JESUS CHRISTUS: "UNSER LEBEN"

Pontifikalgottesdienst am Ostersonntag, 15. April 2001 im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Sonntag, 15. April 2001

Pontifikalgottesdienst am Ostersonntag, 15. April 2001 im Hohen Dom zu Mainz

Texte: Apg 10, 34a.37-43; Kol 3, 1-4; Joh 20, 1-9 | 

Ostern kann man nur richtig feiern, wenn man auch den Weg Jesu während der Passion und am Kreuz mitgegangen ist. Tod und Leben sind die äußersten Gegensätze, die der Mensch kennt, aber er muss sie zugleich immer wieder miteinander und gegeneinander konfrontieren, damit er das eine und das andere besser verstehen lernt.

So ist es auch und erst recht mit dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi. Ja, hier kommt dieser äußerste Gegensatz sogar zu einem einmaligen Höhepunkt. Dieser besteht darin, dass hier Leben und Tod in einmaliger Weise aufeinander treffen. Jesus bringt in ganz besonderer Weise das Leben in das Spiel. Ja, er will den Menschen das "Leben in Fülle" bringen. Schließlich gibt er sein Leben hin für alle und macht es dadurch in ganz besonderer Weise fruchtbar. Zugleich erfährt er in brutaler Weise die Gewalt der Menschen am eigenen Leib und die Zerstörung des Lebens. Dieser Gegensatz wird dadurch noch offenkundiger, dass hier der Gerechte in einmaliger Weise das Unrecht so vieler erfahren und hinnehmen muss. Der so vielen Heilung und Leben schenkt, wird aus recht niederen Motiven seines Lebens beraubt.

Wir trennen oft Tod und Auferstehung ganz auseinander. Vor Ostern ist dann alles der Passion und dem Tod zugeordnet, an Ostern konzentriert sich alles ausschließlich auf die Auferstehung. Hier Jammertal, dort Herrlichkeit. Dazwischen ist die enge Pforte. Dies kann zu einem falschen Verständnis führen, das die Bibel schon mit manchen Bildern und einigen Aussagen korrigiert. So trägt z.B. der auferstandene Herr die Wundmale des Gekreuzigten. Der auferstandene Herr ist der Gekreuzigte. Dies ist nicht eine Aussage gleichsam banaler Identität in dem Sinne, dass der auferweckte und erschienene Herr kein Gespenst ist, sondern identisch ist mit dem, der am Kreuze hing. Damit wird vielmehr das Verständnis des Lebens neu erschlossen. So kann die Schrift sagen, dass Jesus Christus "unser Leben" ist (vgl. Kol 3,4), wie es die heutige Lesung tut. Es ist geradezu ein Titel, beinahe ein Name.

Christus – unser Leben: Wir alle hungern nach Leben. Wir wollen alles noch schneller, noch ursprünglicher, noch attraktiver und noch lebendiger haben. Darum eilen und rennen wir. Unsere Zeit wird immer mehr beschleunigt. Wir haben Angst, dass wir etwas für uns Wichtiges versäumen könnten. Die Sorge, zu spät zu kommen, ist ein mächtiger Motor für die immer größere Beschleunigung unseres Lebens. Aber wie ist denn dieses Leben? Wir wollen vor allem Abwechslung, etwas Neues und dies unaufhörlich. Es ist atemberaubend, wie uns in der Mode, in der Technik, in der Wohnungsausstattung, beim Auto, im Computerwesen immer wieder insinuiert wird, eigentlich wären wir veraltet. Wir müssten schon längst Neues anschaffen. So gibt es eine riesige Hektik vor allem im Warenumschlag. Die produzierten Waren dürfen nicht lange auf dem Lager bleiben. Dies gilt sogar für wertvolle Bücher. Alles muss rasch umgesetzt und umgeschlagen werden.

Am Ende machen wir es so auch mit Menschen, nicht nur mit Autos und Kleidern. Wir tauschen einfach aus. Auch die Menschen werden Ersatz- und Versatzstücke. Und dies alles entspringt dem unersättlichen Hunger, wir könnten etwas versäumen, wir müssten auf etwas verzichten, das uns schwer fehlen könnte. Wir können entdecken, dass wir bei diesen Gesetzlichkeiten des Umgangs miteinander, die große Ähnlichkeit mit den Spielregeln des Marktes haben, getriebene und gehetzte Menschen sind, die letztlich aus Angst vor dem Tod, vor einem frühzeitigen Ende dieser ständigen Auswahl und des ununterbrochenen Tausches stehen. Wir sind so lebenshungrig, weil wir insgeheim von einer Lebensangst, ja Todesangst erfasst sind, oft ohne darum zu wissen.

Christus – unser Leben: Durch den Weg Jesu nach Jerusalem und zum Kreuz, seinen Tod und seine Auferstehung ist das, was Leben heißt, verwandelt. Es ist frei geworden von der Angst, zu kurz zu kommen. Jesus hat nämlich sein Leben schon in dieser Zeit am besten investiert. Er hat sich nicht selbst gesucht, auch nicht sein Glück oder seine Erfüllung, wie immer wir dies nennen wollen. Dabei wollte er durchaus sich selbst in einem höchsten Maß verwirklichen. Er gibt sich nicht einfach preis. Er gehört nicht zu denen, die ihr eigenes Leben regelrecht im Rausch der Arbeit oder der Sinne vergessen. Sein Lebensgeheimnis besteht gerade darin, dass er ganz auf Gott Vater und ganz auf die Menschen bezogen ist. Er überschreitet sich immer selbst auf Gott und die Menschen hin. Er hat sein Zentrum in diesem doppelten Überstieg. Beides gehört zusammen. Denn er ist nur weit und vorbehaltlos, offen und einsatzbereit für alle Menschen da, weil er in der Tiefe Gottes wurzelt, der uns immer wieder über unsere Engstirnigkeiten und Borniertheiten hinausführt. Diesen Dienst leistet Jesus restlos, bis zur Neige. Er trinkt den Kelch wirklich aus, den der Vater ihm vorherbestimmt hat. Aber gerade so hat er auch keine Angst vor dem Tod, er kennt nicht die Sorge, er könnte zu kurz kommen. Er verwirklicht so das Höchste und Beste im Leben, das nicht übersteigert werden kann. So braucht er auch vor dem Tod keine Angst zu haben. Er kann ihm schließlich dieses Leben vor Gott und für die Menschen nicht schlechthin rauben. Darum hat dieses Leben einen neuen Sinn bekommen. In diesem Leben sind der Tod und alle Ängste mit ihm schon überwunden. Sonst könnte man den Triumph nicht verstehen, den das Osterzeugnis in der Heiligen Schrift gerade an dieser Stelle enthält. So heißt es z.B. in 1 Kor 15,54f, in einem fast übermütigen urchristlichen Lied: "Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?"

Darum kann die Lesung des heutigen Tages ganz nebenbei sagen, er ist unser Leben. Die Hl. Schrift sagt es auch nochmals anders, wenn sie z.B. formuliert: "Denn für mich (für Paulus im Gefängnis) ist Christus das Leben und Sterben." (Phil 1,21) Plötzlich sind Tod und Leben nicht mehr diese äußersten Gegensätze, sondern sie sind in Jesu Tod und Auferstehung überwunden. Es gibt nun eine unbezwingbare Freude, die es sonst nicht gibt. Sehr deutlich wird dies auch in den Abschiedsreden Jesu bei Johannes gesagt, dass er die Welt überwunden hat und alle Angst und alles Zögern unseres Herzens von uns nimmt: "In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt." (Joh 16,33)

Wenn dies "unser Leben" ist, dann könnten wir Christen viel stärker sein, als wir denken. Wir brauchten keine Angst zu haben, uns allein auf Jesus Christus zu verlassen und ihm nachzufolgen. Mit ihm verlieren wir nichts. Wir können in ihm nur alles gewinnen. Wir brauchen auch keine Angst zu haben, wir könnten uns verlieren, wenn wir uns selbstlos einem Auftrag, einem Menschen oder einem Werk verschreiben, uns in diesem Sinne hingeben. Wie viel Angst haben wir immer wieder, wir könnten nicht alles zurückerhalten, was wir investieren. Deswegen schonen wir uns und ziehen uns zurück. Deshalb haben wir oft Angst, uns wirklich an eine große Sache zu wagen, grundlegend solidarisch zu sein mit Bedrängten in aller Welt, an die nachfolgenden Generationen zu denken – eher verbrauchen wir alles für uns und sind kurzsichtig. Der Glaube, der aus der Auferstehung kommt, lässt uns eine neue Solidarität entdecken, die unsere Welt ganz dringend braucht. Ostern ist in diesem Sinne das Fest unbesiegbarer Freude und neuer unverbrauchter Hoffnung.

Man kann eben das Glück nicht direkt, gleichsam am Schopf packen und für sich allein pachten. Wir gewinnen das Glück nur indirekt, auf dem Rücken einer guten Tat für andere. Dann merken wir mit um so größerer Freude, dass wir auf dem rechten Weg sind und dass wir das Leben nicht verlieren, sondern gewinnen. Auch hier ist das Wort Jesu vom Weizenkorn bleibend wichtig. Wenn es nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein und trägt keine Frucht. Wenn es aber stirbt, bringt es paradoxerweise viel Frucht. Amen.

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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