Jahresrückblick auf 2001

Datum:
Dienstag, 25. Dezember 2001

Lesungstext zur Predigt: Röm 8, 31-39

Der Jahresrückblick hat uns nicht nur vor der großen Herausforderung des 11. September, sondern auch angesichts vieler Katastrophen in Natur und Technik stärker als sonst erfahren lassen, wie zwiespältig und zerbrechlich unsere Welt und unsere Zivilisation sind, auch wenn wir immer wieder Grund haben, stolz und dankbar zu sein für viele Errungenschaften. Die Grunderfahrung dieser Zeit scheint mir vor allem die tiefe Ambivalenz unserer menschlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sein. Oft halten wir diese Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit unseres Lebens in ihrer Spannung nicht aus und flüchten uns entweder in einen abgrundtiefen Pessimismus oder in einen blinden Optimismus. Die Herausforderung im Sinne des Aushaltens und Austragens der Konflikte in der modernen Zivilisation geht dann zwischen diesen Extremen völlig verloren.

Nun hat sich unsere gesellschaftliche Atmosphäre und Verfassung von den Attentaten in New York und Washington her mindestens an einem Punkt gründlich verändert. Früher konnte man beim Terrorismus immer noch von der Vermutung ausgehen, eine verschwörerische Gruppe oder ein Einzelner wollten ein politisches Ziel erreichen, eine andere Gesellschaftsordnung einführen, und sicher war dies manchmal auch mit sinnlosen Zerstörungen von Sachen und Menschenleben verbunden. Aber die Attentäter waren ein Stück weit immer noch Revolutionäre, die eine andere und bessere Welt wollten. Deswegen haben sie auch nicht ihr eigenes Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Nun gibt es Menschen, die offenbar von einem beinahe blinden oder wirklich blinden Hass auf bestimmte Bereiche des modernen Lebens erfasst sind und sich selbst dabei rücksichtslos und ziellos in die Luft sprengen. Eine Auseinandersetzung mit solchen Menschen ist schwierig. Sie handeln auch für die Maßstäbe moderner Gesellschaften unberechenbar. Es ist nicht sicher, ob der 11. September in diesem Sinne so etwas wie eine einmalige Ausnahme darstellt. Wir wollen es hoffen und uns mannhaft gegen mögliche Überraschungen zur Wehr setzen. Aber es bleibt im ganzen eine grundlegende Unsicherheit unseres Lebens, die in vielen Phänomenen zutage tritt.

Vor dieser Erschütterung werden auch bestimmte Verhaltensweisen unseres öffentlichen und nicht zuletzt politisch-gesellschaftlichen Lebens nicht lange bestehen können. Ich möchte dies kurz an zwei Beispielen erläutern. Da ist auf der einen Seite eine Politik, die in Darstellung und Prozess in einem hohen Maß auf eine wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung mehr und mehr verzichtet. Der Wettbewerb scheint sich immer mehr auf die Inszenierung von Politik und Selbstdarstellung zu begrenzen. Hauptsache, man ist im Geschäft, auf dem Bildschirm oder in den Gazetten. Was man konkret für erreichbare Ziele hält und womit tiefgreifende Konflikte gelöst werden sollen, wird weitgehend ausgeklammert. Es ist erschütternd, wie sehr die Wahrnehmungsfähigkeit unserer Gesellschaft allem Anschein zum Trotz nicht eben erweitert und vertieft, sondern eingeengt und oberflächlicher wird. Es ist fast ähnlich, wie öffentlich über echte Probleme verhandelt wird. Alles, was verhandelt werden muss und hohe Anforderungen stellt an das Problembewusstsein der Menschen, wird auf die Unterhaltungsebene heruntergezerrt. Es darf nichts mehr schwer sein und die Anstrengung des Begriffs erfordern. Alles muss leicht eingängig, ganz kurz und möglichst sonnenklar plausibel sein. Dazu stehen Histörchen von sogenannten Prominenten mit und ohne Skandal in einer peinlichen Weise im Vordergrund. Nicht zuletzt dadurch werden viele Sendungen, die durchaus guter Unterhaltung dienen könnten, unerträglich seicht. Auch die Verantwortlichen rennen in einer oft beschämenden Weise den Einschaltquoten nach.

Hinter diesen Phänomenen, die im Grunde nur Symptome sind, steckt eine Grundversuchung vor allem der sogenannten Postmoderne. Es ist eine Eigenschaft, die zur Zeit eine gewisse breite Vulgarisation und Banalität erreicht hat. Gemeinsame Verbindlichkeiten werden immer mehr aufgelöst. Darum verlieren sich die tragenden Inhalte. Man schreit nach dem Wiedergewinn von Werten, ohne dass man jedoch etwas weiß über die Art und Weise, sie wider zu erwerben. Es ist ein großer Hang zur Beliebigkeit, die die Unverbindlichkeit der Maßstäbe mit einer sehr hohen Individualisierung verbindet. Manchmal hat es freilich den Anschein, als ob es langsam eine Kehrtwende geben könnte, weil man spürt, dass man ohne Gemeinsinn und Gemeinschaftsverpflichtung kaum ein Zusammenleben wenigstens auf Dauer und sinnvoll organisieren kann (vgl. z.B. die Serie über die Zehn Gebote in der Weihnachtsnummer des STERN, Nr. 52, 19.12.2001).

Dies werden wir uns nicht mehr lange erlauben können. Viele Ereignisse des Jahres 2001 und besonders eben auch die Katastrophen des 11.09. stellen uns vor eine solche Herausforderung, dass die seichte Betäubung des öffentlichen Bewusstseins vor den wahren Fragen einfach nicht mehr standhält. In diesem Sinne könnte diese tragische Ereignisfolge doch auch zu einer heilsamen Erschütterung führen, die nicht nur in der Kunst, z.B. des Dramas, sondern auch im Leben oft Voraussetzung für eine wirkliche "Wende" ist.

Dies könnte die Stunde des Glaubens, der Religionen und besonders in unserem Kulturkreis des Christentums und seiner Kirchen sein. Wir leisten nicht nur vieles in sozialer und schulischer Hinsicht, sondern sehr viele Menschen gewinnen ihre Grundüberzeugungen immer noch am meisten aus dem christlichen Glauben. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Zahl der Glaubenden schrumpft, die Synthese mit vielen anderen religiösen und ideologischen Elementen wächst und darum auch nicht wenige Anfälligkeiten entstehen, die durchaus auch in der Kirche etwas mit dem Eindringen der Beliebigkeit und der Auseinandersetzung mit ihr zu tun haben.

Es ist verständlich, dass in dieser Situation der Ruf nach einem Gespräch der Religionen immer lauter wird. Nicht Kampf, sondern Dialog der Kulturen. Es gibt auch nicht wenige, noch genauer zu entdeckende Gemeinsamkeiten vor allem im Ethos der großen Weltreligionen. Aber dieser Dialog ist nicht zu verwechseln mit einer harmlosen Verbrüderung oder einer Antizipation von Versöhnung, die noch ein weites Ziel ist. Am wichtigsten ist es, überall – auch in der arabisch und muslimisch geprägten Welt – Religionsfreiheit zu gewährleisten und konkrete Toleranz gegenüber den Andersdenkenden zu wahren. Dies ist auch die Voraussetzung, um Feindseligkeiten abzubauen und zu einer friedlichen und auf Kooperation aufbauenden Weltpolitik zu kommen. Eine solche Zusammenarbeit der Religionen und Kulturen wird aber gerade den Ernst der Herausforderung und der Auseinandersetzung nicht verkleinern oder gar ignorieren. Ein Dialog hat hier nur Sinn, wenn jeder seine starke Seite in das Feld führt und man sich daran abarbeitet. Nichts anderes meint Papst Johannes Paul II., wenn er immer wieder auf den notwendigen Dialog der Religionen aufmerksam macht, den auch das II. Vatikanische Konzil und viele Texte und Institutionen nach ihm mehr angetroffen und vorbereitet haben, als die meisten ahnen.

Diese Analyse der geistigen und gesellschaftlichen Landschaft hat auch im vergangenen Jahr das Bistum Mainz stark geprägt. Nicht zufällig haben wir schon seit einiger Zeit gesehen und vereinbart, dass die Gottesfrage einen ganz neuen Rang erhalten muss. Die Kampagne "G-O-T-T als Provokation" ist ein wichtiger Anfang, der noch gründlicher nach vorne in die Zukunft getragen werden muss. Denn hier entscheidet sich ganz grundlegend die Frage nach einer Orientierung und Ausrichtung unserer Gesellschaft (vgl. G-O-T-T, Mainzer Perspektiven 4, Mainz 2001). Dabei sollten wir uns über die Radikalität der Auseinandersetzung mit anderen Kräften nicht täuschen. Mit der Diskussion um Herbert Schnädelbachs Rundumschlag gegen das Christentum – sein letzter segensreicher Dienst sei die Selbstabschaffung – hat eine große öffentliche Auseinandersetzung um das Wesen des Christentums nach zweitausend Jahren begonnen (vgl. Geburtsfehler? Vom Fluch und Segen des Christentums. Streitbare Beiträge, hrsg. Von R. Leicht, Berlin 2001). Viele pseudo-intellektuellen Spielereien auch im Bildungssektor der Kirche fallen vor dem, was in dieser Auseinandersetzung an Ernst und Tiefe geleistet werden muss wie ein Kartenhaus zusammen.

Eine wichtige Probe aufs Exempel ist die heutige Auseinandersetzung um den Lebensschutz. Hier entscheidet sich fundamental, wie wir zur Größe und zu den Grenzen des Menschen, zur Autonomie und Freiheit, zum Glauben an einen Schöpfergott und nicht zuletzt zur Ehrfurcht vor dem Leben stehen. Ich bin dankbar, dass wir durch das "Netzwerk Leben" ein sehr wichtiges und – Gott sei Dank – von vielen gefördertes Unternehmen ins Leben rufen konnten, das einerseits die Probleme der Schwangerenberatung energisch und weiterführend aufgreift und andererseits eng damit die Probleme des Lebensschutzes am Anfang und am Ende des menschlichen Daseins verknüpft. Ich wünsche mir, dass die Probleme der Bioethik gründlich auf breiterer Ebene in der Kirche diskutiert werden (vgl. K. Lehmann, Das Recht, ein Mensch zu sein, Bonn 2002). Dabei haben wir immer noch im Bereich der Kirchenleitungen im Blick auf die Bioethik eine hohe Gemeinsamkeit, die neben anderen ökumenischen Errungenschaften nicht verloren gehen darf, auch wenn es da und dort auf beiden Seiten immer wieder einmal retardierende Elemente gibt. Es gibt keine Alternative zu einem jeweiligen tieferen Wachsen und Zusammenwachsen auf eine immer besser zu gewinnende Mitte des Evangeliums hin, d.h. die Person Jesu Christi mit dem Vater und dem Geist. Die Vorbereitung des gemeinsamen Ökumenischen Kirchentags 2003 in Berlin muss hier viel Augenmaß beweisen und bedeutet eine große Chance, aber – wenn sie nicht genützt wird – auch eine nicht übersehbare Gefährdung.

Wir haben im Bistum in dem zu Ende gehenden Jahr und zugleich in Verbindung mit dem kommenden Jahr zwei Ereignisse begangen, die dies alles auch in Erinnerung rufen und in die Zukunft hinein vermitteln. Auf der einen Seite ist dies das Gedenken der Bistumsgründung vor 200 Jahren. Es tut gut, in jene Umbruchszeit hineinzuschauen und neu Ermutigung und Zivilcourage zu lernen. Wir wollen dies auch noch neben der Veröffentlichung der wissenschaftlichen Einsichten durch eine Ausstellung veranschaulichen. Dies alles soll einen gewissen Höhepunkt erhalten im Katholikentag des Bistums, den wir am 25. und 26. Mai begehen wollen. Das Leitwort "Mit Gott unter allen Menschen" kann uns in der gegebenen Situation den Blick weiten und zugleich in eine letzte Tiefe führen.

Persönlich darf ich rückblickend auch dem Hl. Vater für die Berufung in das Kardinalskollegium danken. Sie hat meinen Dienst gestärkt. Viele Menschen haben sich bis zum heutigen Tag mit mir gefreut (vgl. K. Kardinal Lehmann, hrsg. im Auftrag des Bistums Mainz von Barbara Nichtweiß, Mainz 2001). Ich danke allen, die viel Mühe damit hatten, vor allem dem Domkapitel, insbesondere Herrn Weihbischof und Domdekan Wolfgang Rolly, Herrn Generalvikar Prälat Dr. Werner Guballa.

Ich liebe das Wort Zuversicht, das uns in der Bibel, aber auch in der Liturgie begegnet. Es ist etwas anderes als bloßer Optimismus. Wir schauen nicht naiv und blauäugig in die Zukunft. Gerade nach diesem Jahr ist dies nicht möglich. Wir haben jedoch einen begründeten Mut, der im Glauben und besonders in der Geschichte Jesu Christi bis zur Passion und Auferstehung wurzelt, eben getrost und gelassen, zugleich aktiv und offensiv in die Welt hineinzugehen und Zeugnis für das Evangelium abzulegen (vgl. die Seligsprechungen dieses Jahres, besonders Nikolaus Groß und Schwester Euthymia). In einmaliger Weise scheint mir dies in dem Glaubenszeugnis des Heiligen Paulus im 8. Kapitel des Römerbriefs (8, 31-39) aufzuscheinen: "Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert ... Doch all das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat." (8, 35-37) Nicht einmal das, was uns sonst am meisten von Gott wegführen kann, kann uns von ihm trennen: "Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur könne uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn." (8, 38f)

 

Darum dürfen wir zuversichtlich sein und im Vertrauen auf Gott einander viel Segen für Leib und Seele im Blick auf das bald zu beginnende Jahr wünschen. Amen.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz