Der Schrifttext für die Katechese lautet im Kontext der Bergpredigt im Evangelium nach Matthäus (5,13-16):
„Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten.
Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen."
Jesu Hörer haben soeben die Seligpreisungen vernommen. Dabei ging es vor allem um die Verheißungen, die denen zuteil werden, die ihm als Jünger folgen. Mit dem betonten „Ihr" schließt der Abschnitt direkt an die letzte Seligpreisung an. Drei Bildworte bestimmen näher, was die Jünger sind: Salz der Erde, Licht der Welt, Stadt auf dem Berg. Damit sind zweifellos alle in der Gemeinschaft der Glaubenden gemeint, nicht etwa nur die Apostel oder die Verkündiger. Der Anschluss an die Seligpreisungen schafft eine Spannung. Da heißt es: „Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt." (5,11) Damit wird gesagt: Ausgerechnet ihr, die ihr verfolgt und geschmäht werdet, seid das Salz der Erde.
„Salz der Erde" ist ein Bild, das uns überrascht und zunächst etwas fremd ist. Es leuchtet nicht unmittelbar ein, was gemeint ist; gerade deshalb ist man aber sehr gespannt. Wenden wir uns zunächst dem Salz zu. Salz ist für den Menschen vor allem der antiken Kulturen noch viel kostbarer gewesen, als wir es heute vermuten. Wegen der früher ungleichen Verteilung von Salzlagern gab es immer schon einen ausgedehnten Salzhandel. Die großen Salzstraßen und der Reichtum vieler Städte, in deren Nähe Salz gewonnen oder gehandelt wurde, deuten auch heute noch auf seine Wichtigkeit hin. Mangel an Salz erzwingt gelegentlich die Auswanderung ganzer Völker. Der Reichtum an Salz hat oft auch Kriege hervorgerufen.
„Brot und Salz" gelten in vielen Kulturen als Inbegriff der lebensnotwendigen Nahrung. Sie werden auch, z.B. bei den Griechen, als Zeichen der Gastfreundschaft gereicht. Im Judentum ist es geradezu ein symbolisches Bindemittel zwischen Mensch und Gott (vgl. Lev 2,13). In vielen Mittelmeerländern ist das Salz auch das Sinnbild eines Bündnisses. Das Salz hat aber vor allem eine große Bedeutung bei der Verarbeitung von Häuten und bei der Herstellung von Metallen, Papier und Farben. Im Alltag des Menschen hat das Salz die Bedeutung der Lebenskraft, aber auch der Abwehr von Dämonen. Deshalb erscheint es im Geburts- und Hochzeitsbrauchtum. So war es in der Antike Sitte, die Neugeborenen mit Salz einzureiben. Für die Nahrungsmittel hat das Salz eine konservierende Bedeutung, wie man besonders bei Fleisch, Fisch, Kraut und Käse sieht. Kraft hat das Salz vor allem dadurch, dass es Fäulnis abwehrt, gesund erhält, Würze und Geschmack gibt. Das ist wohl auch die Stoßrichtung des Vergleichs in dem Wort „Ihr seid das Salz der Erde".
Die Bildworte mit der Stadt auf dem Berg, dem Licht für die Welt und dem Salz der Erde erhalten dadurch eine besondere Bedeutung, dass gesagt wird: „Ihr seid das Salz, das Licht, die Stadt." Dies ist eigentlich eine ganz unerhörte Aussage. Viel verständlicher wäre es doch, wenn gesagt würde: „Ihr sollt es sein" oder „Ihr seid es vielleicht, wenn..." Aber hier steht ganz schlicht: „Ihr seid das Salz der Erde." Wir können deshalb zuerst erschrecken und möchten antworten: „Nein, das sind wir doch nicht, wir versagen doch zu oft, wir sind nicht selten zu mittelmäßig, wir werden doch selbst immer wieder schal und verbreiten nicht das Licht, das von uns ausgehen sollte." Es ist gut, wenn wir uns das eingestehen – aber trotzdem bleibt das Wort Jesu wahr: „Ihr seid das Salz der Erde."
Das Wort hat eine doppelte Struktur, die wir vielleicht oft nicht genügend beachten. Es ist einerseits Zuspruch, weil es uns wirklich das Salzsein bekräftigt. Es ist keine blasse Idee oder bloß eine künftige Hoffnung, sondern es ist wirklich und gibt dem Christen, der glaubt und getauft ist, eine ganz besondere Würde. Man spürt dies auch bei der Anrede als „Licht der Welt", die in jüdischen Texten entweder Gott selbst bezeichnen kann oder das, was besonders eng zu ihm gehört: die Tora (die Weisung), das Volk, den Tempel oder auch die Stadt Jerusalem. Die Bibel bringt auch mit diesem Bild die weltumfassende Heilsbedeutung Jesu Christi zum Ausdruck (vgl. Joh 8,12, vgl. aber auch Mt 4,15f.) Nun werden diese Würdenamen auf die Menschen bezogen, die in der Nachfolge Jesu stehen. Der Zuspruch besagt aber auch einen hohen Anspruch. Die Bilder vom Salz und vom Licht machen deutlich, dass Sein und Wirkung nicht zu trennen sind. Salzloses, schal gewordenes Salz wird weggeworfen und zertreten. Ein Licht, das nicht leuchtet, ist ein Widerspruch in sich. So verschränken sich Zuspruch und Anspruch. Die Christen sollen sein, was sie sind: Salz der Erde, Licht der Welt.
Jetzt wird es aufregend, denn ein solcher Satz, dass wir sein sollen, was wir sind, ist eine Herausforderung. Denn oft sind wir eben gar nicht Salz der Erde. Wir wehren nicht Fäulnis ab, sondern sind oft selber dekadent. Unser Glaube hat oft Schwindsucht. Wenn wir ihn nicht voll leben, macht er manchmal unzufrieden und beinahe krank. Unser Glaube ist auch manchmal gar nicht würzig und geschmackvoll. Er erscheint vielen eher als kraftlos, fade und matt, ist nicht attraktiv und steckt andere nicht an. Dies gilt für den Einzelnen, es gilt aber auch für die Gemeinschaft der Kirche, und zwar konkret vor Ort in der Pfarrgemeinde, in einem Land und vielleicht auch in der Welt. Deshalb haben manche auch gemeint, das Christentum vermodere und sei regelrecht am Aussterben. Das Wort vom „Tod Gottes" liegt in der Luft. Manchmal sind wir auch richtig schal, also langweilig, wenig überzeugend, ohne Antriebskraft und müde, weil unser Glaube nicht so recht zur Wirkung kommt. Natürlich kann er trotz unserer Bemühungen unwirksam bleiben. Man kann ihn ablehnen oder annehmen. Aber oft fehlt es schon am Bemühen, den Glauben wirklich lebendig werden zu lassen in der Welt. Vielleicht sind wir sogar dabei noch fromm. Aber wir ziehen uns dann oft in unsere Innerlichkeit zurück, in die Nischen und Falten unseres Lebens. Wir kultivieren dann vielleicht, allein oder mit anderen, unsere private Religiosität. Aber wir behalten sie gleichsam ganz bei uns. Sie wird nicht virulent, reißt niemand vom Hocker und ist auch kein Ärgernis. So kann der Glaube, wie man gelegentlich sagt, regelrecht verdampfen.
Dagegen protestiert das Jesuswort: „Ihr seid das Salz der Erde." Jetzt wird deutlich, was dieser anfangs fremd erscheinende Ausdruck will. Auch hier wird etwas ganz Wichtiges in einem Bildwort gesagt. Auf der einen Seite ist die Gemeinde von ihrer Mitwelt grundlegend unterschieden. Das Salz der Erde ist nicht die Erde. Das Licht der Welt ist nicht die Welt. Aber auf der anderen Seite ist auch entscheidend, wie wir die Kirche näher betrachten. Was die christliche Gemeinde ist, das ist sie nicht für sich. Das Salz der Erde soll die Erde genießbar machen, das Licht der Welt soll die Welt erhellen. Ein Christ, eine Gemeinde, eine Kirche, die für sich selbst existiert, ist ein Widerspruch in sich – so wie Salz, das nicht würzt, so wie Licht, das nicht leuchtet. Dieses Wort kann uns tief treffen. Denn manchmal müssen wir uns fragen, ob wir nicht sehr geschäftig und, wie man in Bayern sagt, gschaftlhuberisch sind. Es entsteht dann der Eindruck, wir seien überaus aktiv, reden über alles, erwecken den Eindruck, wir wären wirklich „fit" – bewegen aber in Wirklichkeit nichts vom Fleck. Die Worte „Hinausgeworfen werden", ein bei Matthäus häufiges Wort (vgl. 3,10; 5,29; 7,19; 13,42.48; 18,8f.), und „Zertreten werden" sind in der Bibel des Alten und Neuen Testaments Anklänge an das Gericht. So wird man durch Gott beim Gericht wie in einem Kelter zertreten (vgl. Jes 10,6; 25,10; 63,3.6). Das haben wir heute weitgehend vergessen. Wir tun so, als ob immer alles unendlich weiterginge. Nein, es gibt ein Ziel und ein Ende. Dann wird festgestellt, ob wir das Klassenziel erreicht haben. Dann wird Sein und Schein geschieden. So kommt es an den Tag, was wir wirklich sind.
So ist viel deutlicher geworden: Salz ist nicht Salz für sich, sondern Würze für Speise. So sind die Jünger Jesu nicht für sich, sondern für die Erde dar. Wenn wir nicht ganz radikal uns darum bemühen, sind wir so etwas Absurdes wie die Öllampe unter dem Scheffel. Matthäus betont auch (übrigens im Unterschied zur sogenannten Logienquelle, dies ist vielleicht für die Theologen aufschlussreich), dass das Licht auf dem Leuchter „allen im Haus" leuchten soll. Hier ist wirklich eine Bewegung in die ganze Welt hinaus. Die Werke der Christen haben missionarische Funktion. Matthäus unterstreicht in seinem Evangelium immer wieder die Bedeutung der Tat vor dem Wort. So ist für ihn auch die Erfüllung der Gebote Jesu eine Voraussetzung und ein zentraler Gehalt von Jüngerschaft und so erhält auch das Leben der Christen einen entscheidenden Rang. Ein solches Wort kann natürlich nicht im Ernst gegen das Wort und die Verkündigung ausgespielt werden. Es geht jedenfalls nicht um ein bloßes „Christentum der Tat". Aber das Wort darf nicht ein hohles Geplapper oder ein seelenloses Lautsprechergeplärr werden. Es muss sich immer wieder bewähren und bekräftigen in der Tat des Lebens. Darum spricht Matthäus auch ganz unbefangen von den guten Werken. Deswegen hatte Martin Luther übrigens immer wieder Schwierigkeiten mit diesem Text. Aber dies wäre ein Missverständnis, wie einer der besten Matthäus-Kommentatoren unserer Zeit, Ulrich Luz, bemerkt (Das Evangelium nach Matthäus I, Neukirchen 1985, 226). Ein katholischer Ausleger schreibt dazu: „Die Werke sind einfach das ins Leben eingedrungene und verwirklichte Licht. Sie sind gestaltgewordene Wahrheit, gelebter Glaube. Sie stehen nicht neben dem Glauben... Die guten Werke insgesamt sind das tätige, ... sich unablässig wie aus einem Vulkan verströmende christliche Leben." (W. Trilling, Das wahre Israel, München 1975³; Amt und Amtsverständnis bei Matthäus, in: Mélanges Bibliques, Festschrift für B. Rigaux, Gembloux 1969, Zitat: 106)
Der Evangelist betont im ganzen immer wieder sehr stark die Ehre Gottes (vgl. auch Mt 6,1-18). Das Leben der Christen soll als Zeugnis des Glaubens in der Welt zur Ehre Gottes wirken. Wenn Matthäus also die Bewährung in der Tat des Lebens fordert, dann ist dies kein totales Aufgehen in der Weltförmigkeit. Zugleich wird Gott hier zum ersten Mal im Evangelium „euer Vater im Himmel" genannt. Die Glaubenden von damals kannten dieses Wort aus dem jüdischen Gottesdienst. Damit verbindet sich unser Wort wieder mit der Bergpredigt. Denn dort ist die Beziehung zum Vater die zentrale Mitte des christlichen Lebens, vor allem auch im Gebet (vgl. 6,8f. 14f.; vgl. 6,1.4.6.18). Auch dies dürfte mindestens indirekt wiederum eine Warnung sein vor allem Aktionismus.
