfahrungen den Nachkommenden einfach weitergegeben und gleichsam vererbt werden könnte. Man hat zu wenig mit den erfahrungsabhängigen Faktoren, dem Kompromisscharakter und der inneren zentrifugalen Sprengkraft in der „Übereinstimmung" bezüglich der Grundwerte gerechnet. Der äußere Wohlstand und die günstige politische Entwicklung täuschten eine „Selbstverständlichkeit" der ethischen Grundlagen vor, die faktisch jedoch langsam abbröckelte. Ich kann hier nicht auf die Ursachen eingehen, welche im politischen Feld allmählich zu dieser heimlichen Erosion wirklich gemeinsamer Grundwerte führten. Es ist jedoch augenfällig, dass die wirtschaftliche Rezession 1966/67 und die Protestbewegungen der Jugend und der Studentenschaft von 1968 das verborgene Defizit an den Tag brachten. Man wird nicht fehlgehen zu behaupten, dass auch die Kirchen von dieser unsichtbaren Auszehrung der geistigen und moralischen „Substanz" der Nachkriegszeit überrascht wurden. Sie waren vielleicht in jenen Jahren ohnehin auch selbst zu sehr mit inneren Problemen beschäftigt (Strukturfragen, Liturgiereform, Aufbau der Räte, „Demokratisierung" usw.).
Auch wenn in dieser Debatte manches wahltaktisch inspiriert war, so gab es doch einen tieferen Kern und wohl auch eine erkennbare Wende: Mit dieser Grundwertedebatte ging die Epoche des Aufbaus und der Konsolidierung der Nachkriegsgeschichte zu Ende, die geistig durch die gemeinsame Abwehr von Unmenschlichkeit im Nationalsozialismus sowie im Stalinismus geprägt war und die die darin implizierten und latenten Grundwerte für fast selbstverständlich gesichert hielt. Frühe Warnungen im Blick auf die Bedrohtheit der Übereinstimmung in den Grundfragen des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens wurden wenig gehört. Jetzt drängte das verborgene Defizit voll an den Tag. Dies ist m.E. bei der Grundwerte-Debatte Mitte der 70er Jahre und danach über die unmittelbar politischen Absichten hinaus deutlich geworden. Hier lag ein wirklich problemhaltiger Kern. Man hat gerade auch aus kirchlicher Sicht immer wieder versucht, diese Thematik über die politischen Auseinandersetzungen hinaus in ihrer prinzipiellen Bedeutung zu verfolgen.
Man kann im Rückblick gewiss feststellen, dass Helmut Kohl in dieser Debatte durchaus eine Bestätigung seiner eigenen gesellschaftlich-politischen Diagnose erblickte und das Thema deshalb auch immer wieder aufgriff. Dabei ist es konsequent, dass Helmut Kohl sich im Blick auf die ethische und auch religiöse Begründungsproblematik zurückhielt und er die unmittelbaren politischen Konsequenzen ansprach. Dies war aber kein prinzipielles Desinteresse, wie wir noch sehen werden. Es ist nämlich nicht zu verkennen, dass Helmut Kohl in seinen Ausführungen grundlegend immer wieder die unersetzliche Rolle der Kirchen unterstrich.
III. „Geistige Erneuerung" als grundlegende Forderung
Ich brauche jetzt und in diesem Zusammenhang nicht auf den gewiss problematischen, aber letztlich doch auch unersetzlichen Begriff „Grundwerte" einzugehen. Dies habe ich immer wieder gegenüber einem zu selbstverständlichen und einem prinzipiell negativen Gebrauch zu differenzieren versucht. Dasselbe gilt für alle Überlegungen, die in diesem Zusammenhang stehen, z. B. zum Ethos im freiheitlichen Staat, aber auch im Blick auf den Dienst, den die Kirchen für die Grundrechte leisten können und müssen.
An dieser Stelle und in den Grenzen dieses Beitrags möchte ich jedoch das zweite Schlüssel-wort aus der Situation um 1980 und danach aufnehmen, nämlich die „Geistige Erneuerung". Es spielt bei Helmut Kohl in diesen Jahren eine immer größere Rolle. Dabei ist der Unter-schied in der Wortwahl m.E. nebensächlich. Es ist manchmal von der „geistigen Wende", mitunter auch von einer „geistig-moralischen Wende" usw. die Rede. Im Vordergrund geht es jedoch um eine „Erneuerung der geistig-moralischen Grundlagen der Politik", wie Helmut Kohl im Wahlkampf 1980 hervorhebt. Immer wieder betont er mitten in wahltaktischen Überlegungen die tiefere Wurzel seiner Forderung: „Am Ende der 70er Jahre haben wir nicht mehr Übereinstimmung im Grundsätzlichen als in den Anfängen unserer Republik, sondern weniger ... Eine wichtige Aufgabe für die Union sehe ich darin, die geistigen Grundlagen einer wehrhaften Demokratie wieder plausibel und überzeugend zu begründen und daraus die notwendigen politischen Konsequenzen zu ziehen. - Wir brauchen eine Politik, die den jungen Menschen wieder eine Antwort und eine Aufgabe und damit wieder Zukunft und Hoffnung gibt." Damit ist die Verknüpfung der Forderungen nach einer geistig-moralischen Wende und einer Erneuerung der geistigen Grundlagen der Politik eng mit der Grundwerte-Debatte und mit Helmut Kohls Beteiligung an ihr verbunden. Es ist m.E. zu einfach, wenn man diese Forderungen mit den bekannten „Tendenzwende-Kongressen" z. B. in München (1974) in Verbindung bringt und darin weitgehend eine Anlehnung der desillusionierten Konservativen in der Union an solche Trends sieht. Eine Analyse dieser Zusammenhänge aus den Akten wäre gewiss eine lohnende Aufgabe.
Die allgemeine und grundsätzliche Thematik dieser geistig-moralischen Erneuerung mag gewiss in der praktischen Alltagspolitik zurücktreten. Es wurde ja schon deutlich, dass Helmut Kohl diese und ähnliche Forderungen eher in der praktischen Politik umzusetzen versucht. Hier ist ja auch die FDP eine mitentscheidende Säule in der Regierung. Bei manchen Themen ist auch durch den Föderalismus die Mitwirkung der A-Länder und damit der SPD notwendig, z.B. in der Bildungs- und Schulpolitik. Ich glaube darum, dass Hans-Peter Schwarz in der erwähnten politischen Biografie Helmut Kohls zu einseitig urteilt, wenn er schreibt: „In den Regierungserklärungen der Wendemonate taucht eine derartige Forderung (geistig-moralische Wende) dann aber nur noch bezüglich der Haushaltspolitik auf. Auf dem CDU-Bundesparteitag in Köln ruft der Kanzler zwar nochmals zur ‚Erneuerung der geistig-moralischen Grundlagen der Politik‘ auf, doch ist das nach Lage der Dinge lediglich ein Platzpatronenschießen. Der Realist Helmut Kohl weiß genau, dass das Thema nur mit gestopften Trompeten gespielt werden darf. Bald kehrt sich der Slogan dann auch gegen ihn. Enttäuschte konservative Intellektuelle kritisieren das Ausbleiben der Wende ... Jetzt wird der Begriff ‚geistig-moralische Wende‘ vor allem dem Bundeskanzler um die Ohren geschlagen, obschon dieser ihn nach dem Regierungswechsel nur noch ganz selten verwendet hat."
Kohl hat wohl von Anfang an, aber auch immer deutlicher gewusst, dass die Grundwerte und jede Form einer Geistigen Erneuerung nicht auf dem politischen Parkett produziert und ver-waltet werden können. In diesem Zusammenhang sagt Kohl am 1.10.1976: „Die Grundwerte unserer Verfassung stehen in einem engen Zusammenhang mit dem von den Kirchen tradier-ten Menschenbild. Man kann wohl sagen, dass es ohne die historischen Leistungen der Kirche den modernen Staat in seiner heutigen Gestalt nicht gäbe. Auch wer nicht das religiöse Selbstverständnis der Kirchen teilt, sollte nicht verkennen, dass ihre Aufgabenstellung für eine an Grundwerten orientierte politische Ordnung von großem Gewicht ist. Sie sind - trotz aller ihrer inneren Schwierigkeiten - nach wie vor die großen Ordnungskräfte, die in einer säkularisierten Welt die Frage nach einer die Gesellschaft übersteigenden Wirklichkeit nach einer letzten Sinngebung der menschlichen Existenz offenhalten. - Heute geht es darum, dass beide Seiten, die Politik und die Kirchen, aufeinander hören. Die CDU braucht und sucht das freundschaftliche Miteinander mit den Kirchen. Ich bin überzeugt, dass dieses zum Nutzen aller ist." Zeugnisse dieser Art lassen sich leicht vermehren.
