Musik
Im Advent gehen wir weit zurück zu den elementaren Erwartungen des Menschen und zu so etwas wie einer grundlegenden Suche nach dem Sinn der Geschichte und des Lebens der Einzelnen. Wir gehen weit zurück, nämlich auch gleichsam hinter den Neuen und den Alten Bund. Die Menschen kommen aus dem Dunkel, vor allem auch der Bedrängnis und Ängste, und suchen ein Licht, das ihnen Orientierung, aber auch die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse verspricht. Da werden Auge und Ohr schärfer. Vieles Nebensächliche tritt zurück. Um so stärker wird die Frage: Worauf kommt es an?
I.
Ich glaube, dass die erste Lesung des heutigen dritten Sonntags im Advent uns bei der Suche nach einer Antwort sehr hilfreich sein kann. Der Text stammt aus dem dritten Teil des Buches Jesaja. In diesem Teil (Kap. 56-66) finden wir die Botschaft eines unbekannten Propheten, den die alttestamentliche Bibelauslegung heute Tritojesaja, also „Dritter Jesaja“ nennt. Er beschreibt in großer Leidenschaft die jubelnden Verheißungen Gottes an sein Volk. Aber er übergeht auch nicht die konkreten Missstände, die Unterdrückungsverhältnisse und die Opfer. So schaut er auch aus auf jemand, der hier Abhilfe schaffen kann, einen Retter, der ganz anders sein muss als die vielen, die dem Menschen oft den Himmel versprechen, aber die Hölle bringen.
Hören wir die Lesung aus dem 61. Kapitel (1-2a, 10-11):
Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt. Denn wie die Erde die Saat wachsen lässt und der Garten die Pflanzen hervorbringt, so bringt Gott, der Herr, Gerechtigkeit hervor und Ruhm vor allen Völkern.
Dieser Text ist besonders deshalb so wichtig, weil Jesus auf ihn bei seinem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit zurückgreift (Lk 4,16-30; Mk 6,1-6 = Mt 13,54-58). So heißt es im vierten Kapitel des Lukasevangeliums (16-20):
Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war. Und seiner Gewohnheit entsprechend ging er am Sabbattag in die Synagoge. Und er erhob sich, um vorzulesen. Und es wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch aufrollte, fand er die Stelle, wo geschrieben stand (nun ein klein bisschen anders als im soeben gehörten Text): „Der Geist des Herrn (ruht) auf mir, deswegen, weil er mich gesalbt hat. Den Armen die Frohbotschaft zu bringen, zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind, hat er mich gesandt; zu künden den Gefangenen die Freilassung und den Blinden das Augenlicht, Gebeugte in Freiheit zu setzen, anzusagen das Gnadenjahr des Herrn.“ Und er rollte das Buch zu, gab es dem Diener zurück und nahm Platz.
Musik
Wir dürfen uns diese Lesung Jesu etwa folgendermaßen vorstellen. Im Lesegottesdienst stehen am Anfang das jüdische Glaubensbekenntnis (vgl. Dt 6,4-9; 11,13-21) und das Lob Gottes im „Achtzehngebet“ (Num 11,24ff.) mit einem eingeschobenen Segen des Priesters. Danach kam eine Lesung aus den ersten fünf Büchern Mose, danach die Verlesung eines Prophetenabschnitts. Der verlesene hebräische Text wurde anschließend in der aramäischen Sprache umschrieben und so auch schon etwas interpretiert. Die Lesungen wurden von einem Pult auf einem hölzernen Podium aus stehend vorgenommen, die Erläuterung erfolgte sitzend vom Podium aus. Der Synagogenvorsteher (vgl. Apg 13,15) ließ durch einen Diener die betreffende Schriftrolle aus dem Thora-Schrein holen und dem Lesenden überreichen. Jedenfalls reicht man Jesus den Text, den er braucht. Er darf sich selbst die Schriftstelle Jes 61,1-2a aussuchen. Damals gab es offenbar noch keine feste Ordnung der Lesungen, sodass Jesus ziemlich frei auswählen konnte.
II.
Jesus hat diesen Text wohl ausgewählt, weil er in ihm am besten das, was er tun und sagen konnte und wollte, ausgedrückt fand. Gerade Lukas sieht darin nicht nur ein wichtiges Datum, dass Jesus zum ersten Mal öffentlich auftritt, dazu noch in seiner Heimat, nämlich in Nazareth. Für ihn geht es um den grundlegenden Anfang seines Auftretens und seiner Sendung überhaupt. Es geht um das Programm Jesu, das Programm, das ihn von Anfang an und bis zu seiner Vollendung bestimmt. Man kann so sagen, dass es um Jesu Selbstoffenbarung in Nazareth geht.
Greifen wir in die Mitte dieses Textes. Auch wenn von mancher Bedrückung die Rede ist, auf die wir noch zu sprechen kommen, so möchte der alttestamentliche, unbekannte Prophet, aber auch Jesus dem Menschen Hoffnung ansagen. Er soll nicht in seiner Bedrängnis bleiben. Diese Botschaft wird nun für beide mit einem zentralen Wort umschrieben und zusammengefasst. Wir kennen alle das Wort. Es ist das Evangelium, das wir übersetzen mit „Frohbotschaft“. Wir sind dieses Wort eigentlich fast nur vom Neuen Testament und von unserer liturgischen Feier, in der das Evangelium verkündet wird, gewohnt. Es kommt an 76 Stellen im Neuen Testament vor. Hier sehen wir jedoch, dass es auch ein wichtiges Stichwort des Alten Bundes ist. Oft steht das Wort, weil es sich selbst versteht, ohne jede Hinzufügung da: Frohbotschaft. Manchmal wird im Neuen Testament aber ergänzt und gesagt: Frohbotschaft Gottes, Frohbotschaft Jesu Christi oder Frohbotschaft vom Reich Gottes. An wichtigen Stellen der Schriften des hl. Paulus sehen wir, dass es auch schon in der Überlieferung, die er empfangen hat, vorkommt (vgl. 1 Thess 1ff.; 1 Kor 15,1ff.; Röm 1,1ff.). In dem späteren Gebrauch des Wortes gibt es eine immer stärkere Zuspitzung auf Jesus Christus, besonders in Verbindung mit seinem Tod und seiner Auferstehung. Darum kann man manchmal das Wort vom „Evangelium“ regelrecht mit „Christusbotschaft“ übersetzen. Es ist das Evangelium in den Evangelien.
Nun kommt es vor allem auf die inhaltlichen Aussagen an. Der Freudenbote (Jes 61,11) bringt eine gute Botschaft, eine gute Nachricht (vgl. auch schon Jes 52,7). Entscheidend ist, dass darin die Herrschaft Gottes ausgerufen wird (vgl. Mk 1,14f. und Lk 4,18f.). Es geht dabei vor allem um Heilung und Befreiung. Bei Jesaja und bei Lukas ist betont von den „Armen“ die Rede, denen die Frohbotschaft überbracht wird. Dabei geht es gewiss um die Armen im Sinne der Besitzlosen. Gerade Lukas hat ein ausgesprochenes Interesse an ihnen (z.B. 1,46-55; 6,20; 16,19ff.). Mit dem Wort „die Armen“ wird aber auch mehr und mehr eine Haltung beschrieben: Der Mensch baut nicht hochmütig auf seine Reichtümer, sondern erwartet allein von Gott Hilfe und Rettung (vgl. Ps 37; 40; 140). So bezeichnet sich die Jerusalemer Urgemeinde selbst als die „Armen“ (Gal 2,10).
Zu diesen Menschen ist der Freudenbote geschickt. Sie sollen nicht enttäuscht werden. Darum werden nun auch bei Jesaja vor allem zwei Dimensionen der Bedrängnis besonders genannt, nämlich diejenigen, deren Herz zerbrochen ist, die also verletzt sind im Herzen, keine Hoffnung mehr haben und tief enttäuscht sind. Die Wunden wollen nicht heilen.
Auf der anderen Seite sind es ganz besonders die Gefangenen und alle Gefesselten. Gerade Lukas hat an der ganz konkreten leiblichen Befreiung ein hohes Interesse. Man darf dabei nicht nur an Kriminelle im heutigen Sinn denken, vielmehr sind auch Menschen mitgemeint, die eine Schuldenlast, wie immer sie zustande gekommen ist, nicht mehr tragen können. Auch manche andere sind, wie wir in der ganzen Geschichte der Menschen und darum auch in der Bibel sehen können, durch Rechtsbeugung in den Kerker gekommen, aus Rache, Willkür und Herrschaftsgelüste. Freiheit ist das, was diese Menschen ersehnen. Gewiss darf man heute auch dahinter Befreiung aus Krankheit, aus Armut, aus allen Mächten des Bösen sehen. Wenn von der Ausrufung eines „Gnadenjahres“ die Rede ist, dann ist hier zunächst an das so genannte „Jobeljahr“, Luther sagt gerne auch „Erlassjahr“, gedacht: In jedem 50. Jahr sollen die ursprünglichen Besitz- und Rechtsverhältnisse wieder hergestellt werden. Der Freudenbote möchte aber grundsätzlich für alle Jahre eine Zeit der Vergebung und Erneuerung ausrufen.
Dies ist auch heute noch die Sehnsucht vieler Menschen in allen Kontinenten. Armut hat freilich bei uns manchmal ein anderes Gesicht. Aber wie wissen heute auch, wie viel Armut es vor unserer Haustüre gibt. Erst recht gibt es viel unsichtbare Not und Armut in den Herzen der Menschen, denen durch Rücksichtslosigkeit, Verachtung und manchmal auch Hass viele Schmerzen zugefügt werden.
So fängt der Freudenbote an. Dies ist Jesu Sendung. Dafür hat er durch die Mitteilung des Geistes, der nun auf ihm ruht und bei ihm bleibt, wie sie eben auch durch die Salbung erfolgt, eine der Aufgabe entsprechende Zurüstung empfangen. Dies erinnert an die Taufe Jesu und an unsere Taufe. Diese Frohbotschaft ist eben auch nicht einfach ein leeres Versprechen. Das Evangelium kommt mit dem Auftreten Jesu in unsere Welt. Darum kann Jesus den erwartungsvollen Menschen, die ihre Augen auf ihn richten, sagen: „Heute ist diese Schrift in euren Ohren zur Erfüllung gekommen.“ (Lk 4,21) Jetzt beginnt die Heilszeit. Jetzt geht in Erfüllung, was die Propheten verheißen haben. Heute beginnt die Geschichte der Befreiung. Über diese Botschaft sind alle erfreut.
Früher war die moderne Bibelauslegung skeptisch, ob man diesen Anfang wirklich auch dem irdischen Jesus am tatsächlichen Beginn seiner Verkündigung zusprechen kann. Manche meinten, es sei eine gute nachträgliche Interpretation. Heute aber mehrt sich die Zahl der Ausleger, die durchaus der Meinung sind, Jesus habe wirklich mit diesem Hinweis auf den Propheten sein eigenes Werk begonnen (vgl. auch Mt 11,4-6).
Das „Heute“, das beim Evangelisten Lukas eine besondere Rolle spielt, übrigens ähnlich wie bei Paulus das „Jetzt“, gilt nicht nur aus der Perspektive von damals, sondern wirklich für unsere Gegenwart. Es passt gut in die Adventszeit, wo wir vielleicht etwas offener sind, worauf es ankommt. Wir wissen aber auch, dass wir im Advent auf eine endgültige Befreiung warten. Und es passt erst recht gut auf den dritten Adventssonntag, der seit alter Zeit besonders ausgezeichnet wird durch die Betonung der Freude, mindestens der Vorfreude, auf dem Weg zur Erfüllung der Verheißung. Lukas beansprucht, dass in unserer verhängnisvollen Geschichte und in unserer unheilen Welt das Heil Gottes anwesend ist. Unsere Welt enthält nicht nur Unheil. Wir müssen freilich das Heil gegen alle Resignation immer wieder neu entdecken. Jesus hat wirklich einen neuen Anfang gesetzt. Er kommt.
Musik
Abschließendes Gebet
Allmächtiger Gott, sieh gütig auf dein Volk, das mit gläubigem Verlangen das Fest der Geburt Jesu Christi erwartet. Mache unser Herz bereit für das Geschenk aller Erlösung und Befreiung, damit Weihnachten für uns alle ein Tag der Freude und der Zuversicht werde. Darum bitten wir durch Christus unser Herrn.
Musik am Schluss
© Karl Kardinal Lehmann
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von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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