„Jüdischer Glaube - Jüdisches Leben"

Begrüßung durch Bischof Karl Lehmann, von Oberkantor Raffaele Polani und dem Seckenheimer Singkreis beim Konzert „Meisterwerke jüdischer Liturgie"

Datum:
Sonntag, 7. Juni 1998

Begrüßung durch Bischof Karl Lehmann, von Oberkantor Raffaele Polani und dem Seckenheimer Singkreis beim Konzert „Meisterwerke jüdischer Liturgie"

im Rahmen der Ausstellung im Mainzer Dom

Judentum und Christentum sind in ihrer Geschichte zwei unglückliche Kinder, wobei die Söhne und Töchter des Hauses Israel zweifellos unsere älteren Geschwister sind. Wir haben ihnen viel angetan. Wir wissen dies gerade auch in Mainz. Die verhüllende Decke, die wir immer über den Augen der Juden sahen (vgl. 2 Kor 3,12ff.), liegt in einem anderen Sinne über uns selbst, weil wir auf unsere Weise verblendet waren und sind. Das Heil kommt von den Juden. Schließlich das wunderbare Wort des Apostels Paulus über die Wurzel Israel und die aus ihr erwachsenen Zweige: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich." (Röm 11,18)

 

Der Dialog hat viele Früchte gebracht. Aber er muß gepflegt werden. Erinnerung und Versöhnung brauchen schon im Vorfeld eine tiefe Kultur des Sich-besser-Kennenlernens. Katholiken- und Kirchentage sind schon seit Jahrzehnten hervorragende Orte und Foren der Begegnung und des Lernens.

 

Dies ist auch diesmal in Mainz so. Dank des großen Einsatzes von Frau Dr. Marianne Zingel (Göttingen) haben wir die Ausstellung „Jüdischer Glaube - Jüdisches Leben" hier im Haus am Dom (3.-26.Juni 1998). Ich freue mich über das gute Echo und möchte Sie von Herzen ermuntern, die Ausstellung zu besuchen, wenn Sie es noch nicht getan haben. Dazu gehören einige Begleitveranstaltungen, wie z.B. am kommenden Freitag, 12. Juni 1998, an dem Frau Ingrid Wiltmann zum Thema Hoffnung lyrische Prosa aus Israel und jüdischen Märchen vortragen wird.

 

Dazu gehört auch der heutige Abend, der uns tief in die jüdische Liturgie hineinführt. Wir treten ein in die synagogale Musik. Wir wissen zwar , daß es eine levitische Tempelmusik gab, die auch Instrumente einsetzte. Aber nach der Zerstörung des Tempels erloschen die Instrumentalmusik und wohl auch für lange Zeit der Chorgesang. In Wirklichkeit aber kennt der synagogale Gottesdienst ein tiefes Beten, das in vieler Hinsicht singend ist und eigene Singweisen überliefert hat. So sind in der Neuzeit die Chormusik, die Orgel und das Harmonium wieder eingeführt worden.

 

Der jüdische synagogale Gesang ist alt, besteht aus uralten Traditionen, die nicht leicht identifizierbar sind, und aus vielen schöpferischen Anverwandlungen aus fast allen Epochen der Musik. Vieles läßt sich nicht mehr ergründen.

 

Immer mehr wurde der Vorbeter, der Kantor, der Chasan, zum Hauptträger dieses Gesangs und gewann eine immer größer werdende Rolle. Nicht alle Richtungen des Judentums schätzten dies in gleicher Weise. Manche Reformgemeinden schafften sogar das Amt des Kantors ab. Gewiß ist durch seine Überbetonung manchmal der Gesang der Gemeinde zu sehr in den Hintergrund getreten. Aber es gab einsichtige Gründe für die stärkere Stellung, die er einnahm: die zunehmende Komplexität der Liturgie, die schwächere Kenntnis des Hebräischen in der Bevölkerung, der Wunsch nach stimmlicher Schönheit, die Einführung der Pijutim, d.h. der liturgischen Dichtungen, die auch eine künstlerische Gestaltungskraft von der Musik her verlangten. Nicht selten fielen das Amt des Rabbiners und das Amt des Kantors auch zusammen. Manche Kantoren haben selbst große Melodien geschaffen. So wurde der Chasan, der Kantor, zum Künstler. Sie standen und stehen in einem hohen Ansehen.

 

Die einzelnen Regionen und Orte hatten dabei eine große Tradition entwickelt. Dies galt besonders für Mainz, wie der verehrte Prof. Leo Trepp immer wieder hervorhebt (vgl. Der jüdische Gottesdienst. Gestalt und Entwicklung, Stuttgart 1992, z.B. S.247). So hat Leo Trepp die eigenständigen liturgischen Gesänge der Mainzer Gemeinde, soweit sie ihm noch erinnerlich waren, auf Tonband aufgenommen und im Archiv des Leo Baeck Institutes in New York aufbewahrt (vgl. Trepp, Gottesdienst, S.247 Anm. 4).Simon Hirschhorn hat uns zusammen mit der Léon W. Topf-Stiftung in dem wunderbaren Buch „Tora, wer wird dich erheben?" diese religiösen Dichtungen aus dem mittelalterlichen Mainz neu zugänglich gemacht und gezeigt, warum nicht nur die „pijutim mimagenza" heute noch in aller Munde sind, sondern warum die Mainzer frühmittelalterliche Gemeinde „Schild und Panzer aller Gemeinden" genannt wurde. Oft sind die Beziehungen zu Mainz heute gar nicht mehr bewußt.

 

Es ist manchmal atemberaubend, wie nahe diese religiösen Dichtungen bei aller Eigenständigkeit verwandte Spuren zur Gregorianik zeigen und überhaupt zur Musik im katholischen Bereich. Dazu schreibt der bekannte Judaist Johann Maier (Das Judentum, München 1973, 2. Aufl., S.498): „Die Vorbeter oder Vorsänger (hazzanim) im Synagogengottesdienst stammten zu einem guten Teil aus priesterlichen und levitischen Kreisen. So ist anzunehmen, daß eine gewisse Kontinuität zwischen Tempelmusik und synagogalem Gesang beziehungsweise Kantillation besteht. - Dafür sprechen auch zahlreiche Parallelen zur christlichen Kirchenmusik, die schwerlich im Sinn direkter jüdischer Einflüsse auf die Kirche zu erklären sind, sondern zum größten Teil wohl auf derselben ererbten Tradition fußen. Das ermöglichte auch späterhin einen gewissen Austausch von Motiven."

 

Wir haben also noch viel gemeinsam zu entdecken. Die heutigen Juden wissen nicht viel davon - jedenfalls wenn man die Literatur liest -,und die Christen sind noch unkundiger über ihre eigenen Wurzeln.

 

Nun aber zum Kantor. "Ein Chasan soll eine gute Stimme und einen Bart haben, verheiratet, untadelig und mit der Liturgie vertraut sein." (Neues Lexikon des Judentums, hrsg. H.J.Schoeps, Bertelsmann, Gütersloh 1992, S.92). Sie werden bald sehen, daß er sehr viel mehr zu bieten hat. Ich danke Herrn Oberkantor Raffaele Polani für sein Kommen. Er ist ein Stück weit mit seiner verehrten Frau in Mainz zu Hause, denn er war sieben Jahre in Mainz wohnhaft, bevor er als Oberkantor nach Mannheim ging. Ich danke besonders auch der Westdeutschen Immobilienbank und der Fa. Ditsch für ihre großzügige Unterstützung dieses Abends und unserer anderen Veranstaltungen zu diesem heute für die Kirche, aber auch für die Gesellschaft lebenswichtigen Thema. Sie muß sich von der Wurzel her neu verstehen und begreifen.

 

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz