An vielen Orten Europas, vor allem in Polen und Deutschland, versammeln sich in diesen Wochen Menschen, um den 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands zu begehen. In unserem Land gedenken wir des Widerstands gegen Adolf Hitler am 20. Juli 1944 durch entschlossene und tapfere Männer. Es sind jeweils Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Prägung, Menschen, die auf verschiedenste Weise mit der Unheilsgeschichte des Nationalsozialismus und seinen zerstörerischen Folgen verbunden sind, Menschen aber auch – zumal jüngere –, die erlebt haben, wie aus den Ruinen heraus neues Leben wuchs. In dieses Grenzen überschreitende Gedenken und Nachdenken ordnet sich auch die heutige Veranstaltung ein.
Der tapfer-verzweifelte Aufstand in Warschau, der von August bis Oktober 1944 andauerte, ist eine Tat von tragischer Größe. Nach fünf Jahren des Terrors und der Vernichtung unter der deutschen Besatzung und vor dem nahenden Horizont der janusgesichtigen und ambivalenten Befreiung durch die Sowjetarmee hatte sich die legitime Regierung Polens aus Exil und Untergrund heraus zum Aufbegehren entschlossen. Mit ungenügender Bewaffnung, aber mit umso größerem Einsatzwillen stellte man sich, unterstützt von der Warschauer Bevölkerung, den verhassten Besatzern entgegen. Damit wurde ein unmissverständliches Zeichen gesetzt: Die polnische Nation war trotz aller Gewalt der deutschen Okkupanten lebendig und bereit zur Gegenwehr. Sie unterstrich mit dem Aufstand den Anspruch, ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. Die wütende Reaktion der überraschten deutschen Besatzungsmacht führte in einem mehrwöchigen geradezu apokalyptischen Ringen zu Abertausenden von Toten und der nahezu vollständigen Zerstörung Warschaus. Die Bevölkerung der Stadt wurde nach der Niederschlagung der Erhebung zur Zwangsarbeit verschleppt. Ungefähr 50.000 Menschen traten ihren Weg in deutsche Konzentrationslager an.
Es ist daher leicht zu verstehen, dass der Wiederaufbau Warschaus nach dem Krieg zum Symbol des Überlebens der polnischen Nation wurde. Dabei lebte in der polnischen Bevölkerung die Erinnerung an den Aufstand fort – und traf bisweilen auf den heftigen Widerstand der kommunistischen Machthaber. Denn die Erinnerung an eine Erhebung, die weder von den polnischen Kommunisten inspiriert noch von der im Anmarsch befindlichen Roten Armee unterstützt worden war, unterminierte das offizielle Geschichtsbild der Volksrepublik Polen, das Befreiung und Widerstand ausschließlich den roten Farben zuordnete. So wurde die Pflege der Erinnerung an den Warschauer Aufstand zu einem Mittel des geistigen Widerstands gegen den Kommunismus und die sowjetische Herrschaft. In Dankbarkeit möchte ich auch hier den Chronisten der Besatzungsgeschichte und Erforscher der beiden Warschauer Aufstände, den späteren polnischen Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, mit seinem Werk nennen.
Man mag geneigt sein, in dieser im historischen Bewusstsein Polens verankerten Deutung der Ereignisse auch so etwas wie verklärende Züge zu erkennen. Ein solcher Blick aus der Distanz sollte jedoch nicht übersehen, welcher Geist der Freiheit und der Selbstbehauptung gegen alle Unterdrückung sich hier manifestierte. Es gibt eine geschichtliche Linie, die 1944 und 1989/90 miteinander verbindet. Sie lässt uns erkennen: Ganz Europa und nicht zuletzt wir Deutschen haben dem freiheitsbestimmten Widerstandswillen des polnischen Volkes unendlich viel zu verdanken. Der bitteren Opfer zu gedenken, die die Polen für die Freiheit erbracht haben, ist deshalb gerade an diesem Tag unser aller Pflicht vor der Geschichte. Gerade für uns Deutsche verbietet sich hier jede Form der Relativierung.
Mit Trauer und großer Nachdenklichkeit sehen wir die Auswirkungen der deutschen Okkupation. Die auf Vernichtung zielende Gewalt säte Hass und vergiftete die Beziehungen zwischen unseren Völkern auf lange Jahre. Umso dankbarer dürfen wir sein, heute, 60 Jahre später, zusammen mit unseren polnischen Partnern in einem geeinten Europa für eine gemeinsame Zukunft wirken zu können. Diese Gemeinsamkeit ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, der Weg dahin war lang. Viele haben daran mitgewirkt, dass er allen Verletzungen zum Trotz möglich wurde. Ich erinnere hier in besonderer Weise an die polnischen Bischöfe, die sich im Jahre 1965 an ihre deutschen Mitbrüder wandten, um mit ihrem mutigen Wort „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ eine Bresche in die Mauer zwischen unseren Völkern zu schlagen.
Das inzwischen Erreichte ist auch heute Anlass zur Freude. Und es ist zugleich Auftrag für die Zukunft. Denn der Weg zur Aussöhnung ist nicht abgeschlossen, und er bleibt beschwerlich. Kontroversen und Konflikte auch aus der jüngsten Zeit rufen in Erinnerung, dass das Vergangene nicht einfach vergangen ist. Immer wieder begegnen wir dem Unabgegoltenen der Geschichte. Deren Belastungen wirken fort. Die so genannte „Vergangenheitsbewältigung“ ist gut gemeint, kann aber auch in die Irre führen.
So bleibt uns nach wie vor das mühsame Streben nach gemeinsamer Erinnerung von Polen und Deutschen aufgetragen – nach der „Heilung des Gedächtnisses“, von der Papst Johannes Paul II. in anderem Zusammenhang gesprochen hat. Schon Karl Jaspers hat in seinen berühmten Vorlesungen „Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands“ (1946, Nachwort von 1962, Taschenbuchausgabe 1996, 81f.) darauf hingewiesen, von wie zentraler Bedeutung es ist, angesichts von Schuld und Gewalt die Sprache wiederzugewinnen, eine gemeinsame Sprache zu finden. So paradox es klingen mag: Das erste Wort dieser Sprache ist das gemeinsame Schweigen angesichts der unzähligen Opfer und der Schuld der Täter. In einem tieferen Sinne ist es ein gemeinsames Schweigen angesichts der Erlösungsbedürftigkeit der Welt. Aus solchem Schweigen heraus erwächst dann ein gemeinsames Gedenken, ein gemeinsames Innehalten und letztlich jene Sprache, in der unsere Geschichte, die Geschichte von Tätern, Opfern, Zuschauern oder Nachgeborenen, angemessenen Ausdruck findet.
Wahrhaftigkeit und das Bemühen um Gerechtigkeit für die Opfer sind dabei auf allen Seiten unerlässlich. Und dieses Ethos ist gerade dort gefordert und zugemutet, wo es mit eigenen Schmerzen verbunden ist, und wir selbst uns als Teil der Gewaltgeschichte in den Blick nehmen müssen. Nur so können wir Zuversicht haben.
Wenn auch ganz grob gezeichnet, scheinen in diesen knappen Bemerkungen die Umrisse jener Kultur der Behutsamkeit auf, von deren Pflege auch für das künftige Miteinander von Polen und Deutschen Entscheidendes abhängt. Für uns Deutsche ist es weiterhin unabdingbar, in der Art des Umgangs mit den Befindlichkeiten und Ängsten vieler unserer polnischen Nachbarn das bleibende Bemühen um Aussöhnung glaubwürdig zu machen. Vertrauen, zumal wenn es in Gewaltstürmen der Geschichte erschüttert wurde, braucht lange, um zu wachsen, und muss sich immer wieder neu bewähren.
Gerade vor diesem Hintergrund ist es gut und wichtig, dass sich der Bund der Vertriebenen – zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung – jenen zugesellt, die in diesen Wochen an den Warschauer Aufstand erinnern. Die Verbindung zum 20. Juli 1944 muss man nicht lange herbeireden, obgleich sie selten zur Sprache kommt. Mit der heutigen Veranstaltung gedenken die Vertriebenen nicht des Schicksals der eigenen Gruppe, sondern würdigen als Deutsche das Leiden und die Tapferkeit der Anderen – der Polen, die Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands geworden sind. So hoffe ich, dass diese Zusammenkunft zum Ort einer geschichtlichen Besinnung wird, die Misstrauen überwindet und die Völker einander näher bringt.
Mainz/Bonn 16. Juli 2004
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort!
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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