Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils für ein erneuertes Priesterbild

Adventspredigt zum Jahr des Priesters 2009 am 1. Advent, 29.11.2009 im Mainzer Dom

Datum:
Sonntag, 29. November 2009

Adventspredigt zum Jahr des Priesters 2009 am 1. Advent, 29.11.2009 im Mainzer Dom

Die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist durch eine explosive Diskussion über die kirchlichen Ämter und Dienste gekennzeichnet. Dies gilt für alle Ebenen in der Kirche, von den einfachsten Diensten in der Gemeinde bis zum Streit um die Kompetenz des päpstlichen Lehramtes. Die Flut der Veröffentlichungen zu diesem Thema ist etwas abgeebbt, das Gespräch ist jedoch keineswegs zu Ende. Gerade in der Begegnung mit den nichtkatholischen Kirchen bleibt das Thema Amt der erste und immer wohl noch schwierigste Gegenstand des gemeinsamen Suchens nach einer größeren Einheit.

Inmitten dieser Situation wollen wir versuchen, die Bedeutung des Amtes heute herauszustellen. Dabei sehen wir besonders im Rahmen einer Predigt ab von vielen wissenschaftlichen Einzelerörterungen unserer Frage, die gewiss notwendig sind, deren Ergebnisse wir hier aber einmal voraussetzen und in indirekter Form einbeziehen können. Dabei soll der Gegenwartsbezug auch nicht zu unvermittelt und zu rasch die erste Leitlinie unseres Bemühens sein. „Wer zu heutig ist, kann schon morgen von gestern sein", sagte in einprägsamen Worten Hermann Kardinal Volk bei einer der Vollversammlungen der Gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer in Würzburg. Je radikaler das geistliche Amt aus seinen Wurzeln heraus verstanden und vor allem gelebt wird, um so bahnbrechender und überzeugender wird es sein. Von dieser Grundvoraussetzung sind die folgenden Überlegungen über den Ursprung, die Grundstrukturen und die Aufgaben des geistlichen Amtes bestimmt.

Ich brauche hier keine längere Einführung in das von Papst Benedikt XVI. vom 19. Juni 2009 bis zum 19. Juni 2010 ausgerufene Priesterjahr durchzuführen. Der Heilige Vater möchte damit zur Erneuerung der priesterlichen Sendung beitragen. Am Anfang unserer Predigten soll eine Grundbestimmung des priesterlichen Dienstes stehen, wie sich diese bisher vor allem auf der Grundlage der Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils entwickelt hat (vgl. besonders LG 28, „Presbyterorum ordinis", „Optatam dotius").

I. Vom Ursprung des kirchlichen Amtes

Die Verwendung des Begriffes „Amt" für die gemeinte Sache ist nicht ohne Bedenken. Erst wenn diese reflektiert werden, ergibt sich ein legitimer Gebrauch dieses Wortes, das ja im Neuen Testament nicht in der uns geläufigen Weise Verwendung findet. Es ist ein Wort, das erst später Strukturen auf den Begriff bringt, die sich in einem geschichtlichen Entfaltungsprozess noch ausbilden müssen. Man darf jedoch nicht bei einer von außen geleiteten und fremdbestimmten Sicht des bereits konstituierten Amtes bleiben, sondern man muss die theologischen Motive für das Werden des Amtes stets im Blick behalten.

Vor allem innerkirchlichen Amt steht Jesus Christus. Er hat das Ur-Amt inne, dem alle amtlichen Aufträge und Vollzugsformen letztlich entstammen. Darum sind die messianischen Ämter Jesu Christ vom Spätjudentum über die alte und mittelalterliche Kirche sowie die Reformation bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil die Grundlage, um die Ämter in der Kirche zu begründen. Das am meisten wirksam gewordene Beispiel ist die sogenannte Dreiämterlehre: Lehre, Heiligung, Leitung. Aber dies ist freilich ein sehr weiter und noch unbestimmter Begriff von Amt, der gleichzusetzen ist mit Auftrag und Aufgabe. Auch Jesus von Nazaret darf nicht isoliert werden. In einer unerhörten Steigerung des Prophetischen verkündet er die un-mittelbar andrängende Macht des nahen Gottesreiches. Diese Herrschaft Gottes, die einen endgültigen Sieg der Gerechtigkeit und der Liebe über die Mächte des Bösen bedeutet, ist nicht mehr eine ferne, unerfüllbare Hoffnung, sondern in Jesu Wort und Tat wird sie inmitten von Welt und Geschichte schon anfänglich wirksam. Das radikal Neue der Botschaft Jesu lässt sich von seiner Person nicht trennen. Zwar verkündet der irdische Jesus nicht sich selbst, er stellt sich nicht in das Zentrum der Botschaft, aber das Evangelium ist, wie das gesamte Auftreten Jesu bezeugt, indirekt an ihn rückgebunden. Nur sein mächtiges Wort eröffnet die neue Zeit des Heils, das zugleich in seinen Machttaten und bis in seine Gesten hinein offenbar wird. Die Menschen merken das. Sie sagen, dass er spricht wie einer, der Macht hat, dass er in ganz anderer Weise Lehrer ist als die Schriftgelehrten seiner Zeit. Sein Wort bewirkt das, was er sagt. Und diese Einheit von Wort und Tat gibt es auch in seinem Leben: Dieses ist ein Zeugnis dafür, dass seine Worte stimmen. Jesu Existenz verbürgt die Wahrheit seines Wortes. Jesus richtet das Wort Gottes aus. Auch er ist in einem radikalen Sinne einer, der die Botschaft von Gott empfängt und hört. Ja, er ist in seinem ganzen Dasein nichts anderes als die Aussage Gottes, das Wort Gottes, der Logos.

Jesus verwaltet das Amt Gottes für die Welt. Sein ganzes Leben ist ein einziger Einsatz für das Heil der Welt. Er ruft Jünger in die Nachfolge, damit sie im Dienst des kommenden Gottesreiches mitarbeiten. Darum hat bereits der irdische Jesus seine Jünger ausgesandt und ihnen die dazu nötigen Vollmachten verliehen. Bereits hier schon wird eine wesentliche Grundstruktur des Amtes deutlich: Es ist Jesus, der in seinem Diener wirkt; dieser tut nichts von sich aus allein; er ist nur Platzhalter für einen anderen. Aber diese Demut enthüllt zugleich die Größe seines Auftrages: Er spricht im Namen Jesu Christi selbst. Jesu Botschaft kommt in einen tödlichen Konflikt mit den Führern des erwählten Volkes. Der Zusammenstoß fordert sein Leben. Auch dies bleibt von den Ursprüngen her konstitutiv für jegliches Amt: Die Botschaft Jesu muss zwar immer wieder im Raum der jeweiligen geschichtlichen Stunde und Situation lebendig vergegenwärtigt werden, sie kann jedoch niemals in ihrer Substanz und Sprengkraft von den Kräften und Mächten der Welt abgeleitet werden. Der gewaltsame Tod Jesu draußen vor den Toren der Stadt ist ein bleibendes Mahnzeichen für die ausschließliche Gründung des Amtes in der Person und dem Werk Jesu Christi und ein unaufhörlicher Protest gegen allen Konformismus im Sinne einer inneren Anpassung an die Strukturen dieser Zeit. Jesus wird für seinen ursprünglichen Gehorsam dem göttlichen Vater gegenüber gekreuzigt. Jeder Amtsträger muss sich immer wieder zu dieser unabdingbaren Treue zu Gott in Jesus Christus zurückrufen lassen, damit er den harten, aber zugleich heilenden Kern des Evangeliums nicht für ein Linsengericht veräußert. Dies fordert auch seinen Lebenseinsatz, in welchen Formen des Zeugnisses sich dies auch jeweils vollziehen mag. Jesus bleibt nicht im Tod. In der Auferstehung Jesu Christi wird nicht nur seine Botschaft endgültig bestätigt, sondern die Hingabe seines Lebens wird fruchtbar für das Heil der Welt. Vom Kreuz aus möchte sich das neue Leben „für alle" ausbreiten und verströmen. Das Amt entstammt so immer auch der Fruchtbarkeit des Todes und der Auferstehung Jesu Christi. Es ist im Grunde nichts anderes als ein Dienst an der Vermittlung jener Versöhnung, die Gott in Jesus Christus vollbracht hat. Das Amt gründet in diesem Vermächtnis Jesu, was besonders in der Abendmahlsszene zum Ausdruck kommt: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!" So ist auch verständlich, warum das geistliche Amt erst nach dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi deutlich und in konkrete-ren Formen sichtbar wird. Dennoch verselbstständigt sich dieses Amt gegenüber seinem Ur-sprung nicht. Der nicht mehr an Raum und Zeit gebundene, erhöhte Herr ist in seinen Dienern gegenwärtig durch den Geist. Nur der Geist kann gewähren, dass das nachösterliche Amt in Sein und Tun stets in einem Einklang bleibt mit Jesus Christus. Diese trinitarische Struktur gehört zur Geburt des christlichen Amtes: Ursprung aus Gott dem Vater, Vermittlung durch den Sohn, Bleiben im Geist.