Wir müssen jetzt nochmals an einer Stelle unseren Text bedenken. Wir sprachen von einem fast fließenden Übergang von den Seligpreisungen zu unseren drei Bildworten. Besonders der betonte unmittelbare Anschluss „Ihr seid das Salz der Erde..." muss nochmals betrachtet werden. Man hat nämlich in der Geschichte der Auslegung, übrigens auch auf evangelischer Seite, dieses „ihr" oft auf den engeren Jüngerkreis, in seiner Verlängerung auf die Inhaber von Ämtern bezogen. Der Text handelt aber keineswegs und zuerst von Aposteln und Pfarrer, deren Predigtdienst im Vordergrund stünde. Für Matthäus ist es undenkbar, Zuspruch und Anspruch dieses Wortes nur für einen bestimmten Kreis von besonderen Gliedern der Kirche gelten zu lassen. Wenn wir so den Text verstehen würden, wäre dies ein wirkliches Missverständnis. Dieses Wort vom Salz der Erde gilt ausnahmslos für alle Christen. Danach werden wir auch einmal zur Rechenschaft gezogen. Die Verantwortung des Glaubens erstreckt sich sehr konkret auf unsere Welt.
Wir müssen auch nochmals auf die letzte Seligpreisung schauen. Sie handelt ja von den aktuell erfahrenen Beschimpfungen, Verfolgungen und Verleumdungen der Christen. Wer von seiner nicht-christlichen Mitwelt eine solche Behandlung erfährt, kommt vielleicht leichter auf den Gedanken, diese Umwelt zu meiden und in stiller Zurückgezogenzeit leben zu wollen. Christen in Diktaturen waren dazu manchmal geradezu verdammt. Dennoch gehört diese Bereitschaft des Menschen, anstößiger Zeuge des Glaubens zu sein in dieser Welt, zum Christsein. Es gibt keine christliche Identität ohne Werke. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Matthäus hier immer wieder dem Leser ein Dreiecksverhältnis nahelegt: Werke der Christen – Zeugnis vor der Welt – zur Ehre Gottes (vgl. dazu R. Heiligenthal, Werke als Zeichen, Tübingen 1983, 115-123; H. Frankemölle, Matthäus-Kommentar 1, Düsseldorf 1994, 215-217)
In diesem Zusammenhang muss gerade für den Christen von heute noch ein wichtiger Gedanke angefügt werden. Das Wort vom Salz ist ja gar nicht so unbestimmt und vage. Im ersten Augenblick mag es so erscheinen, aber im konkreten Kontext sind diese Bildworte sehr prägnant und verstehen sich beinahe von selbst. Dies gilt auch für einen wichtigen Zug im Symbolwort vom Salz. Salz muss Würze schaffen. Dies muss unter Umständen auch so geschehen, das zuerst Fäulnis beseitigt wird. Dies schmerzt vielleicht, beißt und kann auch wehtun. Erst dann kann der Heilungsprozess einsetzen. Deswegen ist das Wort vom Salz auch mit der Selbstkritik verbunden, dass wir uns immer wieder fragen lassen, ob wir würziges oder schales Salz sind. Das Wort vom Salz schreckt uns auf und stellt uns die Frage, ob wir angepasst sind, letztlich nur Echo dessen, was ohnehin schon ist, oder ob wir mit unserer Botschaft des Evangeliums auch den Mut haben aufzufallen, ja vielleicht anzuecken. Schließlich ist dieses Evangelium nicht zu trennen vom „Wort des Kreuzes". Dieses ist nach dem hl. Paulus den Weisen dieser Welt, ob Juden oder Griechen, Torheit und Ärgernis (vgl. 1 Kor 1,20-31). Wehe wenn wir uns dieser elementare Herausforderung des christlichen Glaubens nicht stellen. Es gibt heute täglich im individuellen und öffentlichen Leben Proben, in denen wir dies erfahren: die Treue in der Ehe, der Schutz des Lebens, der Verzicht auf die Gewalt, die Solidarität mit den Schwachen.
Diese wenigen Sätze sind beglückend und erschreckend zugleich (dazu auch F. Zeilinger, Zwischen Himmel und Erde. Ein Kommentar zur „Bergpredigt", Matthäus 5-7, Stuttgart 2002, 58-63). Ein Christentum, das sich nicht in die Welt hineinbewegt, erweist sich als kraftlos. In Jesu Fußstapfen gehen zu wollen, ist und bleibt ein riskantes Unternehmen. Wir werden auch gewarnt: Wenn der Christ nicht mehr wirklich Christ ist, dann geht man über ihn hinweg. Er hat ja auch nichts Neues und Originelles, Unverbrauchtes und Eigenes zu bieten. Dieser Text sagt etwas ganz Grundlegendes aus über das Christsein in Gegenwart und Zukunft. Christentum verwirklicht sich in dieser Welt, die eine hohe Organisationsdichte hat, gewiss auch mit Hilfe von Strukturen, Agenturen und Institutionen. Es wäre töricht, wenn wir dies verachten wollten. Aber im Ernst sind sie alle doch wiederum nur Krücken, die uns auf die Beine helfen sollen. Heute und in Zukunft kommt es im Blick auf das Überleben des christlichen Glaubens zunächst und zuerst auf den einzelnen Zeugen an, der wirklich Salz der Erde, Licht der Welt und Stadt auf dem Berge ist. Der künftige Christ wird in ganz elementarer Weise ein radikaler Zeuge, ein entschiedener Jünger Jesu Christi sein oder er ist nicht mehr. Wir müssen uns vor allen Sachleistungen und funktionalen Aufgaben selber in das Leben des Glaubens einbringen. Dies ist die Natur des Zeugen. Er ist unersetzlich. Nur er kann für etwas eintreten und in die Bresche springen. Der Arm der Kirche ist nicht zuerst die Institution, so unentbehrlich diese ist, sondern eben das Lebenszeugnis des einzelnen Christen und lebendiger Glaubensgemeinschaften in unserer Welt. Sie erreichen für dieses Zeugnis Orte, wo auch ein noch so geschickt organisierter „Betrieb" nicht hinkommt. Ich denke nur an Beruf, Ehe, Familie und öffentliche Verantwortung. In der modernen Welt braucht es immer mehr zuerst dieses ansteckende Zeugnis. Diese Zeugen sind die Partisanen Gottes in unserer modernen Welt. Vielleicht sind wir in Zukunft mehr Minderheiten. Aber bewegliche Minderheiten verändern mehr als große Kähne, die mühselig zu wenden und zu manövrieren sind. Dies muss bei diesem Weltjugendtreffen an vielen Beispielen, besonders auch im folgenden Gespräch, vertieft und zugleich konkretisiert werden.
Jetzt ist es Zeit, mit der Auslegung wieder zurückzutreten und ganz den Text, nun vielleicht mit neuer Evidenz, aufgehen zu lassen. Der Text ist wichtiger als die Auslegung. Er spricht am besten für sich selbst.
Es ist gut, zu dem Kernsatz „Lasst euch mit Gott versöhnen" (2 Kor 5,20) den Kontext vor Augen zu haben. Er lautet (5,14-21):
Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben. Er ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde. Also schätzen wir von jetzt an niemand mehr nur nach menschlichen Maßstäben ein; auch wenn wir früher Christus nach menschlichen Maßstäben eingeschätzt haben, jetzt schätzen wir ihn nicht mehr so ein. Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.
Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat. Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute. Wir sind also Gesandte an Christi Statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch mit Gott versöhnen! Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.
Auch wenn es ein klein wenig nach theologischem Hörsaal oder gar schulmeisterisch klingt, lassen Sie mich ein paar Worte sagen über den zweiten Korintherbrief des hl. Paulus. Wenn man länger mit ihm vertraut wird, entdeckt man seine große Bedeutung. Manche Schriftausleger, die sich viele Jahre mit ihm beschäftigt haben, sagen uns, er sei bis in die Textgestalt hinein einer der schwierigsten, aber auch theologisch einer der schönsten Briefe im Neuen Testament. Paulus hatte große Schwierigkeiten mit der Gemeinde in Korinth, die er gegründet hatte. Seine Gegner sind in die Gemeinde eingedrungen. Er macht einen Zwischenbesuch, reist nach einem Eklat und tief enttäuscht wieder ab und schreibt den sogenannten Tränenbrief, in dem er offenbar seiner Enttäuschung und seinem Zorn freien Lauf lässt. Zugleich schickt er seinen bewährten Mitarbeiter Titus als persönlichen Boten nach Korinth. Der Brief und der Bote tun ihre Wirkung. Die Gemeinde denkt über ihre Feindseligkeiten nach und möchte die gestörte Beziehung zu Paulus wieder in Ordnung bringen. Paulus gibt sich auch großmütig und friedfertig. Damit ist auch schon das Thema Versöhnung angeschlagen.
In den letzten Jahren ging es im weltweiten ökumenischen Gespräch, besonders zwischen der lutherischen und der katholischen Kirche, um eine Einigung in den Grundwahrheiten der sogenannten Rechtfertigung. Über dieser elementaren Streitfrage, wie der Mensch gerade in seinen Unzulänglichkeiten und bei seinen Verfehlungen, ja in seiner Verlorenheit gerecht jemals und immer wieder werden kann vor Gott, ist die abendländische Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts ausgebrochen. Es wird vermutlich als Meilenstein in der evangelisch-katholischen Geschichte der Entfremdung und der Versöhnung angesehen werden, dass am 31. Oktober 1999, dem Erinnerungstag von Luthers Veröffentlichung der Ablass-Thesen an der Schloßkirche zu Wittenberg (Reformationsfest), in Augsburg eine fundamentale Übereinstimmung in Grundwahrheiten dieser über Jahrhunderte währenden Belastungen möglich geworden und feierlich unterzeichnet worden ist.
Paulus verwendet für dieses Gerechtwerden des Menschen vor Gott verschiedene Begriffe und Wörter. Er spricht zentral und vielleicht am tiefsten von „Rechtfertigung". Aber er kann dasselbe in einer anderen Perspektive auch „neues Leben", „Erlösung", „Befreiung", „Wiedergeburt" und schließlich „Versöhnung" nennen. Dieses Wort ist uns vielleicht geläufiger als die anderen Leitworte. Wir wissen aus dem Alltag, was es heißt, unversöhnlich zu sein und sich zu versöhnen. Aber so oft kommt das Wort auch bei Paulus nicht vor. Es begegnet uns freilich überhaupt nur bei ihm. Von den sechs Stellen kommt das Verbum dreimal in unserem heutigen Text vor (vgl. 2 Kor 5,18.19.20, vgl. auch 1 Kor 7,11 und zweimal Röm 5,10). Das Substantiv „Versöhnung" findet sich viermal beim hl. Paulus, davon auch wiederum zweimal in unseren Versen (vgl. 2 Kor 5,18.19 und Röm 5,11; 11,15). Es ist also beim hl. Paulus gewiss ein sehr mit Bedacht gewähltes Wort. Dabei steht fast immer die Beziehung des Menschen zu Gott im Mittelpunkt.
Das Wort das wir mit „versöhnen" wiedergeben, hat im Griechischen zunächst die Grundbedeutungen tauschen, vertauschen, verändern, anders machen. Dies wird näher konkretisiert, wenn wir einen unseligen Zustand zum Besseren hin ändern, Feindschaft gegen Freundschaft austauschen, Krieg durch Frieden ersetzen. In 1 Kor 7,11 steht das Wort z.B. auch für die Überwindung von Unfrieden in der Ehe. Dabei fällt uns auf, dass in 2 Kor 5,20 von regelrechten „Gesandten" die Rede ist. Es geht darum, dass der „Gesandte" in einer wichtigen Mission erscheint. Dieses Wort hat einen geradezu feierlichen offiziellen Klang. In der Tat ist der Gesandte ein bevollmächtigter Vertreter seines Auftraggebers. Wir werden an kaiserliche Gesandtschaften der damaligen Zeit erinnert, die im Auftrag der höchsten Autorität unterwegs sind, Verhandlungen führen und gelegentlich auch Verträge oder gar Bündnisse schließen. In der Predigt und der Seelsorge des hl. Paulus kommt also Gott selbst zu Wort. Was Gott durch Jesus Christus tat, kommt durch den Verkündiger zur Sprache und kann nur auf diesem Wege die Menschen verändern. Dabei fällt auf, dass die angemessene sprachliche Gestalt für diese Botschaft nicht – wie man es vielleicht meinen könnte – so etwas wie ein Befehl ist, sondern Paulus nennt dies mit großer Betonung eine Bitte: „Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch mit Gott versöhnen." Dieser Aufruf, sich doch versöhnen zu lassen, zielt unmittelbar auf die Gemeinde in Korinth. Die Korinther wissen auch mehr und mehr, dass sie in Paulus einen solchen bevollmächtigten, autorisierten Träger der Versöhnungsbotschaft haben und brauchen. Dabei wird die ganze weite Theologie der Versöhnung angesprochen, wenn z.B. gesagt wird: „Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat..." Es gibt geradezu eine kosmologische, also auf die ganze Welt und das Weltall ausgerichtete Verkündigung dieser Botschaft. Gleichzeitig wird sie streng auch auf den einzelnen Menschen hin ausgesagt. In dieser Hinsicht handelt Paulus in einzigartiger Weise von seinem apostolischen Dienst, in dessen Zentrum die Versöhnung steht. Darum kann Paulus auch viele Leiden annehmen und tragen (vgl. 2 Kor 6,1-10).
Wenn man den Text genauer ansieht, kann man drei Ebenen feststellen. Sie gehören zusammen, unterscheiden sich aber doch jeweils:
Zuerst geht es in den Versen 19 und 21 um das Versöhnungshandeln Gottes. Gott hat selbst die Initiative ergriffen und von sich aus den Graben überwunden, der sich zwischen dem Menschen und ihm aufgetan hatte. Dadurch ist auch die ganze Sündenlast und Negativbilanz der Menschheit getilgt worden.
Dass Versöhnung möglich ist, hat Paulus am eigenen Leib erfahren. Er hat sich ja der Botschaft Jesu Christi widersetzt und die Christen verfolgt. An ihm selbst hat Gott augenfällig demonstriert, was es bedeutet, eine unheilvolle Situation zum Besseren zu verändern und aus Feinden Freunde zu machen. Ja, Gott hat ihn künftig zu einem besonders fähigen und bevorzugten Botschafter bestimmt, der die Kunde von der Versöhnung in alle Welt hinaustragen soll.
Das Versöhnungsgeschehen im Tod Jesu Christi am Kreuz ist ein einmaliges Ereignis in der gewesenen Geschichte. Wenn diese Botschaft die Menschen erreichen soll, an die es gerichtet ist, bedarf es der ständigen Vergegenwärtigung. Dies geschieht für Paulus nicht nur, aber vorwiegend in der Verkündigung. Darum gehört die Predigt ganz tief in den Vollzug der Versöhnung hinein. In der Verkündigung des Paulus werden Gottes Wort und Christi Stimme laut (vgl. 5, 20). Dabei vertraut Paulus nicht primär dem starken Wort, wie es ein Befehl wäre, sondern eher einer schwächlich erscheinenden Gestalt des Wortes, die aber eine eigene „Macht" in sich trägt, nämlich der inständigen Bitte. Dahinter steht eine tiefe Theologie. Denn diese inständige Bitte spiegelt etwas von dem armen Jesus am Kreuz. Auch wurde Paulus wegen seines schwächlichen Erscheinungsbildes zeitweise von den Korinthern geradezu lächerlich gemacht. Aber eine solche inständige Bitte hat es in sich. Auch Jesus ist bei aller Verlassenheit von Gott und den Menschen nicht im Tod geblieben.
Jetzt gehen uns die ganze Wucht und die volle Tiefe unseres Leitwortes für die Katechese auf: Lasst euch mit Gott versöhnen! Dies ist gewiss ein Aufruf, der irgendwie an alle Hörer des Evangeliums Jesu Christi ergeht. So hat er gewiss auch eine missionarische Bedeutung. Aber konkret – und Versöhnung ist zunächst immer konkret – geht dieser Ruf an die Korinther. Paulus erinnert sie daran, dass sie endlich das nachvollziehen und gleichsam nachholen, was Gott in Jesus an Versöhnung für die Welt gestiftet hat. Paulus erinnert damit aber auch daran, dass die Gemeinde und er selbst sich versöhnen und damit den heftigen Konflikt besiegeln sollen. Sonst wäre ja irgendwie diese Botschaft der Versöhnung für die ganze Welt unglaubwürdig, wenn man im Inneren der Kirche heillos untereinander zerstritten ist. Wir kennen dies nicht nur von der Geschichte der Spaltungen in der Kirche durch die Jahrhunderte, sondern auch von den Streitigkeiten und Konflikten in unseren eigenen Gemeinden und Gemeinschaften.
Damit können wir zur wichtigen zentralen Aussage von der Versöhnung zurückkehren. Versöhnung setzt eine Situation der Friedlosigkeit, ja manchmal auch der Unversöhnlichkeit voraus. Wir kennen dies alle. Wir drücken uns davor, Meinungsverschiedenheiten mit legitimen Mitteln auszutragen. Wir sind Meister im Verdrängen. Wir schieben eigene Schuld auf andere. Bei manchen Problemen drücken wir uns vor der Einsicht in eigene Mitschuld und wollen andere an den Pranger stellen. Dies gilt in den kleinen und großen Lebensbereichen. Es gibt eine Verweigerung der Einsicht aus der ein Lernprozess entstehen kann. Heute sind viele Beziehungen unter den Menschen zwischen Individuen, Stimmen, Rassen und Klassen von einer tiefen Unbußfertigkeit geprägt. Es gibt ein raffiniertes, manchmal unbewusstes Spiel von Ausreden und Ausweichmanövern.
Es ist ja auch recht schwierig, Schuld in der richtigen Weise zu tragen. Man kann von Schuld erdrückt werden. Man möchte sie deswegen vielleicht abschütteln. Aber irgendwie holt sie uns ein. Wir müssen uns zuerst zur Annahme von Schuld bekennen. Dies ist nur möglich, wenn der Mensch sich zu seiner Würde bekennt, nämlich zu Freiheit, Verantwortung und Gewissen. Der Mensch unterscheidet sich hier ganz grundlegend vom Tier. Das Tier kann sich aufgrund seiner Instinktsicherheit kaum verfehlen. Wir sind so frei, dass wir uns auch selbst verfehlen und unsere Freiheit aufheben können. Die Verantwortung bindet uns jedoch an uns selbst, damit wir nicht dauernd in Ausreden und Alibis flüchten. Das Gewissen ist der Ort, wo wir aus der Scheinwelt ständiger Entschuldigungen herausgerissen werden, das eigene Versagen erkennen, vom Antlitz des Nächsten und seiner unerbittlichen Stimme angeklagt werden und unsere Schuld eingestehen. Ohne Abkehr vom eigenen Versagen gelingt keine Umkehr. Darum tut das Eingestehen von Versagen und Schuld immer auch weh. Aber dieser Schmerz ist nicht alles. Zu Schuld und Sünde gehört seit alters das entschiedene Bekenntnis (vgl. Ps 91,1ff.; 51,3ff.; 130).
Es gibt das klare individuelle Versagen, vor allem gegenüber einem konkreten Menschen. Es gibt schließlich Konflikte in Gemeinschaften. Wir entdecken heute aber auch mit Recht unsere Verstrickung in einen weit über unsere Köpfe hinausreichenden Unheilszusammenhang. Wenn ich eine Banane zum Billigpreis esse, verhindere ich damit möglicherweise, dass lateinamerikanische Plantagarbeiter gerecht entlohnt werden. Man entrinnt seiner weltweiten Verantwortung nicht leicht; Umweltschäden, Verzerrungen in der Weltwirtschaftsordnung zu Ungunsten der ärmsten Länder, Missachtung der Menschenrechte und absurdes Wettrüsten sind weitere Beispiele dafür. Darum fühlen sich heute auch junge Menschen oft an eine ausweg- und heillose Ohnmacht ausgeliefert und in einer objektiven Schuldsituation mitgefangen, die sie leiden lässt. Schulderfahrung und auch Versöhnung haben für uns eine spürbare leibliche und soziale Dimension erhalten.
Ich habe gerade als Seelsorger hier immer wieder eine gewisse Zwiespältigkeit, eine Ambivalenz erfahren. Nicht selten hat man überall schnell Versagen und Sünde gesehen. Aber gerade dadurch ist man auch soweit gekommen, dass man sie nirgendwo mehr wahrgenommen hat (vgl. dazu auch das Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1984 „Versöhnung und Buße", Nr. 18). Man kommt dann zu einer manchmal fast schicksalhaften Deutung dessen, was hinter „Schuld" steht: Es ist eben passiert. Es sind die Umstände, die dies verursacht haben. Es ist das Pech, das man gehabt hat. Es ist eben Schicksal. Und manches sieht so aus, als ob es wie ein Naturereignis wäre, wie ein Blitz aus heiterem Himmel oder ein Gewitter. Dies alles spielt gewiss eine zum Tei nicht unbeträchtliche Rolle. Man macht den Menschen jedoch neurotisch, wenn man überall nur sein persönliches Versagen feststellt und ihn dafür beinahe ausschließlich in Pflicht nimmt. Aber es gehört auch zur Würde des Menschen, dass man sich zu Versagen und Schuld bekennt. Dabei ist es auch wichtig, dass man nicht nur ein allgemeines Sündenbewusstsein kennt im Sinne von „Wir alle sind Sünder oder gar Sünderlein". Vielmehr ist es eine ganz wichtige Sache, dass man das konkrete Versagen genau benennt, es ins Wort bringt, sich dann davon distanziert und so schließlich offen und aufrichtig zu einem Eingeständnis sowie zum Bekenntnis kommt. Anerkennung von Schuld und Versöhnung erfolgen nur durch das Springen und Aufdecken des in sich verschlossenen menschlichen Ichs. Der Mensch wird aus jener anonymen Masse herausgerufen, in der er sich verbirgt. Der Mensch, der durch die Neuentdeckung sozialer Verantwortung über sich hinauswächst, kann so aus seiner fatalen Ichbezogenheit herausfinden und sich wieder ganz bewusst der menschlichen Gemeinschaft zur Verfügung stellen.
Wir haben schon gesagt, es sei nicht leicht, sich dem Eingeständnis von Schuld zu stellen. Aber von Versöhnung darf man gar nicht reden, wenn man nicht um die Bewältigung der Schuld ringt. Man kann nicht nur erfahren, dass Menschen alle Schuld abschütteln, ja absolut ignorieren, sondern auch dass sie sich so sehr, ganz und gar mit ihrer Schuld identifizieren, dass sie keinen Ausweg mehr aus ihr finden. Ich habe einmal einen Mann begleitet, der mutwillig in eine andere Ehe eingedrungen ist und sie endgültig zerstört hat, nicht zuletzt durch das viele Geld, das er anbieten konnte. Als er sah, was er angerichtet hatte, konnte er sich überhaupt nicht mehr vorstellen, dass er irgendwie Verzeihung erlangen könnte. Er fand, dass seine Schuld so schwer ist, dass ihm überhaupt nicht vergeben werden kann. Ich hatte viele Monate Mühe, ihm einsichtig zu machen, dass es auch für ihn Vergebung geben kann. Ich bin bis heute beeindruckt, wie dieser Mann sich verantwortungsvoll mit seiner Schuld identifizierte. Aber ich hatte oft auch Angst, er könnte sich deshalb etwas antun.
In diesen Situationen ist mir aufgegangen, dass wir viel mehr ernst machen müssen mit der Erkenntnis, dass eigentlich nur Gott wirklich vergeben und versöhnen kann. Wir können es mit seiner Kraft und in seinem Geist. Aber wir können es nicht allein aus uns. Wir Menschen sind – wie unsere Sprache weise sagt – nach-tragend. Wir sagen zwar, wir könnten vergessen, aber insgeheim wollen wir doch nicht von der Erinnerung an schlechte Erfahrungen ablassen. Wir bleiben misstrauisch und rechnen mit neuen Fallen. Wir tragen nach. Es gehört wohl eben zum Menschen, dass wir allein nicht unsere Vergangenheit restlos in den Griff bekommen können. Gott trägt nicht nach. Er kann restlos Vergebung schenken. Er macht uns weisser als Schnee. Er kann wirklich Schuld auslöschen und sie zum absoluten Vergessen bringen. Dies kann nur Gott, wie nur er die Schöpfung vom Nichts ins Dasein ruft. Darum kommt jede echte Vergebung und Versöhnung zuerst und zuletzt ganz von ihm selbst. Paulus sagt uns dies mit wunderbarer Klarheit: „Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat. Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat." (2 Kor 5,18f.)
Unser Text aus dem zweiten Korintherbrief hat dies in theologisch einmaliger Weise erkannt und zur Sprache gebracht. Wir können und dürfen in der Versöhnung durch Gott neu anfangen, was wir sonst nicht zustande bringen. Wenn wir Menschen uns allein mit der Schuld befassen und sie nicht einfach leugnen, dann bleiben wir im Gefängnis der Vergangenheit, die oft eine Anhäufung von Schuldenlasten bedeutet. Es gibt keinen Ausweg und keinen Ausblick nach vorne. Wenn Gott mit uns neu anfängt, dann gibt es durch die Vergebung wieder eine Zukunft. Es gibt dann auch eine neue Freiheit, aus der heraus wir verantwortungsvoll leben können. Darum ist es so wichtig, dass Gott uns durch die Versöhnung und die Vergebung wirklich neue Hoffnung, neue Freiheit und eine neue Zukunft schenkt. Darum ist es auch ganz falsch, wenn man die Notwendigkeit der Einsicht und der Umkehr – wir haben früher gesagt, dass dies auch schmerzt – mit der Angst verbindet und deswegen vor der Versöhnung flüchtet. Deshalb ist schon die Umkehrbereitschaft so wichtig. Nur so gelangt der Mensch wieder von der Knechtschaft in die Freiheit, von der Enge in die Weite und in das Freie. Mit wunderbarer Genauigkeit sagt Paulus dies auf seine Weise: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden." (2 Kor 5,17) Dies ist die wirkliche Neuheit des Christentums, die allen Moden immer wieder voraus ist und nie überholt werden kann, weil sie in der unendlichen Macht der Liebe Gottes zum Menschen besteht.
In dieser Kraft und in diesem Geist tritt Paulus auf uns zu und ruft uns zu: „Lasst euch mit Gott versöhnen!" Dabei ist es ganz wichtig – jetzt sehen wir dies ein –, dass Paulus dies wirkmächtig, also mit Erfolg, uns dies nur sagen kann, weil er unmittelbar „Gesandter an Christi Statt" ist und „Gott es ist, der durch uns mahnt." (2 Kor 5,20). Sonst wäre es nur irgendein Menschenwort, das aber vielleicht so verlogen und trügerisch wäre wie viele Worte, die wir Menschen einander versprechen und oft nicht halten. Darum entwirft Paulus in diesem fünften Kapitel des zweiten Korintherbriefes eine tiefe Theologie des Aposteldienstes und im Kern jedes geistlichen Dienstes. Gott hat uns das Wort von der Versöhnung anvertraut.
Nun müsste noch viel die Rede sein von den vielen Formen der Versöhnung. Unter Formen verstehen wir einzelne Gestalten und Vollzugsweisen, die sich von anderen Typen der Umkehr unterscheiden. Diese Formen beginnen bei der Geste eines versöhnlichen Händedrucks nach einem Streit als Zeichen der Versöhnung, reichen über das betroffene Klopfen an die Brust oder gar das Zerreißen der Kleider zum Zeichen der Trauer über die eigene Schuld und ereichen einen gewissen Höhepunkt in der Beichte, die selbst wiederum ein Geflecht aus einzelnen Symbolen darstellt: Sündenbekenntnis, Lossprechung. Es gibt für die Bitte um Versöhnung und Befreiung viele eigene Textformen und Rituale, wie die Litaneien und die Klage- und Bußpsalmen. Hinzukommen symbolhafte Zeichen: Waschung und Reinigung („Wasche mich, dass ich weißer werde als Schnee": Ps 51,9b). Man braucht ein lauteres Herz und reine Hände, wenn man sich Gott nähern möchte. Es gibt gerade auch im Alten Bund viele kollektive Formen der Buße: Sich blutig ritzen (vgl. Hos 7,14), Ausgießen von Wasser (1 Sam 7,6), Sitzen in Asche, Fasten mit dem Vieh, Sich zu Boden werfen, Sich im Staub wälzen, Jammern, Schreien und Heulen.
Solche Formen sind uns fremder geworden. Wir haben vieles intellektualisiert und menschlichen Grunderfahrungen ihre volle Wucht genommen. Es bleiben nur noch rudimentäre Zeichen übrig, die wir relativ gedankenlos mit vollziehen. Was bedeutet z.B. das Schlagen an die Brust? Das leibhafte Symbol gibt dem Bekenntnis Nachdruck und konkrete Anschaulichkeit. Es zeigt die Erschütterung des ganzen Menschen. Aber jeder weiß auch, dass diese Formen verkrusten können. Die Propheten sind voll von solchen Warnungen (vgl. Am 4 und 5, 21-24). Alle Bekenntnisse enthalten immer die Gefahr der Automatisierung. Ein formelhaftes Bekenntnis geschieht im Grunde ohne Reue und zieht nicht selten die Wiederholung der Tat nach sich.
Nun wäre es notwendig, die einzelnen Formen der Versöhnung zu entfalten. Dies ist hier nicht möglich. Die Tradition der Kirche ist hier viel reicher als das, was wir heute behalten haben. Es gibt hier eine reiche Geschichte der Buße und der Beichte: Gewissenserforschung, Aussprache in der Schuld und Sünde in der Gemeinschaft, Gesten der Umkehr und der Versöhnung, brüderliche Zurechtweisung, Schuldkapitel in den Orden, Wüstentage und Exerzitien, kirchliche Bußzeiten, Quatembertage, aber auch Vergebung der Sünden in vielen Formen des Betens und der Schriftlegung: bei Gebet und Fürbitte, beim Lesen der Hl. Schrift, beim Gesang der Psalmen, beim Stundengebet und ganz besonders beim Beten des Vaterunsers. Die Schrift und die Väter sehen die Vergebung der Sünden immer wieder in drei großen Quellen: Almosen als Zeichen der Nächstenliebe, Fasten als Leerwerden von den Götzen und Gebet als Hinwendung zu Gott. Ich nenne nur noch die gottesdienstlichen Formen, wie z.B. die Bußgottesdienste im Sinne von Gemeinschaftsfeiern. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass die Eucharistiefeier vom Eingangs-Bußakt bis zur Kommunion Vergebung der wenigstens alltäglichen Sünden zur Folge haben kann. Vor diesem Hintergrund muss man nun die spezifisch sakramentalen Formen der Sündenvergebung nennen: die Feier der Versöhnung für einzelne und schließlich die gemeinschaftliche Feier mit allgemeinen Bekenntnis und Generalabsolution. (Zur Diskussion und Erneuerung vgl. nun besonders das Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II. „Misericordia dei vom 7. April l2002.) Im Grunde dienen auch die sogenannten Kirchenstrafen und ihre Lossprechung der Wiederversöhnung mit der Kirche.
Zwischen diesen einzelnen Formen herrscht auch eine eigene Dynamik: Sie rufen und fordern einander und führen letztlich auf das Bußsakrament. In der sakramentalen Einzelbeichte verdichten sich alle anderen Formen, wenngleich diese durch die Beichte nicht schlechthin ersetzt werden. Je klarer alle Dimensionen der Umkehr geweckt werden, vom Vaterunser bis zum Fastenopfer, um so deutlicher und überzeugender wird das Bußsakrament geschätzt werden. Dies alles ist freilich so gut wie von Grund auf wieder neu zu entdecken.
Auch unsere Zeit hat gewisse Formen der Versöhnung wiederentdeckt oder auch neu geschaffen. Sie stellen vor allem die kollektive Verstrickung des Menschen in Schuld heraus. Manchmal sind sie in Gefahr, dass sie die Verantwortung des Einzelnen zu sehr übergehen. Ich nenne hier nur die Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen, vor allem durch die Gründung von Pax Christi noch in den letzten Kriegsmonaten 1945, zwischen Polen und Deutschen mit dem berühmten Versöhnungsbrief von 1965, zwischen Tschechen und Deutschen im Jahr 1990/91. Nicht unerwähnt lassen darf man neben vielen einzelnen Zeugnissen das Schuldbekenntnis von Papst Hadrian VI. (1522-1523) und ganz besonders von Papst Johannes Paul II. am 12. März 2000.
Mit gutem Grund ist das zentrale Wort der paulinischen Versöhnungsbotschaft „Lasst euch mit Gott versöhnen" zum Thema der Katechesen dieses Weltjugendtreffens geworden. Wenn wir die Versöhnung nicht wieder entdecken, hat das Christentum seine tiefste Kraft und sein höchstes Geschenk für die Menschen verloren. Es wird Zeit, höchste Zeit, wieder von der Versöhnung in Gott und darum auch mit den Menschen zu reden.
copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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