Wenn man die verschiedenen Umfragen in diesen Tagen recht deutet, so blicken die Deutschen mit düsterem, skeptischem Blick in die Zukunft. Es sollen Zweidrittel aller Menschen sein, die von solchen Befürchtungen geprägt sind. Nur in den Zeiten des Koreakrieges (1950), der Ölkrise (1973) und des wirtschaftlichen Rückgangs zu Beginn der 80 er Jahre habe es einen solchen Pessimismus gegeben. Im Vordergrund steht dabei die Sorge um den Erhalt der Arbeitsplätze und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, aber auch die Angst, man würde erworbene Segnungen der Wohlstandsgesellschaft verlieren.
Wir wissen freilich schon länger, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Und dass wir uns vielfach einschränken müssen. Schon seit Jahrzehnten spricht man von den Grenzen des Wachstums. Die Sozialsysteme könnten einen Kollaps erleiden, wenn wir nicht rechtzeitig umsteuern. Die Rücksicht und die Sorge um die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen müssten uns viel mehr umtreiben. Der Verbrauch zahlreicher Rohstoffe muss im Lichte längerfristiger Perspektiven überprüft werden. Die Wandlungen unseres Klimas geben bei allen bleibenden Ungewissheiten über Ursachen und Verlauf immer mehr zu denken. Die Bewältigung von Abfall und Müll zeigt uns nochmals, wie umfassend das Bündel an Maßnahmen sein muss.
Wir haben uns an viele Dinge gewöhnt und halten die entsprechenden Entwicklungen für unumkehrbar. Viele sind der Meinung, wir lebten in einer Anspruchsgesellschaft die kaum mehr fähig ist für Korrekturen. In der Tat müssen wir uns viel mehr fragen, ob wir manchen Luxus, der in Wahrheit keiner ist, wirklich brauchen. Es werden überall viele Banalitäten und Spielereien produziert, die wirklich keinen Fortschritt darstellen und das Leben nicht erleichtern. In manchen Bereichen mag es durchaus einen einsichtigen und brauchbaren technisch-zivilisatorischen Fortschritt geben, aber man kann sich fragen, ob alles, was noch in der technischen Entwicklung überprüft werden muss, schon in die weltweite Produktion umgesetzt werden muss.
Wir wollen dabei keine Romantiker sein. Wir sind weder Maschinenstürmer noch weltfremde Öko-Träumer. Der Mensch muss immer wieder einen mühsamen Ausgleich finden zwischen dem Bebauen sowie dem kühnen Entwerfen und Produzieren und dem Bewahren unserer Lebensbedingungen, was auch eine Haltung der Rücksicht und des Schonens enthält. Dabei wissen wir schon lange, dass wir eine neue Lebensqualität auch dann erringen können, wenn wir mit unseren Ansprüchen kritischer umgehen. Die Mystik, aber auch das säkulare Denken vieler Jahrhunderte mahnt uns dabei, wenn sie sagen, dass der Verzicht nicht nur nimmt, sondern auch gibt.
Wir wissen dies schon längst. Es ist nichts Neues. Aber wir bleiben in einem merkwürdigen Stadium der Immobilität, auch wenn viele im technisch- ökonomischen Bereich sich wandelt. Dabei darf man besonders an folgende Grundhaltungen, die sich offenbar eingeschlichen haben, denken:
Gegenüber unserer Situation verharren wir sehr oft sehr passiv und sehen vieles schicksalhaft an.
Vieles erwarten wir fast ausschließlich von der Politik, die für manche wie ein „Deus ex machina" neue Verhältnisse herbeizaubern soll. Für nicht wenige ist die Politik die einzige Klammer, die alle Lebensbereiche umfasst und letztlich auch bestimmt.
Wir sind Meister im Verdrängen. Vieles wissen wir schon längst, aber wir schieben es geistig und ethisch beiseite.
Dies gilt besonders auch für die Suche nach Ursachen für schwierige Entwicklungen. Wir suchen das Heil in der Verbesserung von Symptomen, gehen aber den Entwicklungen nicht auf den Grund.
Dieses Verdrängen gilt ganz besonders auch für die individualethische Verantwortung des Einzelnen. Man redet viel z.B. über die Zunahme der Aids-Krankheit und begnügt sich mit dem Hinweis auf allerlei Schutzmöglichkeiten vor einer Ansteckung, wagt aber nicht manche Verwilderung im Bereich des Sexuallebens beim Namen zu nennen. Man pflegt weniger das Ethos, auf das es ankommt (und dies bis in Schule und Bildung hinein), sondern sucht nach äußeren gesetzlichen Maßnahmen, um Abhilfe zu schaffen. So sollen Menschen mit einem erhöhten Raucherrisiko und Alkoholikerverhalten höhere Beiträge in das Gesundheitssystem einzahlen, anstatt das man sich stärker in Erziehung und Bildung bemüht vernünftige menschliche Grundhaltungen auszubilden und zu fördern. Wer redet denn hier von den Tugenden der Klugheit und des Maßhaltens?
Wir dürfen uns nicht wundern, wenn dabei manchmal die Freiheit des Einzelnen, die wirklich zu den kulturellen Voraussetzungen unseres heutigen Lebens gehört, von außen gefährdet wird, weil wir selbst nicht in der Lage sind, sensibel mit ihr gerade im Blick auf die soziale Verantwortung umzugehen.
Der Christ hat keine weltlichen Rezepte für die einzelnen Aufgaben. Er muss jedoch bereit sein, wie es ja auch immer wieder geschieht, an solchen Lösungen mitzuarbeiten, die nicht nur momentan, aktuell und nicht selten auch modisch etwas versprechen, sondern die auch bei näherem Zusehen und morgen noch ein wahrer Fortschritt sind. Auf diesem Wettbewerb tragfähiger Ideen muss es viel mehr ankommen. Der Christ kann jedoch – gewiss nicht allein und auch nicht alleinzuständig – dabei helfen, unerlässliche menschliche Grundhaltungen zu fördern und zu stärken, die Voraussetzungen sind für das Gelingen aller Erneuerungsversuche: Mut zur Umkehr und Veränderung, Stärkung der Eigenverantwortung, Ermutigung zu einem schöpferischen Vorgehen, Zivilcourage gegenüber eingefahrenen Trends, langer Atem bei Schwierigkeiten und auch im Scheitern.
Ich bin der Meinung, dass dies etwas zu tun hat mit der Geschichte von Jesu Wandel auf dem See, die wir in der Lesung gehört haben. Die Erzählung erschöpft sich gewiss nicht darin. Aber sie gibt mannigfache Winke und Impulse. Sie verschweigt uns nicht, dass der Mensch immer wieder in Not, Bedrängnis und Angst kommen kann. Wir müssen damit rechnen, dass wir gegen zu einfache paradiesischen Programme Einspruch erheben müssen. Gott kann uns nicht einfach vor Herausforderungen und Stürmen bewahren, aber man erfährt ihn in den Turbulenzen. Wer sich an falsche, vermeintliche Sicherheiten klammert, geht am Ende unter. Es genügt auch nicht nur der Blick auf sich selbst und die eigenen Kräfte. In unserer Erzählung geht der Blick auf einen Anderen. Mit ihm können wir eigene Grenzen im Glauben überschreiten und sehr viel mehr erreichen, als wir uns allein zutrauen. Wenn wir aber nur auf die Gefahren und die Unsicherheiten allein blicken, dann geht es uns wie Petrus, der in dem Augenblick zu versinken beginnt, als er kein Vertrauen mehr hat zum Herrn. „Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen." (14, 30)
Wir brauchen ein größeres Vertrauen: in unsere Kräfte, in die Phantasie der Menschen, in die Leistungsfähigkeit der Gemeinschaft, aber auch in die Hilfen „von oben", von Gott. Der Evangelist Matthäus hat in seinem Evangelium, aber auch an unserer Stelle ein besonderes Wort, um die Mischung von Hoffnung und Verzagen, Ermutigung und Verzweiflung zu beschreiben, die hier auch den Christen befallen können. Es ist der „Kleinglaube" (vgl. 14, 31 u.ö.). Dies ist eine Mischung von Zuversicht, die nicht einfach fehlt, aber kraftlos ist, und von Angst, die immer lähmt. Wenn wir stärker von einer Glaubenshaltung herkommen, könnten wir auch sagen der „Kleinglaube" sei so etwas wie der „Unglaube" der Jünger (vgl. Mt 6, 30; 17, 17.20; 13, 58; 8, 26; 14, 31; 16, 8.) Es sind der Mangel an Vertrauen, zunächst zum Herrn, und das mangelnde Durchhalten des Glaubens bei Anfechtungen, die den Glauben immer wieder entstellen und ihn als „Kleinglauben" erscheinen lassen.
Jesus kann uns, wenn wir uns dem Evangelium öffnen und uns von ihm inspirieren lassen, solche Zweifel nehmen. Hinter ihm steht Gott selbst. Was der Einzelne erfahren kann, gilt analog auch durchaus von einer Gemeinschaft, die durch die Glaubenden gebildet wird. Die Tradition und vermutlich schon Matthäus und die Urchristenheit haben in dem Schiff auf der rauhen See immer schon die Kirche gesehen. Aus sich allein ist sie untauglich. Stark ist sie nur im Herrn und wenn sie sich ihm anvertraut. Dann brauchen wir auch keine Sorge oder Angst zu haben vor dem Gegenwind. Der Herr der Welt und der Kirche kann auch ihm Einhalt gebieten.
Hinter Jesus und in ihm wird Gott der Vater erkennbar. Er ist der Grund unseres Vertrauens. Ein schönes, viel zu wenig bekanntes Wort aus dem Propheten Jesaja bringt ihn uns nahe im Blick auf dieses Vertrauen: „Hört auf mich, ihr vom Haus Jakob, und ihr alle, die vom Haus Israel noch übrig sind, die mir aufgebürdet sind vom Mutterleib an, die von mir getragen wurden, seit sie den Schoß ihrer Mutter verließen. Ich bleibe derselbe, so alt ihr auch werdet, bis ihr grau werdet, will ich euch tragen. Ich habe es getan, und ich werde euch weiterhin tragen, ich werde euch schleppen und retten." (Jes 46, 3f)
Es kommt darauf an, dass wir dieses Vertrauen, das Gott zu uns auch heute hat, wiederentdecken. Dann werden wir nicht so schnell die Flinte ins Korn werfen, weil uns die Probleme nach unserer menschlichen Erfahrung unlösbar erscheinen. Wir haben immer noch Zeit, um im Konflikt mit dem Irak für Frieden zu kämpfen. Wir haben das überzeugendere Menschenbild, wenn es um die Wahrung seiner Würde geht, wie jetzt wiederum beim Klon-Baby, aber wir sollten diese Aufgaben selbständig anpacken und nicht nur den Modethemen hinterherlaufen. Wenn dies schwierig ist und wird, sollte es uns nicht überraschen. Der Gegenwind gehört zum Schifflein Petri, aber auch Jesus, der Hilfe und Rettung bringt: „Und als sie ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind. Die Jünger im Boot fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn." (Mt 14, 32f) Wenn wir so den Jüngern folgen, werden wir auch im Neuen Jahr in den kleinen und großen, in den persönlichen und öffentlichen Dingen seinen wirksamen Segen erfahren. Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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