Diese Überlegungen zeigen auch, dass das Amt gleichen Ursprungs ist wie die Kirche. Es ist zwar nicht für sich selbst da, sondern immer schon auf die Kirche und die Menschheit hingeordnet. Darum bekommt es auch seine konkrete geschichtliche Gestalt durch die Kirche. Aber dass es ein Amt gibt, darüber kann die Kirche selbst nicht befinden. Es ist ihr vom Herrn ihrer selbst vorgegeben und eingestiftet. Nichts anderes wollen die klassischen Begriffe sagen, wenn erklärt wird, das Amt sei ein Auftrag Gottes (mandatum Dei), es sei „göttlichen Rechtes" (ius divinum).

So entsteht in der Zeit nach Ostern Schritt für Schritt das innerkirchliche Gemeindeamt. Die unmittelbar von Jesus beauftragten Jünger sterben. Ihre einmalige geschichtliche Stellung kann nicht auf andere einfach übergehen. Dies muss man bedenken, wenn man von den „Nachfolgern der Apostel" spricht. Aber ein Zweifaches wird nun wesentlich:

1. Es zeigt sich, dass fortan nun jegliches Amt auf das authentische Erstzeugnis der Apostel als das bleibende Fundament der Kirche angewiesen ist. In diesem Sinne gibt es kein kirchliches Amt ohne ständigen Rückbezug auf diese apostolische Grundlage aus der Zeit der werdenden Kirche.
2. Wenn die Träger dieser apostolischen Überlieferung tot sind, dann muss der ihnen von Jesus Christus erteilte Auftrag von der Natur der Sache her von weiteren Zeugen übernommen werden. Der apostolische Dienst muss inhaltlich fortgesetzt werden, und in diesem Sinne gibt es „Nachfolger der Apostel", unbeschadet der geschichtlichen Einmaligkeit der konstitutiven Gründerzeit (= Urkirche).

Diese Zeit des Umbruchs stellt eine entscheidende Weichenstellung dar. In ihr vollzieht sich der Schritt von der werdenden zur gewordenen, von der apostolischen zur nachapostolischen Kirche. Der Übergang wird beim Wechsel von der ersten zur zweiten Generation deutlich, aber er wird in seiner vollen Bedeutung erst offenkundig bei der Ablösung der zweiten Generation. Diese bestand im wesentlichen aus unmittelbaren Schülern und Mitarbeitern der Apostel. Jetzt wird die Tiefe des Umbruchs klar: Die Amtsträger sind nicht mehr unmittelbar-persönlich vom Herrn berufen. Damit wird deutlicher, dass es zwischen dem grundlegenden apostolischen Auftrag und der einzelnen Person einen Unterschied gibt. Langsam löst sich so etwas wie eine Struktur des Amtes von den apostolischen Erstzeugen ab. Ein solches „Amt" muss nun auch - unabhängig von einem Vorgänger - im Dienst an der Sache des Glaubens wieder besetzt werden. Dafür müssen Kriterien erstellt werden. So bildet sich vor allem beim Umbruch von der zweiten zur dritten Generation das Amt mit eigenen institutionellen Merk-malen heraus. Jetzt erst wird der Begriff „Amt" wirklich sinnvoll. Und nun ist es auch kein Wunder mehr, wenn wir zum Beispiel in den frühen paulinischen Briefen keine ausgeprägten Spuren eines innerkirchlichen Gemeindeamtes finden. Solange der Apostel selbst für die von ihm gegründeten Gemeinden verantwortlich blieb, konnte es in dieser Zeit und unter diesen Bedingungen ein Amt im Vollsinn noch gar nicht geben. Bedenkt man ein wenig diese fundamentalen, heute oft leider verschütteten Grundzusammenhänge, dann klären sich manche Nebel auf, die sich über diese Fragen durch viele voreilige Thesen gelegt haben.

II. Bleibende Strukturen des kirchlichen Amtes

Was bisher dargestellt worden ist, sind nicht nur historische Anfänge, sondern sie bleiben auch - wie bereits oben betont wurde - konstitutive Ursprungsmerkmale des kirchlichen Am-tes. Diese sollen nun in gedrängter Form und in vorwiegend systematischem Zusammenhang nochmals zur Sprache kommen.

a) Gemeinsames Priestertum und Amt
Sendung und Dienst sind aufgrund der Erwählung durch Gott in Taufe und Glaube allen Christen aufgetragen, die zusammen das königliche, priesterliche Volk bilden, das berufen ist, die Großtaten Gottes zu verkünden (vgl. 1 Petr 2, 5.9). Darum ist die ganze Kirche der wahre und primäre Träger der kirchlichen Heilssendung. Jeder einzelne Amtsträger - ob Papst, Bischof oder Priester - kann nur in Gemeinschaft mit dem Ganzen und in dessen Dienst wirksam werden. Darum betonen wir heute mit Recht die fundamentale Würde des gemeinsamen Christennamens und die gegenseitige Ergänzung und Zuordnung der Charismen in der Gemeinde. Das Neue Testament leitet jedoch nirgends vom gemeinsamen Priestertum des Gottesvolkes die Existenz oder den Auftrag von Amtsträgern ab. Die Aussagen über das gemeinsame Priestertum gehen in eine andere Richtung als die Zeugnisse über das Amt. Alle Christen sollen sich Gott mit ihren Gaben leibhaftig zur Verfügung stellen, immer wieder ihr seit der Taufe durch den Geist Gottes erhelltes Denken erneuern, sich wandeln und den Willen Gottes erfüllen, ohne sich den bestehen - den Mächten des Bösen anzupassen. Im gottesdienstlichen Lob, in der tätigen Bewährung der Liebe, im Leiden und im vielfältigen Lebenszeugnis der Christen realisiert sich das Priestertum des Gottesvolkes. Diese Texte erinnern die Glaubenden an die allen gemeinsame und jedem einzelnen eigene Lebensaufgabe in Kirche und Welt. Diese Aussagen gelten ausnahmslos und uneingeschränkt auch für das geistliche Amt. Es darf unter keinen Umständen verdunkelt werden, dass der Amtsträger zuerst ganz und gar Christ sein muss und darum selbst inmitten der Gemeinde ist, nicht einfach über ihr. Dies hat erhebliche Konsequenzen für den amtlichen Dienst. Man merkt sehr wohl und sehr bald, ob der Pfarrer sich auch seiner Sündigkeit bewusst bleibt und ob der Bischof nur anderen predigt oder zuerst sich selbst. Ein bestimmtes Priesterideal hatte den Amtsträger zu sehr über die konkrete Gemeinde emporgehoben. Es ist für das geistliche Selbstverständnis von großer Bedeutung, dass keine Weihe und keine noch so hohe Beauftragung verhindern können, dass der Amtsträger auf der Seite der Glaubenden, der Hörenden und auch der Sünder steht. So wird aber auch verständlich, warum das geistliche Amt nicht einfach in einer Verlängerung des gemeinsamen Priestertums gesucht werden darf. Das geistliche Amt stellt zwar seinen Träger unter das Maß des Evangeliums, aber es besteht seinem Wesen nach nicht in einer Steigerung und Intensivierung des Christseins. Das „Amt" ist bei den Texten des gemeinsamen Priestertums gar nicht direkt im Blick, so dass von ihnen her auch nicht gegen es argumentiert werden kann.

b) Die christokratische Natur
Es gibt nur einen Mittler zwischen Gott und den Menschen: Jesus Christus. Er ist in jeder Hinsicht die Vollendung der Priestertümer aller Zeit, der heidnischen und der jüdischen. In seiner Lebenshingabe ist die ganze Wirklichkeit des Heils gegenwärtig geworden. Darum kann das neue und einzigartige Priestertum Jesu Christi gar nicht durch „eigenständig" handelnde Priester weitergeführt oder gar ergänzt werden.

Jeder amtliche Vollzug ist darum zuerst ein radikales Freiwerden für Jesus Christus. Der eine und ewige Hohepriester soll gegenwärtig werden. Nur wenn Jesus Christus ungehindert seine Herrschaft in die Welt hinein ausüben kann, erfüllt das Amt seinen Zweck. Jeder Amtsträger ist Platzhalter für einen anderen, ist Vikar, nicht „Chef" (was freilich keine Ordnung zwischen den Ämtern ausschließt). Dadurch verbieten sich von vornherein Tendenzen zur Selbstbehauptung und Selbstgefälligkeit des Amtsträgers. Sein und Tun müssen immer wieder auf Jesus Christus als Ursprung und Grund des Amtes hin transparent werden. Diese Armut des Amtes ist zugleich sein verborgener Reichtum. Der Amtsträger spricht nicht in eigener Machtvollkommenheit, sondern im Namen Jesu Christi. Darin liegt das Spezifikum des Amtes: Bevollmächtigtsein zum Sprechen und Handeln im Namen Jesu Christi. Deshalb sagt die theologische Überlieferung, dass Jesus Christus selbst es ist, der tauft, predigt und Eucharistie mit uns feiert (vgl. Vaticanum II, Liturgiekonstitution, Art. 7). Bereits das Neue Testament sagt dies bei der Aussendungsrede Jesu: „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verwirft, der verwirft mich" (Lk 10,16). Damit ist der tiefste und letzte geistliche Grund des Amtes gegeben. Zugleich wird auch die Gefahr einer inneren Perversion dieses Auftrages sichtbar, wenn nämlich zu wenig unterschieden wird zwischen der persönlichen Meinung und Neigung des einzelnen Amtsträgers und dem unveräußerlichen Kern des Evangeliums.

Wer sich selbst an die Stelle Jesu Christi schiebt, verletzt zutiefst seinen Auftrag, auch wenn dies - Gott sei Dank - das amtliche Tun noch nicht einfachhin ungültig macht. Diese theologische Struktur hat viele Konsequenzen für die Grundeinstellung und Spiritualität des Amtsträgers. Sie gibt so etwas ab wie eine „innere Form" für jegliches Tun. Sie schließt zum Beispiel Willkür und Subjektivität im liturgischen Geschehen aus, erfordert aber eine hohe Bereitschaft, sich selbst mit allen Kräften vom Evangelium in Anspruch nehmen zu lassen: personal geprägte Zeugenschaft, nicht klingende Schelle, d.h. seelenloser Lautsprecher. Es gibt noch eine Reihe von fundamentalen Strukturen des geistlichen Dienstes, die entfaltet werden müssten. Es sind dies vor allem das apostolische Fundament des kirchlichen Dienstes, die Ordination als gottesdienstliche Gestalt der Übertragung des Amtes und die Einheit von amt-lichem Auftrag und personaler Existenz. Die wichtigsten Elemente hierfür wurden im ersten Teil bereits angedeutet. Auf ihre weitere Entwicklung muss in diesem Rahmen verzichtet werden.

III. Vordringliche Aufgaben des geistlichen Amtes

Von den Aufgaben des priesterlichen Dienstes kann hier nur sehr fragmentarisch die Rede sein. Sie entsprechen den Dimensionen einer christlichen Gemeinde: Glaube und Verkündigung, Gebet und Gottesdienst, Brüderlichkeit und Diakonie. Auch wenn ein Amtsträger noch so spezialisiert ist, so darf er sich nicht ausschließlich einer Dimension verschreiben. Ohne einen ständigen Austausch mit Verkündigung und Gebet wird auch der Dienst am Bruder schal und unwahr. Und eine Predigt, die sich nicht in der Tat des Lebens bewähren würde, verlöre auf Dauer an Glaubwürdigkeit. Ich möchte in diesem Kontext nur auf zwei grundlegende Aufgaben aufmerksam machen, von denen her sich alle anderen irgendwie ergeben und ausrichten lassen.

a) Die Macht des Evangeliums
Die Aufgabe der Verkündigung ist in der neueren Theologie des Amtes, auch in den offiziellen Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils, mit Recht an die erste Stelle gerückt. Dabei geht es nicht nur um den Vorgang der Predigt, sondern um die Gegenwärtigsetzung der Heilswirklichkeit des Evangeliums durch das Wirken des Wortes. Niemand kann das Wort des Heils selbst erfinden, auch nicht der höchste philosophische oder theologische Genius. Das Wort des Heils bleibt zwar unwirksam, wenn es nicht auf Empfänglichkeit und Bereitschaft des Hörers stößt, aber es muss uns „von außen" gesagt werden. Wenn es also nicht verkündigt wird, dann kann es auch keine heilsame Kraft entfalten. Dieses Wort des Evangeliums ist auch darum immer notwendig, weil wir Menschen uns in unserer eigenen Welt abschließen.

Die Sorgen und Geschäfte der Welt verschließen den Himmel über uns. Darum bedarf es stets des eröffnenden Wortes, das die Menschen überhaupt erst wieder an den Sinn ihres Lebens erinnert und sie auf die Wege zu Gott führt. Der Amtsträger muss zuerst ein Mann des Wortes sein, das vergessene und verdrängte Wirklichkeit zu buchstabieren hilft, Unscheinbares zur Sprache bringt, prophetisch eindringlich mahnt und richtet, taube Ohren wieder öffnet und Trostlosen ein brüderliches Wort zusagt. Es gibt für das geistliche Amt keine größere Macht als die Kraft des Wortes, worin Gott Gegenwart bei uns werden kann.

„Wort" und „Evangelium" sind mehr als Information und ständige Verbalisierung. Zum Wort Gottes gehört auch das Schweigen und die Besinnung. Nur wenn das Wort Gottes aus der Stille vernommen wird, kann es seine schöpferische und unvergleichliche Kraft entfalten. Dieses Wort ist auch mehr als ständige Berieselung. Das wahre Wort kommt von weither. Zu ihm gehören die Klangfarbe und eine Tonart, Symbole und Gesten, welche im Bereich der Leibhaftigkeit das Gesagte bekräftigen. Darum gibt es auch keinen letzten Gegensatz zwischen Wort und Sakrament. Das wirkende Wort Gottes drängt von sich aus zur Realisierung seiner selbst als leibhaftige Erscheinung, und Sakrament kann es im christlichen Sinne nicht stumm geben, sondern es wird immer durch das Wort in seiner Mitte gebildet. Schließlich muss das Wort in all seinen Spielarten gesehen werden: Es umfasst das Wort der Verkündigung und der Katechese, es ist zugleich Mahnung und Trost, es ist beschwörendes Wort und Klage, aber zu ihm gehört auch der Mut zur Klarheit von Lehre und Recht. Die Vielfalt der Vollzugsmöglichkeiten des Wortes erleichtert die Ausübung von Vollmacht und Autorität. Das wahre Wort, das die Wirklichkeit Gottes im Leben der Menschen aufzeigen will, möchte Weisung sein. Darum steht die Verantwortung für das Wort in einer engen Beziehung zum Führen und Leiten des Volkes Gottes.

b) Stiftung von Einheit
Damit ist auch schon die Brücke geschlagen zu einer eng damit verbundenen Aufgabe, nämlich der Leitung des Volkes Gottes. Dies heißt nicht zuerst Kommandogewalt irgendwelcher Art ausüben. Es geht auch nicht darum, dass ein Schiff eben einen Kapitän braucht. Auch hier müssen die geistlichen Motive in ihrer Bedeutung wahrgenommen werden. Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die zuerst einmal aus ihrer vielfältigen Zerstreuung in ver-schiedene Rassen und Klassen, Nationen und Sprachen zusammengerufen werden muss. Kirche geschieht wesentlich dann, wenn Menschen ihre „natürlichen" Unterschiede im Geist Jesu überwinden und in Hoffnung und Liebe zueinanderfinden. Weil wir aber von unseren partikulären Interessen und Neigungen her immer wieder auseinanderstreben, bedarf es der ständigen Sorge um die Einheit. Gerade heute, wo die Gemeinde sich nicht mehr ausschließlich nach vorgegebenen territorialen Strukturen aufbauen kann, sondern aus der Verschiedenheit der Menschen sowie aus allen möglichen räumlichen und geistigen Himmelsrichtungen als „Kir-che" gesammelt werden muss, ist allein schon das Zusammenbringen der vielen Fremden und das Sammeln der Einzelchristen zum lebendigen Ereignis „Gemeinde" eine eminente Aufga-be des geistlichen Amtes. Wenn der Amtsträger sammelt, dann gruppiert er die Christen nicht um seine Person, sondern einigt sie auf Jesus Christus hin. Aufgabe der Einheitsstiftung heißt natürlich nicht, dass der Amtsträger von sich aus alle Dienste und Aufträge in der Gemeinde übernehmen und ausüben kann. Die Einigung geschieht nicht zuletzt darin, dass das Amt die verschiedenen Befähigungen in einer Gemeinde entdeckt und weckt, sie zusammenführt und - wenn nötig - korrigiert. Aber gerade diese Aufgabe erfüllt das Amt nicht mit rein organisatorischen Mitteln. Alle Hilfen der Humanwissenschaften können, wenn sie klug und zurückhaltend angewendet werden, Erleichterungen für die geistliche Aufgabe sein. Auch hier geht es darum, dass inmitten aller einheitsstiftenden Einzelaufgaben die geistige Führung der Gemeinde liegt. Es kann nicht darum gehen, die „Herde" mit einer unaufhörlichen Geschäftigkeit einfach zusammenzuhalten. Vielmehr müssen alle immer wieder auf die gemeinsame Sache hingelenkt werden. Darum können der Pfarrer und der Bischof keine haltbare Einheit schaffen, wenn er nicht zuerst und vor allem ein Mann des Wortes Gottes und des Evangeliums ist. Einheitsstiftung bedeutet nicht ein Taktieren zwischen einzelnen rivalisierenden Gruppen und ein kompromisslerisches Lavieren zwischen allen Fronten. Der Priester und der Bischof müssen zweifellos um immer erneute Konsensbildung auf dem Boden des Evangeliums bemüht sein. Aber dazu gehört bei aller Weite und Freiheit des Wortes Gottes auch der Mut zur Unterscheidung der Geister. Das Wort Gottes verlangt solche Bestimmtheit und Entschiedenheit. Christlicher Glaube existiert nicht ohne Anspruch auf Wahrheit, und eine Kirche, die sich zum Gott des Friedens bekennt, muss sich auch zu einer verbindlichen Ordnung ihres Lebens verpflichten. Stiftung von Einheit heißt, wie das Gesagte schon zeigt, nicht Herstellung von Einförmigkeit. Es kommt gerade darauf an, den einzelnen Gaben in der Kirche: Frauen und Männern, Jungen und Alten, Weißen und Schwarzen mit ihrer Geschichte und ihren Fragen Lebensrecht in der einen Kirche zu gewähren. Dasselbe gilt für die verschiedenen Sprachen, Kulturen und Kontinente. Aber katholisch ist ein Christ nur, wenn er weiß, dass er allein nicht alles besitzt und besitzen kann. Darum gehört zur Stiftung von Einheit auch Lernenkönnen und Austausch. Dabei gibt es nicht nur eine Einbahnstraße der Hilfe. Nicht nur die Armen empfangen, wenn wir ihnen durch Adveniat, Misereor und Missio helfen, sondern auch wir werden beschenkt, wenn wir die Andersheit des Bruders annehmen.

Schließlich gipfelt der Dienst an der Einheit in der Feier der Eucharistie. Sie ist der wahre Höhepunkt des kirchlichen Lebens. Alle anderen Vollzüge des Betens und Dienens, Verkündigens und brüderlichen Helfens münden in die Feier des Todes und der Auferstehung des Herrn. Hier wird die Kirche wirklich genährt und auferbaut. Hier wird nicht nur das Wort des Lebens, sondern die leibhaftige Person Jesu Christi in den Zeichen von Brot und Wein durch den Geist den Gläubigen mitgeteilt. Kein Wort kann mehr bewirken als dies, und keine Einheit kann tiefer sein als jene, die uns in den Leib Jesu Christi hineinnimmt, wo alle Einer werden. Und darum ist es notwendig, dass der Verkünder des Evangeliums im Namen Jesu Christi und der Kirche auch die Feier der Eucharistie leitet.

Dazu gehört aber nun heute ganz entscheidend die missionarische Dimension. Die Kirche schrumpft ein auf ihre Getreuen und auf die Kerngemeinden. Der Bestand wird verwaltet, aber wenig Neuland wird erobert bzw. zurückgewonnen. Wir sind uns offenbar weder der faktischen Missionssituation noch der gegebenen Chancen genügend bewusst geworden. Eigentlich müsste am meisten zählen, wie viele „Heiden" wir im Laufe unserer Tätigkeit zu Jesus Christus führen konnten. Wir gehen nicht mehr an die Zäune und Hecken, um dort die Botschaft Jesu auszurichten. Wir flüchten vor Orten der Auseinandersetzung und der Argumentation, des Wettbewerbs und Streits im Kampf der Weltanschauungen und Religionen. Wir verraten die uneingeschränkte Sendung der Kirche in alle Gassen und Winkel unseres Lebens. Der große missionarische Elan des Zweiten Vatikanischen Konzils ist so gut wie abgestorben, wenigstens im Blick auf unsere eigene mitteleuropäische Situation. „Zeugen bis an die Grenzen der Erde ..." - dies ist die einzige Alternative!

Dies ist nur eine erste Fundierung der Rede vom geistlichen Dienst. Sie ist aber gerade auch deshalb notwendig, weil wir heute die Pluralität von Priesterbildern in theoretischer Hinsicht und in der praktischen Verwirklichung besonders stark empfinden. Dann darf gerade die gemeinsame Klammer nicht fehlen. In der konkreten Realisierung wird dieses Grundwesen des priesterlichen Dienstes in vielen Verwirklichungsformen lebendig: Leitbilder sind zunächst ja vor allem der Pfarrer einer Gemeinde, Seelsorger in verschiedenen Bereichen (z. B. Krankenhaus, Gefängnis usw.), aber auch Religionslehrer, Seelsorger in verschiedenen Verbänden, z. B. auch Jugendseelsorge. Es gibt aber auch Einsatzorte wie die Caritas, die Mitverantwortung bei der Leitung eines Bistums (Generalvikar) bis hin zu mannigfaltigen Verwaltungsdiensten in der Kirche, die - nicht grundsätzlich - durchaus in einzelnen Fällen von Priestern durchgeführt werden können. Dieses breite Spektrum der Verwirklichung des priesterlichen Dienstes muss uns im Bewusstsein bleiben.

Dabei gibt es aber auch zahlreiche Priesterbilder in dem Sinne, dass sie von den einzelnen Persönlichkeiten je auf eigene Weise und mit einer besonderen Spiritualität realisiert werden. Dies reicht vom Pfarrer von Ars bis zu den großen Priestergestalten des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt den Gründern der Priestergemeinschaften. Wir haben auch in unserem Bistum und im Laufe dieses „Priesterjahres" die Gelegenheit gehabt und noch vor uns, einzelne Persönlichkeiten besser kennenzulernen, z.B. feiern wir im Jahr 2010 den 100. Tag der Priesterweihe von Romano Guardini, der ja ein Mainzer Priester war und ist; wir haben in St. Peter anlässlich der Einweihung der erneuerten Ruhestätte von Pfarrer Franz Adam Landvogt einen heute noch hoch angesehenen Priester mit einer großen pastoralen Ausstrahlungskraft aus der Kriegs- und Nachkriegszeit vor uns. Ich denke aber auch an Gestalten wie Bartholomäus Holzhauser aus Bingen und seine große Bedeutung für die Erziehung und das Leben der Priester (vor allem auch im Blick auf die Frage der VITA Communis) und nicht zuletzt auch an das Priesterbild von Bischof von Ketteler, dessen 200. Geburtstag wir im Jahr 2011 feiern. Die verschiedenen Veranstaltungen im Bistum, hier in den Adventspredigten des Domes, in den Vortragsangeboten der Akademie unseres Bistums (Erbacher Hof), aber auch den Angeboten von Ordensgemeinschaften (amerikanische Schwestern) und des Priesterseminars (einschließlich der Diözesanstelle für Berufungspastoral) werden bis zum Ende des Priesterjahres im kommenden Juni viele Gelegenheiten zur konkreten Entfaltung geben.

Wir erhoffen uns natürlich auch von diesem Jahr einen gewissen Aufschwung der Berufungen zum priesterlichen Dienst, deren Zahl zurzeit sehr niedrig ist. Ein großer Teil der Priester wurde früher von den Pfarrern und Religionslehrern entdeckt und geweckt. Es scheint mir ein böses Zeichen zu sein, dass wir Priester offensichtlich nicht mehr für unseren Beruf werben und nicht mehr ansteckend wirken. Viele haben offenbar den Mut verloren, junge Leute für diesen Auftrag zu gewinnen. Zweifeln sie selbst an ihrem Auftrag? Sind sie „nur" überlastet und müde? Auch in Zukunft werden Berufungen geistlicher Art entscheidend durch Vorbilder des konkreten Lebens geweckt und ermuntert, gestärkt und geführt. Vielen Amtsträgern fehlt Hoffnung und Zuversicht, sie sind kleingläubig im Blick auf ihren Beruf. Informationszentren für geistliche und kirchliche Berufe, wie wir sie heute in den Diözesen haben, sind gut und nützlich, aber sie können die ureigene Aufgabe aller Berufungen nicht ersetzen, nämlich für Nachfolger im Dienst am Reich Gottes zu sorgen. Wir sind immer dann am aktuellsten, wenn wir aus der radikalen Mitte des Glaubens leben. Der heilige Augustinus fasst alles meisterhaft zusammen: „Wo mich erschreckt, was ich für euch bin, da tröstet mich, was ich mit euch bin. Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ. Jenes bezeichnet das Amt, dieses die Gnade, jenes die Gefahr, dieses das Heil" (Sermo 34,1: PL 38, 1483).

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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