In diesem Zusammenhang sind die Kirchen über diese allgemeinen Äußerungen auch ganz konkret zum Gesprächspartner Helmut Kohls geworden. Immerhin wird dieser Dialog spätestens zwei Jahre nach der Regierungsübernahme durch Helmut Kohl zunächst einmal zwischen dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Höffner, und dem Bundeskanzler intensiviert, also im Jahr 1984. Der Biograf Kardinal Höffners, Prof. Dr. Norbert Trippen, berichtet in dem soeben erscheinenden zweiten Band, dass Kardinal Höffner im September 1984 dem Bundeskanzler ein sechsseitiges Manuskript „Überlegungen zu einer politischen Gesamtkonzeption" überreicht hat. Hier nimmt Kardinal Höffner Bezug auf die Voraussetzungen der Grundwerte-Debatte und einer Erneuerung der geistigen Grundlagen der Politik, wenn er zuerst die sittliche Grundlegung anspricht und danach mehr im Detail das Ordnungsgefüge in Gesellschaft und Staat skizziert. „Seit Jahren breitet sich in unserem Volk eine bedrohliche Verwirrung der sittlichen Wertüberzeugung aus, was nicht ohne Folgen für den politischen Bereich geblieben ist." Es kam daraufhin zu einem Gespräch der deutschen Bischöfe (acht Teilnehmer) mit Bundeskanzler Kohl am 15.11.1984 in Bonn. Ich habe selbst an diesem Gespräch teilgenommen und ein schriftliches Statement zu den Aspekten einer „Geistigen Erneuerung" formuliert, in dem es um grundlegende Perspektiven vom christlichen Menschenbild her geht (Ja zum ganzen Leben des Menschen am Anfang und am Ende; Wichtigkeit der Überlieferung und der Geschichte für den Menschen; letzter Halt des Men-schen für sein Gewissen und für sein Leben; Bewältigung negativer Erfahrungen wie Schuld, Leid, Krankheit und Tod; Solidargemeinschaft und Teilen der Lebenschancen; Übernahme von Verantwortung; Rolle der Alltagstugenden; Annahme der Endlichkeit; Selbstbeschrän-kung und Bescheidenheit). Das Gespräch nahm wohl folgenden Verlauf: „Der Herr Bundes-kanzler hatte am Schluss der Begegnung vom 25.5.1984 (ein erstes Treffen) den Wunsch nach einer baldigen Fortsetzung bekundet und dabei erkennen lassen, dass er es vorziehen würde, ohne eine feste Tagesordnung ein allgemeines Gespräch zum Thema ‚Geistige Erneuerung‘ zu führen. Auf unserer Seite ist von mehreren Bischöfen neben der Bereitschaft ausführlich über die Geistige Erneuerung zu sprechen, die Notwendigkeit zum Ausdruck gebracht worden, auch wichtige konkrete politische Punkte aus bischöflicher Sicht anzusprechen. Konkret wurden die Krankenhausfinanzierung, die Verbreitung von Videokassetten und die Ausländerfrage genannt. Darüber hinaus könnten von unserer Seite der Lebensschutz, die Familienpolitik und auch die Entwicklung der neuen Medien nicht unerwähnt gelassen werden."
Das Thema blieb auch noch später Kohls Anliegen. Eine Vorlage zur Sitzung des Ständigen Rates der Deutschen Bischofskonferenz am 24.6.1985 berichtet: „Der Bundeskanzler hat in Erwägung gezogen, eine Gesprächsrunde zu bilden, die sich mit dem Problem der Geistigen Erneuerung befasst. Es soll keine offizielle Kommission sein; vielmehr sollten sich Personen aus Politik, Wissenschaft und Kirche in gewissen Abständen zusammensetzen und ihre Gedanken zu dem Thema der Geistigen Erneuerung austauschen. Das Ergebnis ihres Nachdenkens sollen sie dem Bundeskanzler und den am Thema interessierten Politikern zuleiten."
Damit ist deutlich geworden, dass Helmut Kohl selbst die Fortsetzung des Themas wünschte und dafür auch bestimmte Initiativen ergriffen hat. Es ist also nicht so, dass diese Themen für Helmut Kohl gleichsam nur wahltaktischen Überlegungen entstammten oder eben nach der Übernahme der Regierungsverantwortung nicht mehr wichtig erschienen. Das Gegenteil ist der Fall.
Es bedürfte neuer Studien, vor allem in den Archiven, um den genaueren Verlauf und weitere Kontakte im Blick auf die Thematik aufzuweisen. Dafür kommen vor allem auch die regelmäßigen Gespräche der Kirchen mit der Bundesregierung in Frage. Gewiss wurde die grundsätzliche Erörterung der Themen „Grundwerte" und „Geistige Erneuerung" oft den praktischen Aufgabenstellungen „geopfert", wie schon die obige Skizzierung des Gesprächsverlaufes vom 15.11.1984 zeigt. Aber das Thema behauptete sich - wie die Grundwerte-Debatte.
IV. Erbe als Auftrag
Es besteht insgesamt kein Zweifel, dass vor allem das Thema „Grundwerte" immer wieder - auch bis in die jüngste Gegenwart hinein - eine größere Beachtung im Vorfeld und während der Wahlkämpfe vor allem zum Bundestag fand. Es wurde aber auch immer wieder deutlich, dass es insgesamt schwierig war, bei den Politikern aller Parteien das Thema auch auf mittlere Sicht als Priorität anzuerkennen. Der gesellschaftliche und darum natürlich auch politische Pragmatismus vergrößerte im Unterschied zu früher die Ausgangslagen, die Standorte und die Meinungsdifferenzen, in gewisser Weise auch das spezifische Interesse für relativ subtile Grundsatzprobleme. In diesem Sinne kamen die grundsätzlichen Gespräche darüber entweder zu kurz oder aber man verzichtete überhaupt darauf. Man bevorzugte auch aus Sorge vor der folgenlosen Abstraktheit einer mehr allgemeineren Aussprache und Diskussion, die in Gefahr standen, notwendige Gespräche über die jeweiligen „heißen Eisen" aufzuschieben oder nicht mehr ausreichend zu behandeln, ganz konkrete politisch-pragmatische Probleme und Themen.
Dies gilt bis heute. Die Politik hat zwar durchaus vielfältiges Interesse an Gesprächen über Werte und Wertorientierungen, z. B. auch im Kontext der Erstellung von Parteiprogrammen. Aber sehr oft bricht nach meiner Erfahrung der Dialog darüber bald ab. Es besteht aber kein Zweifel, dass das Thema der Grundwerte und der Geistigen Erneuerung auf der Tagesordnung des gesellschaftlichen Gespräches, nicht nur zwischen Kirchen und Parteien, bleiben muss.
Es ist das Verdienst von Helmut Kohl in der zweiten Hälfte der 70er Jahre und in der ersten Hälfte der 80er Jahre, also gerade auch im Zusammenhang der Übernahme von Regierungs-verantwortung zum 1.10.1982, diese Aufgaben in ihrer Bedeutung gesehen und immer wieder auch mit praktischen Initiativen befördert zu haben. Auch wenn dies nicht ausreichend gelungen ist, so bleibt dies im Rückblick ein Desiderat für heute und morgen. Dafür ist dem Altbundeskanzler Dr. Helmut Kohl auch heute noch herzlich zu danken. Sein Erbe ist auch hier Auftrag.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Im Original sind Fußnoten und Anmerkungen enthalten.
Hinweis: Der Text wurde von Prälat Dr. Karl Jüsten, Leiter des Kommissariates der Deutschen Bischöfe, Berlin, verlesen.
Die Rede als Download auf den Seiten der Konrad-Adenauer-Stiftung (Link)
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz