Statement von Kardinal Lehmann bei der Pressekonferenz zu den Pfarrgemeinderatswahlen 2011 am 13. Sept. 2011 im Erbacher Hof in Mainz, zugleich ein Aufruf an die Gemeinden im Bistum Mainz
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!
Am 29. und 30. Oktober 2011 findet in unserer Diözese und in den benachbarten Bistümern Fulda, Limburg und Trier die Wahl der Pfarrgemeinderäte statt. Wir wählen die Frauen und Männer in den Pfarrgemeinderäten für eine zwölfte Amtsperiode. 650.000 Katholiken sind zur Wahl aufgerufen, die in allen 329 Pfarreien der Diözese sowie in den 24 Gemeinden von Katholiken einer anderen Muttersprache stattfindet. Die Wahl wird alle vier Jahre durchgeführt. Ich möchte auch auf die Möglichkeit der Briefwahl aufmerksam machen.
Ich möchte Sie mit den Herren Weihbischöfen, dem Herrn Generalvikar und den Mitgliedern der wichtigsten Gremien im Bistum einladen, an dieser Wahl teilzunehmen. Dies geschieht vor allem auf doppelte Weise. Einmal bitte ich Sie um die Wahrnehmung der Wahlmöglichkeit am 29./30. Oktober. Ich bin natürlich sehr dankbar, wenn Sie sich in den Gemeinden als Kandidatin bzw. Kandidat zur Verfügung stellen.
Auch wenn wir nun zum zwölften Mal zur Wahl aufrufen, so ist es doch keine selbstverständliche Routine, dass wir Pfarrgemeinderäte haben. Er ist kein verschworener und geschlossener Kreis, er ist auch kein Gremium für die Vertretung bestimmter Interessen. Der Pfarrgemeinderat muss ganz vom Christsein und von den Aufgaben der Gemeinde her gesehen werden. Deswegen muss man aber auch zuerst die Aufgaben aller Christen und der Gemeinde bedenken. Alle Glieder in den Gemeinden sind angesprochen. Das Neue Testament und die Sprache der christlichen Kirchen nennen dieses Fundament das „gemeinsame Priestertum". Deswegen dürfen wir nicht zuerst an Gremien und rechtliche Regelungen denken. Das Neue Testament setzt viel einfacher und radikaler an. Die fundamentale Mitwirkung aller Christen am Leben der Gemeinde und am Aufbau des Reiches Gottes erfolgt nämlich zuerst im Lobpreis des Gottesdienstes, im Bekenntnis und Zeugnis des Glaubens, in Gebet und Fürbitte, im gegenseitigen Zuspruch und in wechselseitiger Hilfe, in tätiger Liebe und auf vielerlei Weise. Eine Form dieser Mitwirkung kann auch geduldig ertragenes Leiden und Kranksein, das Tragen einer sichtbaren oder unsichtbaren Last und andere Formen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe sein, damit wir nicht nur an die aktiven und tätigen Formen der Mitwirkung denken.
Dieses Christsein steht nicht im Gegensatz zu konkreten, vor allem hauptberuflichen Diensten und Ämtern in der Gemeinde. Alle, auch der Pfarrer und die Inhaber pastoraler Berufe, müssen sich zuerst im täglichen Christsein bewähren. Man darf nie vergessen, dass das „gemeinsame Priestertum" allen Christen - unabhängig von einer Funktion und einem Amt - dieselbe Würde der Taufe, die Einzigkeit des unverwechselbaren Namens und eine radikale Gleichheit im Glauben zuerkennt. Dieses Fundament aller Räte und Ämter verlangt im Sinne des Evangeliums, dass alle Formen von Herrschsucht und Rücksichtslosigkeit im Verhältnis der Gemeindemitglieder untereinander vermieden werden. Deshalb ist es auch wichtig, dass möglichst alle Schichten und Gruppen von Menschen in einer Gemeinde im Pfarrgemeinderat vertreten sind: Frauen und Männer, Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Einheimische und Zugezogene, vor allem aber auch die Katholiken einer anderen Muttersprache. Für das gute Gelingen dieser Gemeinschaft im Pfarrgemeinderat sind nicht nur guter Wille und aufrichtige Gesinnung notwendig. Wir brauchen auch Spielregeln, vergleichbar der Demokratie und parlamentarischer Gremien, um unsere Räte zu wählen und funktionstüchtig zu gestalten. Jedoch darf man dabei nie vergessen, dass es sich nur um stützende Hilfen für ein Gebilde handelt, das nicht ausschließlich mit Strukturen und Normen gesellschaftlich-politischer Vereinigungen erklärbar ist, wie es z. B. Parlamente und Parteien sind.
Zum Leben der Gemeinde gehören mehrere Dienste und Ämter. Jede Gemeinde hat einen Pfarrer oder ist einem Pfarrer zugeordnet. Er widmet sich mit vollem Einsatz und mit seiner ganzen Existenz („hauptamtlich") im Namen und im Auftrag Gottes und der Kirche dem Aufbau einer lebendigen Gemeinde. Er führt die Menschen in ihrer Verschiedenheit immer wieder auf den gemeinsamen Herrn hin zusammen. Er sorgt dafür, dass die natürliche Vielfalt der Gemeindeglieder nicht in Gruppen oder Sekten auseinanderfällt. Wenn er sein Amt recht versteht, erhebt er sich nicht über die Gemeinde. Er steht in ihr als Mitglaubender. Dies schließt in einer konkreten Situation und in einem besonderen Konflikt nicht aus, dass der Pfarrer auch der Gemeinde oder Gruppen gegenübersteht, um das uns Menschen immer auch fremde und manchmal ärgerniserregende Wort Gottes - ob gelegen oder ungelegen - zu verkündigen. Dennoch bleibt alles, was der Pfarrer tut, auf den Dienst am Christsein der einzelnen Mitglieder der Gemeinde hingeordnet. Das kirchliche Amt hat seinen Sinn wesentlich darin, alle Christen zu ihren Aufgaben in verschiedener Weise zu befähigen.
Diesen Auftrag darf der Priester nicht so erfüllen, dass er glaubt, er würde von jeder Frage immer auch am meisten verstehen. Er hat nicht nur oft andere hauptamtliche Dienste und Ämter neben sich, sondern er soll sich der Hilfe und des Rates möglichst vieler Gemeindeglieder versichern. Der hl. Paulus setzt voraus, dass es in jeder Gemeinde Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten gibt. Sie sollen ihre Begabung, ihre so genannten Charismen für den Aufbau des Reiches Gottes in das Ganze der Gemeinde einbringen. Wenn Laien dem Pfarrer in verschiedenen Dingen zur Seite stehen, dann ist dies nicht in erster Linie eine Notwendigkeit des heute oft gegebenen Priestermangels. Vielmehr geht es um die Einheit und Zeugniskraft der Gemeinde in der Vielfalt ihrer Mitglieder und deren Fähigkeiten. Es ist ein grundlegendes Gebot, wie wir eingangs schon sagten, die Mitchristen möglichst aktiv am Leben und am Zeugnis der Gemeinde zu beteiligen. Teilnahme in diesem Sinne - Partizipation heißt dies heute weltweit - gehört zur Mitverantwortung der Christen. Es gibt viele menschliche und professionell entfaltete Fähigkeiten, die den Dienst des Pfarrers ergänzen und einer Gemeinde außerordentlich nützen. Dies gilt natürlich zuerst für die haupt- und nebenberuflichen Dienste, wie Kaplan, Ständiger Diakon, PastoralreferentInnen und GemeindereferentInnen, aber auch Organist, Chorleiter, Dienste in der Sakristei, Lektoren, Kommunionhelfer usw. Aber es gilt eben auch für viele andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, nicht zuletzt im Blick auf die Weltverantwortung der christlichen Gemeinde. Es gibt so viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, wo der Rat Betroffener und Sachkundiger immer unentbehrlicher ist: Familie, Beruf, Arbeit, Soziale Dienste, Schule, Erwachsenenbildung, Haushalts- Vermögensverwaltung usw. Ähnliches gilt für die Mitwirkung im Bereich des innerkirchlichen Lebens, z. B. die Gestaltung des Gottesdienstes, nicht zuletzt für Kinder, die Heranführung junger Menschen zu den Sakramenten, aber auch Sorge um den Lebensschutz. Auch die Kirche ist in einer Welt, die immer mehr von einer Aufsplitterung in viele eigenständige Lebensbereiche und von einer hoch spezialisierten Arbeitsteilung bestimmt wird, um so mehr auf diese vielfältige Mitwirkung angewiesen.
Für diese vielfältige Mitwirkung gibt es je nach Geschichte, Gesellschaft und Herkommen unterschiedliche Formen. Manches hängt auch sehr von den örtlichen Umständen ab. Der Pfarrgemeinderat, der im deutschen Sprachraum in verschiedener Form oft schon vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil existierte, aber nach dem Konzil von der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland (Würzburger Synode) auf den Weg gebracht worden ist, ist eine auch rechtlich ausgestaltete Form, um der Teilhabe und Mitverantwortung der Christen vor Ort Ausdruck zu geben. Er ist nicht nur ein Rat für die pastoralen Belange (Seelsorgerat), wie in vielen Kirchen, sondern bei uns ist er zugleich eine Zusammenfassung und ein Organ der Laienaktivitäten („Laienapostolat"). Der Pfarrgemeinderat ist also der geeignete Ort einer Gemeinde, wo die wichtigsten Aufgaben immer wieder vor Augen stehen und in die Praxis umgesetzt werden. Dies kann natürlich der Pfarrgemeinderat nicht allein, sondern er hat dafür Ausschüsse, Arbeitskreise und einzelne Beauftragte. Die finanziellen Belange und viele rechtliche Befugnisse übernimmt der Verwaltungsrat. Nicht wenige Aufgaben werden von Vereinen und Verbänden vor Ort mitgetragen, z. B. in der Arbeitswelt. Es ist aber wichtig, dass es im Pfarrgemeinderat einen Ort gibt, wo die Gesamtverantwortung für das christliche Leben in einer Gemeinde sichtbar wird, zugleich auch die Kontakte zu den Schwesterkirchen und den anderen Religionen, aber auch zu weltlichen Institutionen wahrgenommen werden. Im Bereich der Kirche unseres Landes hat der Pfarrgemeinderat nicht nur ein beratendes, sondern ein entscheidendes Stimmrecht, das freilich in seelsorglichen Fragen und besonders im Bereich der Glaubenslehre durch ein Vetorecht des Pfarrers an eine Grenze kommt. Auf die engere Zusammenarbeit zwischen dem Pfarrgemeinderat und dem Seelsorgerat in unseren neuen pastoralen Strukturen brauche ich hier nicht näher einzugehen.
In der konkreten Zusammenarbeit kann und wird es immer wieder auch Schwierigkeiten geben. Christen können solche Konflikte nicht einfach vermeiden, sondern sie sind daran erkennbar, wie sie Spannungen und Auseinandersetzungen miteinander im Geist Jesu Christi zu lösen versuchen. Auch können die Formen der Zusammenarbeit immer wieder strittig werden. Bereitschaft zur Kooperation muss immer wieder gesucht und erneuert werden. Entscheidend ist jedoch die Einsicht, dass das Zusammenwirken von Pfarrer und Pfarrgemeinderat auf das Wohl und den Aufbau einer lebendigen Gemeinde ausgerichtet sein muss. So sehr der hl. Paulus die individuelle Originalität und Fähigkeit eines jeden Christen schätzt, so sehr ist es für ihn ein untrügliches Kriterium, ob sich jemand einfach persönlich aufbläht und prestigesüchtig ist oder ob er seine besonderen Befähigungen zum „Aufbau" der Gemeinde einbringt und sich so auch immer wieder in seinem eigenen Anspruch zurücknehmen kann.
Vernunft allein wird jedoch nicht alles meistern. Vor Herrschsüchtigkeit und Denken in falschen Rangordnungen waren auch die Jünger Jesu nicht bewahrt. Lukas lässt den Herrn diesen Streit mitten beim letzten Abendmahl lösen. In der Eucharistiefeier wird am meisten die Gesinnung des Herrn offenbar, die auch alle Christen bestimmen soll, nämlich Demut und Dienst. „Es entstand unter ihnen ein Streit darüber, wer von ihnen wohl der größte sei. Da sagte Jesus: Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte über euch soll werden wie der Kleinste, und der Führende soll werden wie der Dienende ... Ich aber bin unter euch wie der, der bedient." (Lk 22,24-27) Die Zusammenarbeit im Pfarrgemeinderat kann, wenn sie selbstlos und rücksichtsvoll erfolgt, eine Einübung in die Praxis christlichen Glaubens sein. Deshalb hat auch das spirituelle Miteinander großes Gewicht.
Wir können in unserem Land und besonders auch im Bistum Mainz dankbar sein für die vielen Frauen und Männer, die in den letzten bald 50 Jahren bereit waren, in den Pfarrgemeinderäten mitzuwirken. Sie haben geholfen, unsere Gemeinden vielfältiger und lebendiger werden zu lassen. Mit den Pfarrern und den übrigen pastoralen Berufen danken wir von Herzen für manchen guten Rat und viele tätige Mithilfe, die wir auf allen Feldern des kirchlichen Lebens von den Räten auf Gemeinde- und auf Bistumsebene empfangen haben und immer wieder erhalten. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass es auch in der einen oder anderen Gemeinde, evtl. auch in der Zusammenarbeit mit dem Pfarrer, zu nicht immer leicht lösbaren Spannungen und Konflikten kommt. Wir versuchen - auch durch die Gemeindeberatung - alles, um zu einem neuen friedlichen Miteinander zu kommen. Die begrenzte Amtszeit von vier Jahren ist aber auch eine gute Gelegenheit zum Wechsel der Mitglieder eines Rates und zu einem Neuanfang. Wir dürfen uns durch Rückschläge nicht völlig entmutigen lassen.
Dies gilt auch für unsere unmittelbare Gegenwart. Die Kirche ist vor allem durch die Missbrauchsfälle im Sinne sexueller Gewaltanwendung in eine Krise gekommen, die freilich auch durch andere Belastungen des kirchlichen Lebens in der modernen Welt verschärft worden ist. Man kann dies an den auch bei uns gestiegenen Zahlen von Kirchenaustritten erkennen. Ich möchte Sie herzlich bitten, sich durch diese Entwicklungen, vor allem aber durch die negativen Stimmungen, die zusätzlich zu den berechtigten Enttäuschungen entstanden sind, nicht entmutigen zu lassen. Deshalb verbinde ich mit diesem Aufruf die innige und dringende Bitte, am 29./30. Oktober 2011 die Einladung zur Wahl anzunehmen und sich auch als Kandidatin und Kandidaten zur Verfügung zu stellen.
Das Motto und Leitwort der diesjährigen Wahl heißt „Im Zeichen der Zeit". Dies ist doppelt gemeint: Einmal braucht unsere Gegenwart die kundige und tätige Mithilfe vieler Christen vor Ort, um wirklich ein eindeutiges Zeugnis in unserer Welt zu geben. Dafür ist jeder verantwortlich, nicht nur die Dienste und Ämter in der Kirche. Wir brauchen aber gerade in dieser Zeit der Anfechtung der Kirche, wo auch ihre Unvollkommenheit und Sündigkeit mehr als sonst zur Erscheinung kamen, unerschrockene und zuversichtliche Christen, Männer und Frauen, Junge und Alte, die überzeugt sind, dass unsere so vielfältige und widersprüchliche, manchmal großartige und oft auch elende Welt mutige Christen braucht, die auch bereit sind, mit Jesus Christus in dieser Zeit das Kreuz auf sich zu nehmen und mitzutragen.
Deshalb möchte ich Sie durch diesen Aufruf nochmals mit der herzlichen Bitte um Ihr Mittun dahin bewegen, Ihre Mitverantwortung als Zeugen Jesu Christi in dieser Welt durch die Teilnahme an den Wahlen und durch Ihre Bereitschaft zu Kandidaturen öffentlich sichtbar zu machen. Herzlichen Dank und Gottes Segen!
Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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