Hirtenwort des Bischofs von Mainz zur Österlichen Bußzeit 2008
Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
I. Auftakt: Menschenwürde als Fundament unserer Gesellschaft
Das Wort von der Würde des Menschen als Maß und Norm des gemeinsamen Lebens ist immer wieder in aller Munde. Es ist nicht nur der erste Satz in den grundlegenden Spielregeln des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft („Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1,1 GG)), sondern auch unabhängig von Religionen und Weltanschauungen die fundamentale gemeinsame Überzeugung, die unsere Gesellschaft zusammenhält. Dennoch empfinden viele heute den Rückgriff auf die Menschenwürde als geradezu inflationär, sodass auch ihr verbindlicher Gehalt immer mehr umstritten ist. Der Streit geht dabei vor allem um die unbedingte Geltung der Menschenwürde, wie sie dem menschlichen Leben in allen Phasen zukommt. Oder gibt es eine Abstufung der Menschenwürde für das Lebensrecht und den Lebensschutz, z.B. für die menschlichen Embryonen? Oder ist auch eine Relativierung der Menschenwürde erlaubt, wenn es z.B., gewiss in extrem seltenen Fällen, um eine Ausnahme vom Verbot der Folter gehen würde? Wir stehen mitten in diesen Auseinandersetzungen.
Ein Hirtenbrief ist nicht so gut geeignet für eine notwendigerweise ausführlichere Darstellung. Zu allen Punkten haben die Kirche und besonders unsere Bischofskonferenz, aber auch einzelne Bischöfe und Theologen, immer wieder die christliche Lehre begründet und öffentlich gemacht. Die Menschenwürde spielt jedoch auch in vielen anderen Fragen unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle, die manchmal wenig erkannt, oder auch ganz bewusst an den Rand geschoben wird. Dies möchte ich im diesjährigen Hirtenbrief zur Österlichen Bußzeit an einem konkreten Beispiel darlegen.
II. Das Phänomen: Überflüssige in der Überflussgesellschaft?
Wir erleben immer wieder, dass viele Menschen in unserer Gesellschaft, vor allem im Bereich der Arbeitsvermittlung, keine Chance haben. Ältere Mitbürger, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, bekommen selten die Möglichkeit einer Wiedereinstellung, auch wenn sie durchaus über wichtige Qualifikationen verfügen. Eine besondere Tragödie spielt sich bei jungen Menschen ab, die trotz mancher Bemühungen oft viele erfolglose Bewerbungen schreiben. Wir wollen dabei natürlich nicht übersehen, dass manche – aus welchen Gründen immer – wenig auf eine eigene berufliche Aufgabe vorbereitet sind. Bei nicht wenigen kann leicht der Eindruck entstehen, die Gesellschaft brauche einen gar nicht und sei gleichgültig gegenüber der Zukunft einzelner Menschen. In einer solchen Situation gibt es verschiedene Reaktionen, die wir täglich erleben. Menschen werden mutlos und gleiten nicht selten dabei ab in Sucht und Abhängigkeiten. Andere revoltieren gegen diese Erfahrung und wenden gelegentlich Gewalt gegen Sachen und auch Menschen an. Es ist unredlich, wenn man dieses echte Problem überwiegend bei jungen Menschen vor allem mit einem Migrationshintergrund erblicken will.
Das Phänomen ist in den letzten Jahren gewachsen. Es sind nicht nur Einzelfälle. Es gibt auch in ganz Europa solche Situationen. Darum gibt es seit einiger Zeit sozialwissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit dieser Gruppe von Menschen eigens beschäftigen. Dabei geht es nicht nur um die alte Unterscheidung von Oben und Unten. Quer durch die Schichten und Milieus zieht sich eine Spaltung zwischen denen, die von den Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse profitieren, und jenen, die nicht mithalten können. Es sind auch nicht nur Randgruppen, sondern das Phänomen des Ausgeschlossenseins wandert mehr und mehr bis in die Mitte der Gesellschaft. Man erfährt sich dann als Bittsteller des Staates, meidet eher soziale Kontakte und verliert auch zusehends das Vertrauen zu sich selbst. Mancher ist überrascht, wie schnell er auf diesem Weg in das soziale Abseits gerät.
Man hat dafür in den letzten Jahren feste Begriffe gefunden und bezeichnet eigene Gruppen mit ihnen. So spricht man von den Ausgeschlossenen, den Nutzlosen und schließlich von den Überflüssigen. So breitet sich bei einer bestimmten, sicher unübersichtlichen Gruppe die Stimmung einer Bedrohung durch Überflüssigkeit aus: „Ich habe Angst, den Anschluss zu verpassen“, „Ich habe das Gefühl, gar nicht richtig zur Gesellschaft zu gehören“ oder „Ich habe das Gefühl, im Grunde nicht gebraucht zu werden“. Was zählt man noch, wenn man nicht oder nicht mehr mithalten kann? Die Welt der Chancen scheint nur noch die Welt der anderen zu sein – und für einen selbst wird zunehmend alles in dieser Welt fremder und dunkler.
Dieser Prozess stellt an die Gestaltung unserer Gesellschaft in den letzten Jahren ernsthafte Fragen. Gewiss haben die finanziellen Herausforderungen der Wirtschaft in dem globalen Wettbewerb, dem wir immer mehr ausgesetzt sind, überhand genommen. Es wird überall scharf gerechnet. Manche werden freilich mit hohen Gehältern belohnt, wenn sie Arbeitsplätze vernichten. Nicht selten wird uns auch eingeredet, die heutige Arbeitswelt habe mit Ethik nichts zu tun. Das Wort vom „Super-Kapitalismus“ macht die Runde. Manche kommen dann auch in die Gefahr, dass man ökonomische Funktionen, wie sie auch Arbeit und Beruf mit sich bringen, mit einer menschlichen Wertigkeit vermengt. Die Betroffenen fühlen sich dann umso mehr verachtet und nicht nur sozial, sondern auch menschlich deklassiert. Man darf dieses Phänomen – auch in seiner politischen Wirksamkeit – nicht unterschätzen.
III. Ein anderer Ansatz: Jeder Mensch ist eine Chance
Es ist besonders schlimm, wenn wir diese Folgen des sozialen Wandels in ihrem Ausmaß kaum wahrnehmen. Wenn wir die so vom Wohl der Gesellschaft weitgehend Ausgeschlossenen abhängen, kommen sie sich erst recht überflüssig vor. Gewiss geschieht vieles, was mit zu den Wegen und Mitteln einer Abhilfe gehört: Schulungsangebote vielfältiger Art, grundlegende Verbesserung der Bildungsbemühungen, besondere Hilfen der Arbeitsvermittlung. Wenn gerade junge Menschen in einzelnen Fällen zu Gewalt neigen und es gar zu kriminellen Hanlungen kommt, wird man sicher zum Schutz der Mitbürger fragen, ob es in der Sozialen Arbeit genügend Hilfsmaßnahmen dagegen und auch im Recht ausreichend Sicherungen gibt. Es bestehen gewiss Lücken und Defizite. Manchmal wird freilich auch nicht das angewendet, was jetzt schon möglich und notwendig ist.
Aber gerade vom Menschenbild unserer Kultur und von der Menschenwürde her reichen diese Maßnahmen nicht aus. Sie können sogar eine wichtige Voraussetzung für eine Änderung unserer Maßstäbe verdecken. Denn es liegt in der Grundüberzeugung gerade des biblischen und christlichen Menschenbildes eine große Hilfe bereit: Gott hat jeden Menschen bei seinem eigenen Namen gerufen. Die Gaben der Schöpfung sind gewiss verschieden, aber jeder nimmt auf seine Weise daran teil. Nicht wir Menschen verleihen einander Anerkennung und Wert, weil wir Positionen, Funktionen und Leistungen vorweisen und danach Menschen beurteilen. Diese Sicht ist in vieler Hinsicht wichtig für unser Leben: für die Stellung zu den Embryonen und den ungeborenen Kindern, zu den Behinderten, zu den Kranken und zu den im Alter schwach gewordenen Mitbürgern. Gott hat jedem Menschen das Leben geschenkt, ihm dafür Gaben mitgegeben und ihm darum auch Würde verliehen.
Wir nehmen dies nur teilweise ernst. Wir kämpfen mit Recht um die Chancengleichheit für alle. Jeder soll eine echte Startmöglichkeit bekommen. Aber wenn dies nicht sofort gelingt, lassen wir ihn oft auch schnell fallen. Rasch rechnet man auch vor, welche Chancen man einem Menschen bereits gegeben habe. Aber wir müssen noch einen Schritt tiefer und weiter gehen: Jeder Mensch ist, weil er Mensch ist und seine eigene Würde hat, eine Chance. Nicht wir geben ihm primär Chancen, er hat sie auch nicht nur von außen bekommen. In diesem Licht blicken wir anders auf den Menschen, auch wenn es mühsam mit ihm ist und er vielleicht schon gestrauchelt ist.
IV. Zu einer Antwort: Wege zur Hilfe
Was folgt daraus konkret? Sicher kann damit nicht gemeint sein, dass wir Interesselosigkeit und Trägheit einfach hinnehmen. Wo Fehler gemacht worden sind, müssen sie ernsthaft zur Sprache kommen. Verfehlungen auch von jungen Menschen müssen ernsthaft aufgearbeitet werden. Wiedergutmachung ist kein altmodisches Wort, sondern was z.B. bei Verfehlungen beschädigt oder zerstört worden ist, muss nach Möglichkeit wieder instand gesetzt werden. Dies ist ein wichtiger Schritt, bevor man von „Strafe“ spricht. Es ist aber auch eine zu billige Lösung, wenn wir angesichts der aufgezeigten Misere – wie es heute sehr oft geschieht – nach einem größeren Stellenwert von Bildung rufen. Dass man dies richtig versteht: Wo Kinder auf Grund ihrer sozialen Stellung bildungsmäßig benachteiligt werden, müssen wir mit allen Kräften solche Ungerechtigkeiten korrigieren.
Aber Bildung allein kann auch gerade heute leicht missverstanden werden. Es genügt nicht, wenn man bloß viele Inhalte den Menschen eintrichtert. Zuerst muss in jedem das Menschenwesen, das ja durchaus seine oft verborgenen Anlagen hat, entdeckt und entfaltet werden. Auch wenn vieles durch die gesellschaftliche Herkunft und die prekäre Situation im Leben eines jungen Menschen blockiert und vielleicht sogar verschüttet ist, muss man ihm zunächst Mut zu sich selbst vermitteln. Er muss spüren, dass man ihn wertschätzt und in ihm Positives entdeckt. Dies ist natürlich nicht zuerst und allein eine Sache der Bildung in der Schule, so sehr diese jedem jungen Menschen verpflichtet ist. Wie immer fängt es bei den Eltern an, betrifft die Chancen im Kindergarten, den Freundeskreis und den Umgang mit jungen Menschen in den Verbänden, besonders im Sport, aber auch in den Jugendgruppen und in den Kirchen. „Fördern und fordern“ ist auch hier ein gutes Programm. Wer nur fordert und nicht fördert, überfordert den Menschen. Wer nur fördert, aber nicht fordert, verwöhnt ihn und macht ihn lebensuntauglich. Im Blick auf die Erziehung haben wir in den letzten Jahrzehnten noch zusätzlich zu dem, was wir immer schon wussten, die Einsicht gewonnen, dass dabei alle Orte der Erziehung und Bildung zusammenwirken müssen. Kein wichtiger Ort, z.B. das Elternhaus, darf einfach ausfallen. Sonst überfordert man leicht andere Orte, wie z.B. die Schule.
So muss der junge Mensch spüren und konkret erfahren, dass er mannigfache Fähigkeiten in sich birgt und auch entfalten kann. Gewinnt er schon sehr früh diese Zuversicht zu sich selbst, erlangt er auch ein positives Verhältnis zu seiner Mit- und Umwelt. Ja, man kann noch mehr sagen: Das Selbstvertrauen eines jungen Menschen muss auch dahin gestärkt werden, dass er die Überzeugung gewinnt, auch er kann etwas in unsere Welt einbringen. Es würde nicht nur ihm, sondern auch der Welt etwas fehlen, wenn dies nicht geschehen würde. Und er muss natürlich auch die Erfahrung machen, dass er dabei angewiesen ist auf andere und dass er vieles nur in Solidarität mit anderen erreichen kann.
V. Die Kraft des Glaubens an die Berufung jedes Menschen
Manche werden sagen, diese Sicht sei zu optimistisch und vielleicht auch illusionär. Manchen Menschen würde der Weg in eine heile Welt schon von Anfang an versperrt. Die Verhältnisse seien eben stärker. Einer hat einmal auch den Grundsatz unserer Verfassung auf den Kopf gestellt und drastisch formuliert „Die Würde des Menschen ist antastbar“. Ja, es ist oft sehr mühsam und manchmal auch vergeblich. Aber ohne den nimmermüden Versuch des Ringens um die oft verborgene Würde eines jeden Menschen darf man diese Zuversicht auch nicht zerstören. Uns Christen ist sie durch die Überzeugung von der Berufung eines jeden Menschen durch Gott in besonderer Weise gegeben und aufgetragen.
Darum möchte ich allen Eltern, Familienangehörigen, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern sowie den vielen Wegbegleitern unserer jungen Menschen, nicht zuletzt in der Jugendhilfe und in der Sozialen Arbeit überhaupt, herzlich danken für ihre oft erstaunliche Zuwendungsfähigkeit, Unverdrossenheit und Geduld. Wir stellen in der Kirche auch ganz bewusst viele Einrichtungen und Hilfen bereit: Elternhilfen, Kindergarten, Kinder- und Jugendarbeit, Katechese und Religionsunterricht, Beratungsdienste, Schulen und nicht zuletzt auch die Mitarbeit all derer, die in der Seelsorge wirken.
Inmitten einer gegenüber diesen Aufgaben oft resignierten Welt, die nicht mit ökonomischen Maßstäben verstanden und gelöst werden können, aber für unserer Welt und für unsere Zukunft lebensnotwendig sind, möchte ich Sie alle jeweils an Ihrem Ort zu dieser Hoffnung und Zuversicht „Jeder Mensch ist eine Chance“ ermutigen. Wir haben in unserer Kirche eindrucksvolle Heilige, die uns vorbildlich zeigen, wozu wir in diesem Bereich mit der Hilfe Gottes fähig sind, wie z.B. der Heilige Johannes Bosco mit der von ihm gegründeten Ordensgemeinschaft der Salesianer und vieler anderer Geistlicher Gemeinschaften und Verbände. In diesem Sinne erbitte ich für Sie alle den Segen des Dreifaltigen Gottes, des + Vaters und des + Sohnes und des + Heiligen Geistes. Amen.
Mainz, am Aschermittwoch 2008 (06. Februar) Ihr Bischof
+ Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz
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Gott, unser Vater, alles entspringt deiner Liebe. Den Menschen hast du nach deinem Bild geschaffen und bei seinem Namen gerufen. So verleihst du ihm unzerstörbare Würde. Mit unserem Gebet kommen wir zu dir:
-Wir bitten dich für alle, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen: dass sie mitwirken an einer Kultur der gegenseitigen Wertschätzung und sich in ihrem Bereich für die Achtung der Menschenwürde und die Verwirklichung von Gerechtigkeit einsetzen.
Gott, unser Vater! Wir bitten dich, erhöre uns!
-Wir bitten dich für die Völker Europas: dass sie die Werte des biblisch-christlichen Menschenbildes als prägendes Element ihrer gemeinsamen Geschichte anerkennen und sie als Grundlage für die Stärkung ihrer Einheit achten und pflegen.
-Wir bitten dich für alle Menschen, denen das Leben schwer geworden ist, die Angst vor der Zukunft haben, sich als überflüssig und nutzlos erleben müssen und ausgegrenzt werden: dass sie auch in schwierigen Zeiten des sozialen und wirtschaftlichen Wandels Verständnis finden für ihre Nöte und Ängste, dass sie Stärkung erhalten, wo Mutlosigkeit droht und durch tatkräftige Hilfe Unterstützung erfahren.
-Wir bitten dich für alle, deren Mühe und Arbeit in sozialen Berufen oder als Eltern, Lehrer und Erzieher in besonderer Weise den jungen Menschen unserer Tage gilt: dass sie in Geduld und Zuversicht als verlässliche Wegbegleiter bereitstehen.
Guter und treuer Gott, du bist groß und alle deine Werke künden deine Weisheit und Liebe. Auf deine heilbringende Nähe vertrauen wir in großer Dankbarkeit heute und alle Tage unseres Lebens bis in Ewigkeit. Amen.
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Erste Literaturhinweise
1. Das Thema der christlichen Berufung, das diesem Hirtenbrief zugrunde liegt, habe ich vor einigen Jahren ausführlicher entfaltet, und zwar in dem Wort „Zur Hoffnung gerufen“ (2001), als eigenes Hirtenwort veröffentlicht, aber auch in: Karl Kard. Lehmann, Frei vor Gott. Glauben in öffentlicher Verantwortung, Freiburg i. Br. 2003, 74-82.
2. Für die Interessierten seien einige Sozialwissenschaftliche Untersuchungen angegeben, die ich selbst als hilfreich erfahren habe:
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz