Der neue Bundespräsident Joachim Gauck hat in Erinnerung an seine Unfreiheit im DDR-Staat öfter gesagt, er wolle nie in seinem Leben eine freie Wahl versäumen. Er weiß aus seiner persönlichen Erfahrung, dass diese Entscheidungsmöglichkeit für jeden Bürger keine Selbstverständlichkeit, sondern eine wirkliche Errungenschaft ist.
Daran musste ich öfter denken, als ich vor 14 Tagen bei den Oberbürgermeisterwahlen für Frankfurt und Mainz und nun bei den Stichwahlen am vergangenen Sonntag in beiden Städten tief gesunkene Prozentsätze der Wahlbeteiligung zur Kenntnis nehmen musste. Es waren um die 35 Prozent. Nur jeder Dritte hat gewählt. Dabei verkenne ich nicht, dass die Stichwahl zwischen bloß zwei Kandidaten manchen wirklich Kopfzerbrechen machte. Sie sind dann oft zwar an die Wahlurne gegangen, haben aber ungültig gewählt. Es ist ein echtes Dilemma, wenn man keinem von den beiden Kandidaten die Stimme geben kann oder will. Aber immerhin wird vom Wahlrecht Gebrauch gemacht und die Meinung geäußert.
Dabei muss ich immer wieder an die Möglichkeit der freien Wahl denken. Es ist wirklich eine hart erstrittene Errungenschaft. Wir brauchen uns nur ein bisschen in der Welt umzuschauen, um dies zu merken. In den arabischen Ländern haben Menschen vor Freude geweint, dass sie nun zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt wählen durften. In Russland sind Abertausende auf die Straßen gegangen und haben protestiert, weil nach ihrer Ansicht ein Wahlbetrug in größerem Stil im Spiele war. So viel ist andern Völkern die Wahl überhaupt und erst recht eine in der Tat freie Wahl wert. Es ist ja auch bei uns selbst nicht so lange her, dass eine freie Wahl überhaupt möglich ist. Nicht ohne Übertreibung kann man sagen, sie ist ein wahres Geschenk, das man zu schätzen wissen muss.
Was steckt hinter der erstaunlich niedrigen Wahlbeteiligung? Die übliche Begründung „Politikverdrossenheit" reicht nicht aus. Haben die Menschen den Eindruck, sie könnten doch nichts bewirken? Die Fluglärmgegner kommen sich zu großen Teilen wirklich ohnmächtig vor. Muss die Politik nicht viel früher das Interesse der Bürger - mindestens für größere Projekte - stärker wecken? Hat man wirklich Interesse an einer Beteiligung aller? Oder geht es eher um das Durchsetzen partikularer Interessen?
Jeder kann gelegentlich einen Grund haben, warum er eine Wahl versäumt. Aber regelmäßige Enthaltung ist im Grunde doch ein Schlag ins Gesicht der Demokratie. Es scheint ein schlichtes Desinteresse um sich zu greifen, ob und wie unser Gemeinwesen funktioniert. Und schließlich sollte man auch nicht vergessen, welche Wirkung diese massenhafte Enthaltung auf aufrichtig engagierte Menschen und politisch Tätige hat, wenn sie sich überdurchschnittlich Zeit nehmen für ihren Beruf und dennoch so wenig Aufmerksamkeit ernten.
Wenn ich mich gelegentlich zu diesen Fragen äußere, wird mir manchmal entgegengehalten, dies seien doch ganz weltliche Themen, die in der Kirche keinen Platz hätten. Selbstverständlich kann man als Christ in verschiedenen Staatsformen leben, wie die Geschichte zeigt. Aber das Zeugnis des christlichen Lebens erschöpft sich nicht im Inneren der Kirche oder der Gotteshäuser. Es kommt auch auf die Bewährung unseres Glaubens im Alltag unseres Lebens an. Schließlich wird in der Gesellschaft konkret entschieden, wie weit christliche Überzeugungen öffentlich zum Tragen kommen. Dann ist es nicht gleichgültig, ob wir zu einer Wahl gehen oder nicht.
Manchmal, wenn ich nach einem wirklichen Grund für die Enthaltung suche, kommt mir unwillkürlich die Frage beunruhigend in den Sinn: Geht es uns zu gut? Ist uns auch schon die politische Willensbildung zu viel? Dann wäre dies eine hohe Alarmstufe für unser Zusammenleben und unsere Gestaltung der Gesellschaft.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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