KAIN UND ABEL AUF EWIG?

Fremdheit und Versöhnung im Licht der Bibel

Datum:
Dienstag, 13. November 2001

Fremdheit und Versöhnung im Licht der Bibel

Das Thema Fremdheit und Versöhnung im Licht der Bibel begegnet uns bereits mit besonderer Eindringlichkeit auf den ersten Seiten der Bibel, nämlich bei Kain und Abel, den Söhnen von Adam und Eva. Sie waren verschieden und wurden einander immer fremder. Schließlich endet die Entfremdung mit dem ersten Wort, indem Kain seinen Bruder Abel angriff und erschlug. Bis heute bleibt uns wie bei jedem Mord das Zwiegespräch Gottes mit Kain im Ohr: "Wo ist dein Bruder Abel?" Er entgegnete: "Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?" (Gen 4,10) Kain wird verflucht. Die Folge ist: "Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein." (4,12b) Er wird fremd in einem ganz neuen Sinn.

Wir sind heute immer wieder mit dem Thema in ganz anderen Variationen beschäftigt. Wir ringen schon seit langer Zeit in unserem Land um ein neues Ausländerrecht. Die Ereignisse des 11. September haben zudem weltweit gezeigt, wie tödlich sich abgrundtiefe Fremdheit auf das Zusammenleben der Menschen auswirken kann. Darum wollen wir unsere Frage möglichst grundsätzlich angehen.

1. Die Ambivalenz der Begegnung mit dem Fremden überhaupt

Das "Ausländerproblem", wie wir es oft zu nennen gewohnt sind, ist also kein Problem von heute. Auch wenn es uns vielfach bedrängt, so reicht es dennoch weit in die Menschheitsgeschichte zurück. Es ist das Problem des Fremden, der in unsere Welt hineintritt.

In allen frühen Kulturen ist der Fremde zuerst einmal der Feind, der von außen her plötzlich in der vertrauten Welt des eigenen Lebensraumes auftaucht und diesen Bereich schon dadurch infrage stellt, dass er anders ist als "wir" einer anderen Sprache mächtig, mit anderen Lebensgewohnheiten, anders gekleidet, anderen Göttern untertan. Sehr frühe Kulturen vernichten darum den Fremden schonungslos. Er gehört zum Reich der Dämonen, erscheint als tierisch, als regelrechtes Ungeheuer und hat kein Anrecht auf den Namen "Mensch". Man kann mit solchen fremden Menschen schlechthin nichts anfangen. Darum gibt es auch dem Fremden gegenüber eine ausgesprochene Furcht. In einer gewiss stärker zivilisierten Form ist dies auch heute noch erfahrbar. Vor Jahren wollten wir - eine Gruppe evangelischer und katholischer Theologen - anlässlich einer internationalen Tagung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Ghana ein Dorf im Inneren des Landes besuchen. Wir waren nicht angemeldet. Ein einheimischer Geistlicher aus der presbyterianischen Kirche, dessen Vater der letzte Häuptling dieses Stammes war, begleitete uns. Als wir ankamen, wurden wir äußerst feindselig empfangen. Sehr skeptisch betrachtet mussten wir in einer Entfernung von ungefähr fünfhundert Metern in glühender Sonnenhitze vor dem Dorf warten. Erst nach zwei Stunden, in denen wir argwöhnisch beobachtet wurden, erhielten wir Einlass in das Dorf.

Die antike und biblische Gastfreundschaft entspringt keineswegs einer bodenständigen und naturwüchsigen Humanität der "unverdorbenen" Naturvölker. In der Gastfreundschaft zeigt sich vielmehr eine geschichtlich schon länger währende Kultur des Umgangs mit dem Fremden. Voraussetzung für das Entstehen einer solchen Kultur ist die Erfahrung der Ambivalenz des Fremden: Er ist zwar feindlich geartet, kann aber doch auch zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden; nicht jeder Fremde ist ein gefährlicher Feind; manchmal offenbaren sich auch die Götter den Menschen in der Gestalt eines Fremden. Weitere menschliche Erfahrungen kommen hinzu, so z.B. die Möglichkeit, mit ihm Informationen, Waren und auch Schwiegertöchter auszutauschen. Infolgedessen werden die eigenen Aggressionen gegenüber dem Fremden gebändigt und beherrscht. So hat es immer auch den Handelsverkehr gegeben. Der Kaufmann hat Verbindung zwischen fremden Völkern geschaffen. In vielen Kulturen erscheinen die Fremden manchmal als Verwalter höherer Erkenntnisse und geheimen Wissens. Man denke nur an das Verhältnis der Griechen zu den Ägyptern und an die Gestalt der drei Könige.

Zunächst bleibt es jedoch bei der Ambivalenz. Sie kommt in besonderer Weise auch dadurch zum Ausdruck, dass die alten Sprachen eine bemerkenswerte Doppeldeutigkeit haben, wenn etwa die Griechen das Wort "xenos" für den Fremden und den Gast verwenden, ebenso wie das lateinische Wort "hostis" und das germanische Äquivalent "gast" zugleich für lange Zeit den Fremden und den Feind kennzeichnet.

Man muss sich klar darüber sein, dass in dem "Ausländerhass" oder in der Abneigung gegen die Ausländer eine uralte Angst aufbricht. Diese ist keineswegs mit der Entwicklung des Menschen ein für allemal überwunden, sondern lauert als eine lebendige Erinnerung an die Frühgeschichte des Menschen in seinem Triebpotential. Zugleich zeigt uns ein Blick in die Kulturgeschichte, dass diese Fremdenangst auch überwindbar ist und einer regelrechten Kultur des Umgangs mit den Fremden weichen kann.

Dieser Wandel zeigt sich besonders auch im Alten Testament, wo wir in manchen Texten verschiedenen Schichten begegnen (vgl. z. B. Gen 18, 1-10). Das Bundesbuch enthält die Mahnung an die Israeliten, die Fremden (gerim) nicht zu bedrücken. "Einen Fremden sollst Du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen" (Ex 23,9). Die Gesetzgebung der Priesterschrift bezieht die Fremden in das Gebot der Nächstenliebe ein. "Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott (Lev 19,33-34). Dies kann sich sogar bis zu der mehrfach vorkommenden Aussage steigern: "Gleiches Recht soll bei euch für den Fremden wie für den Einheimischen gelten; denn ich bin der Herr, euer Gott" (Lev 24,22, vgl. Num 15,5f). Freilich lässt sich nicht übersehen, dass der Aufnahme in die Gemeinschaft des Volkes im Blick auf gewisse Kategorien von Menschen Grenzen gesetzt sind (vgl. Dtn 23,2-9).

Im ganzen ist die Gastfreundschaft jedoch selbstverständliche Übung und Pflicht (vgl. Gen 18, 1 ff; 19,2ff; 2 Sam 12,4; Ijob 31,32). Der Fremde genießt die Sabbatruhe wie der Israelit (vgl. Ex 20, 10), Gott liebt und schützt ihn (Dtn 10, 18). Der Gast erhält die hohen Rechte jedoch gewöhnlich nur auf Zeit, meist zunächst auf drei Tage.

Die Schlüsselaussage Israels (vgl. Lev 19,33) wird vor dem Hintergrund der eigenen ursprünglich erfahrenen Heimatlosigkeit formuliert. Erst in der befreienden Botschaft Jesu Christi wird dies dann in einen neuen universalen Begründungszusammenhang gerückt. Das frühe Christentum relativiert alle kulturspezifischen Engführungen und Partikularismen. "Da ist nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Sklave noch Freier, nicht mehr Mann noch Frau, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus" (Gal 3,28). In Fortführung dieses Gedankens sagt der Kolosserbrief über den neuen Menschen, der nach dem Bild des Schöpfers gestaltet wird: "Wo das geschieht, gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles und in allen. Ihr seid von Gott geliebt, seid seine auserwählten Heiligen." (Kol 3, 11 f) In den neutestnamentlichen Schriften gibt es eine Reihe von Höhepunkten dieser Art. Ich nenne nur noch zwei wichtige Texte, nämlich die große Rede Jesu von der Nächstenliebe angesichts des Weltgerichtes: "Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht" (Mt 25,43). Der Römerbrief entwickelt seine Ethik in analogen Gedanken. "Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung!" (Röm 12, 10) Die Pflege der Gastfreundschaft gehört zum neuen Lebensstil der Christen (vgl. Röm 12,13f). Der Fremde, der auf uns zukommt, ist ein Geheimnis, in ihm verbirgt sich Gott selbst. Er ist ein möglicher Ort der Offenbarung Gottes. So kann der Hebräerbrief sagen: "Vergesst nicht die Gastfreundschaft; durch sie haben manche Engel beherbergt und wussten es nicht" (Hebr 13, 1).

Die Gastfreundschaft stellt also in der Bibel eine der wichtigsten Formen der Nächstenliebe dar. Die kirchliche Tradition setzt diese Linie fort. Bereits die Schrift "Der Hirt des Hermas" nennt die Gastlichkeit im Katalog der guten Werke. in der Apologie des Aristides (15, 7) heißt es von der Gastfreundschaft als Tugend aller Christen: "Wenn sie einen Fremden sehen, führen sie ihn hinein unter ihr Dach und freuen sich über ihn wie über einen wirklichen Bruder." Die Gastfreundschaft ist uneigennützig und gilt den Bedürftigen, welche die Wohltat in keiner Weise zu vergelten imstande sind. Dabei spielt auch das Bewusstsein eine Rolle, selbst in diesem Leben keine fegte Heimat zu haben, sondern ein Pilger zu sein. Der große Theologe Gregor von Nazianz sagt: "Die Ehre des Schöpfers ist es, den Menschen zu lieben; die Ehre dessen, der sich selbst zum Bettler gemacht hat, ist die Fürsorge für die Bettler. Gastlich ist, wer sich bewusst bleibt, selbst ein Gast zu sein." Besonders der Bischof muss von Anfang an und stets gastfreundlich sein (1 Tim 3,2; Tit 1, 8).

2. Die Kirche als Werkzeug der Einheit für die gesamte Menschheit

Ich habe diese biblischen und altkirchlichen Grundlagen der Gastfreundschaft ausführlicher entfaltet, um deutlich zu machen, wie sehr und wie lange die Sorge um den Fremden zu den elementaren Aufgaben der Kirche aller Zeiten gehört. Wenn die Kirche hier ihr mahnendes und aufrüttelndes Wort erhebt, verfällt sie nicht schwärmerischen und unrealistischen, politisch leicht zu verdächtigenden und links angehauchten Verführungen des Zeitgeistes, sondern sie erfüllt ihren ureigenen Auftrag. In der heutigen theologischen Sprache kann man die Grundpfeiler dieser Aufgabe vielleicht mit folgenden Perspektiven umschreiben:

a) Die Kirche als Zeichen des Heils:

Die Kirche ist ein Zeichen für Heil trotz Unheil, für letzte Annahme durch Gott trotz menschlicher Ablehnung, für bergende Heimat trotz Vertreibung und Flucht, für Lebenskönnen trotz Existenzbedrohung. Dieses Heil bezeichnet die Kirche durch ihre Existenz. Es ist seiner Natur nach umfassend und schließt keinen Menschen aus. Heil darf gerade in diesem Zusammenhang nicht nur in einer verkürzten Perspektive gesehen werden. "Das Heil Christi bezieht sich ... nicht allein auf ein innerliches oder jenseitiges Leben. Es muss zugleich den ganzen Menschen und seinen gesamten Lebensbereich hier auf Erden umfassen." Der Dienst der Christen zielt auf die ganze Lebensfülle des Menschen, vor allem auf eine menschlichere und brüderlichere Welt. Es ist eine elementare Voraussetzung der vollen Verkündigung des Evangeliums, dass jeder Mensch in seiner ganzheitlichen menschlichen Würde erkannt und angenommen wird.

b) Die Kirche in Exodus und Emigration:

Der Christ gehört dem Volk Gottes an, das in spezifischer Weise in den Spuren des Volkes Israel wandert, welches die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten erlangte; es bleibt unterwegs zur vollkommenen Vereinigung der Menschen untereinander und mit Gott, die sich allerdings erst jenseits der Geschichte voll ereignet. In diesem Sinne ist die Kirche selbst sich ihrer ständigen Pilgerschaft bewusst. Sie ist selber ein Fremdling in dieser Zeit. Ihre Glieder kennen aus allen Zeiten ihrer Geschichte Vertreibung und Exil, Auswanderung und Flucht, Suche nach besseren Lebensbedingungen in einem fremden Land und Aufenthalt in anderen Kulturländern. Darum hat die Kirche von ihrem eigenen Wesen und ihrem geschichtlichen Schicksal her eine besondere Nähe zu allen, die außerhalb ihrer Heimat leben. Deshalb begleitet sie diese Fremden und ist ihnen Weggefährtin.

c) Solidarität mit allen Menschen in der Fremde:

Wenn die Kirche an der "Freude und Hoffnung, an der Trauer und Sorge der Menschen der heutigen Zeit" teilhat, dann ist sie auch solidarisch mit allen Menschen, die unterwegs sind und als Fremde gelten. Sie nimmt sich der Menschen an, die durch Emigration heimatlos geworden sind, Wanderer zwischen zwei Welten geworden sind und oft entwurzelt leben. Wie Jesus sein Leben unterschiedslos für alle Menschen dahingegeben hat, so muss sich auch die Kirche nach dem Beispiel ihres Herrn für alle, die in psychischer, physischer und spiritueller Not sind, einsetzen. Dabei muss sie die Mauern der Gettobildung und der Isolation ebenso zu überwinden suchen wie die Abgründe von Fremdenhass. Zu den Vorbedingungen dieser Solidarität gehört die Annahme des Fremden als Bruder und Schwester.

d) Die Kirche in ihrer weltweiten Katholizität:

Das Christentum hat von Anfang an eine universale Dimension und vermittelt der ganzen Menschheit die Einladung Gottes zum Heil. Dennoch nimmt die Kirche den Völkern nicht ihre Eigenheit, ihre Kultur und ihre Sprache, ihr Brauchtum und ihre Sitten. Es ist gerade das Wunder des Pfingstgeistes, dass er alle in ihren Sprachen reden lässt, die Menschen sich jedoch trotz dieser Verschiedenheit als Einheit begreifen und einander verstehen. Darum gibt es auch in der Kirche letztlich keine Grenzen und kein Ausland. Alle, die glauben und getauft sind, haben dasselbe Bürgerrecht. Die Kirche darf nicht durch Abgrenzungen der Nation oder der Sprache bestimmt werden. Dies muss auch konkrete Konsequenzen haben, wenn "Fremde" unter uns sind, und zwar nicht nur Glaubensgenossen, sondern alle Menschen, weil sie Gottes Geschöpfe sind, sein Ebenbild tragen und von seiner Gnade zum Heil eingeladen werden.

e) Anwaltschaft für die Schwachen:

Die Kirche muss sich besonders zum Anwalt jener Menschen machen, die in ihren Rechten und in ihrer Freiheit durch gesellschaftliche Verhältnisse in inhumaner Weise eingeengt oder beschnitten werden. Das Eintreten des Christentums für den Menschen bezeugt sich zunächst darin, dass die Kirche sich eindeutig und furchtlos auf die Seite der Benachteiligten und Schwachen stellt. Sie macht sich die Anliegen und Leiden solcher Menschen zu eigen.

3. Postulate und Prinzipien kirchlicher Ausländerarbeit

Auf diesen Grundlagen beruhen die Grundsätze des Einsatzes für die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien. Ich möchte nicht frühere Äußerungen der Päpste zum weltweiten Flüchtlingsproblem und zu den Auswanderernöten wiederholen, sondern nur einige jüngere Texte in Erinnerung rufen.

Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute fasst kurz zusammen: "Die aus anderen Völkern und Ländern herangezogenen Arbeiter, die durch ihre Arbeit zum wirtschaftlichen Aufstieg des Volkes oder Landes beitragen, dürfen, was Entlohnung und Arbeitsbedingungen angeht, in keiner Weise diskriminiert werden. Alle im Aufnahmeland, namentlich aber die öffentlichen Stellen, dürfen sie nicht als bloße Produktionsmittel behandeln, sondern haben ihnen als menschlichen Personen zu begegnen und sollen ihnen helfen, ihre Familien nachzuziehen und sich angemessene Wohngelegenheiten zu verschaffen, sollen auch ihre Eingliederung in das gesellschaftliche Leben des Aufnahmelandes und seiner Bevölkerung begünstigen. Soweit wie möglich sollte man jedoch in ihren Heimatländern selbst Arbeitsgelegenheit schaffen." Papst Paul VI. fügt in seinem Schreiben "Octogesima adveniens" aus dem Jahre 1971 zum 80. Jahresgedächtnis der ersten großen Sozialenzyklika "Rerum novarum" hinzu: "Es ist ein dringendes Gebot, das nationalistischer Engherzigkeit entspringende Verhalten ihnen (d. h. den Gastarbeitern) gegenüber abzustellen und für sie einen rechtlichen Status vorzusehen, der ihnen das Recht der Auswanderung gewährleistet, die Einbürgerung erleichtert, ihren beruflichen Aufstieg begünstigt und ihnen ausreichende Unterkunftsmöglichkeiten sichert, wodurch es ihnen ermöglicht würde, ihre Familien nachkommen zu lassen." (Nr. 17) Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland hat in ihrem Beschluss "Die ausländischen Arbeitnehmer - eine Frage an die Kirche und die Gesellschaft" aus dem Jahr 1973 diese Grundsätze auf ihre eigene Situation und Aufgabe angewandt.

Bemerkenswert sind gerade für uns die Worte, die Papst Johannes Paul II. am 17. 11. 1980 auf dem Domplatz in Mainz an die ausländischen Gruppen gerichtet hat: "Die bisherige Entwicklung zeigt, dass eine noch stärkere Bewusstseinsänderung bei einem großen Teil der einheimischen Bevölkerung wünschenswert wäre. Zu lange haben viele geglaubt, die ausländischen Arbeitnehmer würden nur vorübergehend in die Industriegebiete kommen; ihre Anwesenheit wurde fast ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gewertet, als eine Frage des Arbeitsmarktes. Nun aber wird allen Einsichtigen klar, dass ein großer Anteil dieser Arbeitnehmer und ihrer Familien hier heimisch geworden ist und ständig bei Euch leben möchte ... Dem müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung tragen; darauf müssen sich alle in Gesinnung und Tat einstellen - ein keineswegs leicht und rasch zu vollziehender Prozess ... jeder muss seine eigene Einstellung zu den Auslindern in seiner Nähe überprüfen und sich im Gewissen Rechenschaft geben, ob er in ihnen bereits den Menschen entdeckt hat mit der gleichen Sehnsucht nach Frieden und Freiheit, nach Ruhe und Sicherheit, deren Erfüllung wir für uns selbst so selbstverständlich beanspruchen." Ein weiteres Zeugnis darf der Enzyklika "Laborem exercens" des gegenwärtigen Papstes aus dem Jahr 1981 (Nr. 23) entnommen werden: "Das Wichtigste ist, dass der Mensch, der als ständiger Emigrant oder auch als Saisonarbeiter außerhalb seines Heimatlandes arbeitet, im Bereich der Arbeitnehmerrechte gegenüber den anderen Arbeitern aus dem Gastland selbst nicht benachteiligt wird. Die Arbeitsemigration darf in keiner Weise eine Gelegenheit zu finanzieller oder sozialer Ausbeutung werden ... Erst recht darf die Notlage, in der ein Emigrant sich befindet, nicht ausgenützt werden ... Das grundlegende Prinzip sei hier nochmals wiederholt: Die Rangordnung der Werte und der tiefere Sinn der Arbeit fordern, dass das Kapital der Arbeit diene und nicht die Arbeit dem Kapital."

Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, auf alle Verlautbarungen einzugehen, die die Deutsche Bischofskonferenz, einzelne Europäische Bischofskonferenzen und der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen sowie der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der jeweils für diese Fragen eigens beauftragte Bischof in den letzten Jahren an Erklärungen abgegeben haben. Hinzu kommen nicht wenige Veröffentlichungen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Im übrigen ergeben sich viele Gemeinsamkeiten mit analogen Aufrufen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Wir haben auch gemeinsame Texte. Der wichtigste "... und der Fremdling der in deinen Toren ist", veröffentlicht im Jahr 1997 entwickelt auf mehr als 100 Seiten – übrigens auch gemeinsam mit allen anderen christlichen Kirchen unseres Landes – die Herausforderungen durch Migration und Flucht. Nicht zufällig hat man das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Flüchtlinge genannt. Das Gemeinsame Wort greift fast alle Fragen in diesem Bereich auf und kommt in einer breiten Konsensbildung zu vielen gemeinsamen Vorschlägen. Es ist der Meinung, dass diese Fragen "zu den bedrängendsten politischen und sozial-ethischen Herausforderungen der Gegenwart" gehören. "Meinungen und Einstellungen dazu werden oftmals emotionsgeladen vorgetragen oder nehmen aggressive Formen an. Deshalb ist es notwendig, sowohl Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit entschieden entgegenzutreten als auch dazu beizutragen, dass die damit zusammenhängenden Probleme differenziert und in ihrer Vielschichtigkeit wahrgenommen und bewertet werden." (S. 4) Für die Zukunft ergeben sich als große Aufgabe vor allem die internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Fluchtursachen, die Zugangsregelungen auch auf europäischer Ebene und die sozialen und kulturellen Bedingungen der Integration im Arbeitsleben, im Blick auf die Qualifikation, im Wohnumfeld und im wechselseitigen kulturellen Verständnis für Andersheit und Vielfalt (vgl. S. 60-82). Auch in diesem Dokument ist an mehreren Stellen ausführlich von der Zusammenarbeit mit den Muslimen die Rede (vgl. z.B. S. 80ff., 93ff.).

In letzter Zeit hat sich die Deutsche Bischofskonferenz mit ihrer neuen Kommission für Migrationsfragen besonders mit den "Illegalen" beschäftigt, die vielfach zu sehr übersehen werden. Sie halten sich ohne Aufenthaltsrecht und ohne Duldung in unserem Land auf, dürften gar nicht hier sein – es dürfte sie bei uns gar nicht geben. Man spricht von einer Zahl zwischen 500.000 und 1 Million. Sie werden meist nur entdeckt im Zusammenhang von Krankheit und Unfällen. Nicht selten werden sie vielfach ausgenützt. Man denke in diesem Zusammenhang auch an den Frauenhandel und die oft erzwungene Prostitution. Wir haben dieses Problem in einem umfangreichen Wort "Leben in der Illegalität in Deutschland – Eine humanitäre und pastorale Herausforderung" vom 21. Mai 2001 behandelt (Die deutschen Bischöfe – Kommission für Migrationsfragen 25, Bonn, 2001). Dass es hier auch immer wieder um die Situation von Ehe und Familie sowie um Kinder geht, liegt auf der Hand.

Es sollen jedoch wenigstens einige Tendenzen vermerkt werden, die in letzter Zeit besondere Dringlichkeit gewannen und zum Teil auch zu heftigen Auseinandersetzungen geführt haben:

Viele Ausländer wollen langfristig oder sogar auf Dauer in unserem Land bleiben. Der Gastarbeiter wird zum ausländischen Mitbürger. Daraus müssen Ausländer und Deutsche Konsequenzen ziehen. Diese neue Situation, die immer mehr bewusst wird, erfordert ein Gesamtkonzept der Ausländerpolitik, das auf die heutigen Herausforderungen vorurteilslos eingeht: Beseitigung der Rechtsunsicherheit, das gesicherte Recht der Ausländer auf ein Zusammenleben in der Familie, Chancengerechtigkeit für die zweite und dritte Generation, die Überwindung der Kluft zwischen der deutschen und der ausländischen Bevölkerung, Verbesserung der Bildungs- und Lebenssituation der ausländischen Kinder und jugendlichen.

Rechte, die für die deutschen Staatsbürger gelten, müssen auch den Ausländern ohne Diskriminierung zukommen. Die ausländerrechtlichen Bestimmungen müssen im Einklang mit den verfassungsmäßigen Grundsätzen angewendet werden. Ausländern mit längerem Aufenthalt müssen mehr Rechte zuwachsen, die sie beim Aufenthaltsrecht, in sozialversicherungsrechtlichen Fragen, bei der Sozialhilfe und auch im Falle der Straffälligkeit zunehmend deutschen Staatsbürgern gleichstellen.

Auch für ausländische Arbeitnehmer gilt, dass Ehegatten das Recht haben, zusammenzuleben. Neu verheirateten Ehegatten darf der Nachzug aus dem Heimatland nicht erst nach einem oder drei Jahren gestattet werden. Eltern haben das Recht, selbst ihre Kinder zu erziehen. Kinder haben einen legitimen Anspruch, in der Familie mit ihren Eltern zu leben. Dies gilt auch für heranwachsende jugendliche.

"Unzuträglichkeiten und Schwierigkeiten für die deutsche und die ausländische Wohnbevölkerung, z.B. in Ballungsgebieten, im Schul- und Wohnwesen, müssen, soweit wie möglich im Zusammenwirken mit den Ausländern selbst, durch gezielte Maßnahmen abgebaut werden; es sei hier z. B. an konkrete Vorschläge des ZdK erinnert, die mit Recht allgemeine Anerkennung gefunden haben. Solche Belastungen können nicht die Begründung für einen generellen Stopp des Familiennachzugs abgeben. Probleme, die sich z.B. aus einem 25prozentigen Ausländeranteil in einer Großstadt oder aus einem 95prozentigen Anteil von Ausländerkindern in einer Schulklasse ergeben, erfordern dringend die Auflockerung von Ballungsgebieten auf humane Weise und konkrete Lösungen der Schulsituation, wie sie z. B. in Bayern versucht werden; ein Zuzugsstopp von Familienangehörigen kann sie weder kurz- noch langfristig beseitigen."

Fremdenangst und Fremdenabwehr sind aus vielen Gründen bei uns gestiegen. In Politik und Verwaltung haben sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Einschränkungen und abwehrenden Maßnahmen gegenüber den Ausländern niedergeschlagen. Die Sorge um die berufliche Zukunft der eigenen Kinder und tief wurzelnde Ängste werden - wie in uralten Zeiten - fast nach Art eines Sündenbock-Mechanismus auf die "Fremden" übertragen. Der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz hat darum am Ende der Erklärung "Kirche und Fremdenangst" aus dem Jahr 1982 auch an die Verantwortung der Kirche erinnert, denn Fremdenabwehr und Fremdenfeindlichkeit haben auch vor Pfarreien und Verbänden nicht haltgemacht. "Was die Kirche nach außen sagen muss, ob gelegen oder ungelegen, verlangt in der Kirche selbst volle Geltung. Verkündigung, christliche Unterweisung und Erwachsenenbildung sollten sich daher ausdrücklich und ausführlich mit den Grundauffassungen der kirchlichen Lehre über die Familie, auch die Familie der Eingewanderten befassen. Des weiteren muss die kirchliche Verkündigung die Aufgaben der Kirche gegenüber Minderheiten im eigenen Land herausstellen und an der Überwindung vorhandener Ängste, vor allem in Wohnbereichen mit einem hohen Anteil an nichtdeutscher Bevölkerung, mitwirken ... Die Kirche muss sowohl durch ihre Erklärung als auch durch ihr Verhalten verhindern, dass unsere Gesellschaft durch das Versagen gegenüber Minderheiten unabsehbaren Schaden nimmt. Es gibt nur eine gemeinsame Zukunft."

4. Not der Asylanten und tiefere Grundprobleme

Wenn man einen Überblick in begrenzter Zeit versucht, stößt man immer wieder an die Grenzen unserer Möglichkeiten und an die Fülle der Hilfsbedürftigkeit und auch des Elends. So habe ich viele Bereiche kaum oder zu wenig behandelt, die einer größeren Aufmerksamkeit bedürften, wie z. B. das Integrationsproblem, die Schwierigkeiten der Rückkehr, Fragen der zweiten und dritten Generation von Ausländern, politische Elemente und Ängste in ausländischen Missionen, das sogenannte "Türkenproblem", heute besonders die Rolle des Islam als Religion unter mitteleuropäischen Bedingungen. Vor allem aber möchte ich noch die Not der Asylanten erwähnen.

Die deutschen Bischöfe haben immer wieder nachdrücklich auf die Not von Asylbewerbern aufmerksam gemacht, besonders sind hier die Erklärungen des Vorsitzenden der Kommission Weltkirche vom 26.6.1979 und vom 5.7.1980 zur Situation der ausländischen Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland zu nennen. Die Besorgnis, die in diesen Auf rufen zum Ausdruck kommt, ist nicht geringer geworden. Die deutschen Bischöfe sind selbstverständlich nicht so naiv und blauäugig, dass sie die sehr schwierigen Probleme von Scheinasylanten und Wirtschaftsasylanten verkennen würden, wie zuweilen Leserbriefe in großen Zeitungen und briefliche Zuschriften mutmaßen. Wir werden jedoch nicht müde, darauf hinzuweisen, dass alle Maßnahmen, die der Staat trifft, die Gesetze der Menschenwürde achten müssen. Gerade wenn wir Verständnis für die Notlage des Staates zeigen, müssen wir auch auf die Menschen aufmerksam machen, die ein berechtigtes Anliegen haben, bei uns Schutz für Leib und Leben zu finden. Die Abschreckungsmaßnahmen gegenüber Asylbewerbern sind nicht selten an eine Grenze gestoßen, wo diese Menschenwürde gefährdet erscheint. Das Gemeinsame Wort der Kirchen aus dem Jahr 1997 spricht gerade auch diesen Personenbereich besonders an.

Hier ist die Errichtung von Großaufnahmelagern mit den Folgen solcher Einrichtungen zu nennen. Vor allem müssen echte Flüchtlinge unter den Abschreckungsmaßnahmen jahrelang leiden. Der Zweck der Abschreckung heiligt nicht alle Mittel. Dies gilt auch für die Maßnahmen zur Abschreckung von Wirtschaftsflüchtlingen. In einzelnen Lagern war die Situation erniedrigend. Zu überprüfen war nicht zuletzt die Abschiebehaft und die Behandlung von Abschiebehäftlingen. Ich denke auch an die langen Wartezeiten z. B. für die christlichen Türken, die zwar nicht staatlich verfolgt werden, aber bei einer Rückkehr ihr Leben riskieren.

Was ist inmitten so vieler Probleme und Nöte das Entscheidende? Warum misslingt vieles bei so viel Einsatz und gutem Willen auf vielen Seiten? Wo sitzt der Nerv der Not? Ich habe keine Patentantwort. Aber vor einiger Zeit hat mich einer unserer ausländischen Seelsorger, der in Deutschland promoviert hat, auf eine Formel gebracht, die zu denken gibt und vieles einfangen kann von dem, was ich zu sagen suchte. Er sprach von den ausländischen Mitbürgern als von "Menschen ohne Gegenwart". Sie sind an eine Vergangenheit gekettet, die sie oft überwinden wollen (Armut, Abhängigkeit, Bildungsrückstand). Ihre Zukunft ist unsicher. Sie leben ständig in einem Vorbehalt und sind unfähig, eine Entscheidung für das Verbleiben oder die Rückkehr in ihr Ursprungsland zu treffen. Durch die Suspension einer Entscheidung sollen alle Wege offengehalten werden. Aber solchermaßen können die Eltern weder für sich selbst noch für ihre Kinder Zukunftspläne entwickeln. Die entscheidende Frage eines Menschen, nämlich: "Wer bin ich?" und "Wohin gehöre ich?", kann so nicht eindeutig beantwortet werden. Damit wird die Gegenwart auch oft sinnleer: sie ist gleichsam nur dazu da, um zu arbeiten. Allzu leicht schleicht sich dann eine materialistische Lebensauffassung ein, manchmal gefolgt von Konsumgier. Die Heimatlosigkeit wird noch größer. Ein gerade noch erträgliches Provisorium wird zu einem Dauerzustand. Es ist kein Wunder, wenn in einer solchen Situation ein physischer, psychischer und religiöser Identitätsverfall einsetzt, ganz abgesehen von der Anfälligkeit für Gewalt. Wir haben hautnah erfahren, was dies heißen kann.

5. Den Fremden lieben wie dich selbst

Ich möchte jedoch nach diesen Einzelüberlegungen in einem letzten Gang nochmals die entscheidende Grundfrage angehen. Jahrelang schien der Rechtsextremismus in unserem Land nur noch ein Randproblem von untergeordneter Bedeutung zu sein. In den letzten Jahren sind seine Schatten wieder tiefer auf uns gefallen, und viele warnen mit besorgtem Blick auf Vergangenes vor seinen Gefahren. Gewiss gibt es mehrere Gründe dafür, dass rechtsextreme Ideen für manche wieder attraktiver geworden sind, dass sie mehr oder weniger organisierte Vertreter finden und vor allem von einigen Jugendgruppen lauthals und trotzig verkündet werden: eine tiefgehende Orientierungslosigkeit nach dem Zusammenbruch des staatlich verordneten Sozialismus und seiner Ideologeme, Schwierigkeiten bei der Gestaltung und Sicherung des eigenen Lebensunterhalts, Wille zu einer möglichst wirksamen, anstößigen Form des Protestes und manches andere.

Im Kern dieser Motivgruppe sitzen die Angst um den Verlust der eigenen Identität und der Versuch, sie wiederzugewinnen. Identität ist nicht zu erlangen ohne das Bewusstsein davon, was und wer man nicht ist, ohne Abgrenzungen also. Doch es gibt ein breites Spektrum an Möglichkeiten, Formen und Vollzugsweisen dieser notwendigen Selbstbestimmung im Gegenüber und in Abgrenzung zum Anderen. Ist eine Identitätsfindung gelungen, wird das Andere und der Andere als notwendige Grenze akzeptiert und geachtet, vielleicht in seiner Andersartigkeit sogar bewundert und geliebt. Misslungene Prozesse der Selbstfindung jedoch können im einen Extrem in völliger Selbstaufgabe und Selbstauflösung enden, in der entgegengesetzten extremen Form aber in Feindschaft, Hass oder gar Gewalt. In dieser zweiten Variante, als feindselige und aggressive Abgrenzung gegenüber dem Anderen und Fremden, ist uns der Rechtsextremismus wie schon früher in unserer Geschichte, so auch jetzt wieder vor Augen getreten, ja durch diese ungehemmte Aggressivität überhaupt erst deutlich wahrnehmbar geworden.

Was ist das Eigene? Wer sind wir, wer bin ich? Eine der nächstliegenden Antworten liegt in der Volksgruppe, der Nationalität, der man angehört. Die Merkmale, die zur Bestimmung der Zugehörigkeit gehören, sind verschieden und tauchen in unterschiedlichen Mischungen auf: dieselbe Sprache, dasselbe Land, Gemeinsamkeiten des Äußeren und des Empfindens, ähnliches Schicksal, gemeinsame Traditionen und Ideale, derselbe Glaube. Wir beobachten gegenwärtig in ganz Europa und darüber hinaus, wie sich die Menschen nach dem Auseinanderfallen länderübergreifender Strukturen, wie z. B. dem Ostblock, und im Erosionsprozess übernationaler Werte und Ziele in Ost wie in West wieder auf solche tatsächlich oder vermeintlich unmittelbar greifbaren Identitätsmerkmale zurückziehen und das offenbar Fremde und nicht Assimilierbare aus ihrer Mitte auszugrenzen trachten. Rechtsextremismus und Nationalismus ist zwar nicht dasselbe, sie treten aber de facto meistens in enger Verbindung auf: Die angestrebte ideale Ordnung, das heroische Ideal kann nach einem weit verbreiteten Empfinden nur erreicht werden auf der festen Basis und mit der gebündelten Stärke einer homogenen Gruppe von Menschen.

Vorsicht ist jedoch geboten. Nicht überall, wo man nach den Verwüstungen der vergangenen Jahrzehnte um Identität ringt und das Nationale - oft gewiss in fragwürdigen Formen - wiederzugewinnen sucht, ist man schon auf die Dauer ein unverbesserlicher Nationalist. Viele Völker in Mittel- und Osteuropa, aber auch im asiatischen Teil der ehemaligen UdSSR erwachen nach unvorstellbaren Zerstörungen und Pogromen, die uns der Geschichtsunterricht jahrzehntelang vorenthalten hatte, zu sich selbst. Sie brauchen die Entdeckung des Nationalen und können dann wieder offener und unbefangen, weil anerkannt und geachtet, in die Völkergemeinschaft zurückkommen. Man muss ihnen Zeit lassen und helfen.

In fast allen Völkern und Kulturen wirken der zentrifugalen Kraft des Nationalen und Volkshaften auch immer gegenläufige Tendenzen entgegen, die getragen sind von der konkreten Erfahrung, auf den Anderen und dessen geistige und materielle Kräfte gegenwärtig oder einmal in Zukunft angewiesen zu sein. Ein greifbares und leuchtendes Beispiel für dieses Wissen ist die schon erwähnte Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden, die in vielen Kulturen einen hohen Rang innehat. Besonders geschätzt wird sie von denen, die - sei es durch natur- oder kriegsbedingte Notlagen, sei es durch eine von Handel und Reisen geprägte Lebensweise - selbst auf sie angewiesen waren oder sind.

im Alten Testament haben wir dafür ein eindrucksvolles Beispiel: Zwar musste sich auch das vergleichsweise kleine Volk Israel beständig gegen die Sogwirkungen fremder Völker und ihrer religiösen Bräuche abgrenzen, um seine Identität zu wahren. Zugleich aber blieb ihm stets im kollektiven Gedächtnis, dass sein Stammvater Abraham lange als Fremder umhergezogen war, dass sich die Vorfahren als Fremdlinge in einem fremden Land, Ägypten, vermehrt hatten (vgl. Dtn 26, 1), dass sie Fremde dann auch waren in jenem Land, das sie in Besitz nahmen, Kanaan (vgl. Ex 6,4), dass sie wegen Hungersnöten immer wieder in die Fremde ausweichen und schließlich eine längere Deportation ins Zweistromland hinnehmen mussten. Diese vielfältigen Erfahrungen der Fremdheit in einem Land schlugen sich umgekehrt nieder in einer erstaunlichen, auch rechtlich fixierten Aufmerksamkeit für die Fremden im eigenen Land. Man wusste die Fremden unter dem besonderen Schutz und der Liebe Gottes (vgl. Dtn 10, 18; Ps 146,9) und durfte sie nicht unterdrücken (z. B. Lev 19,33): Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen" (Ex 23,9). Für die Fremden sollte dasselbe Recht gelten wie für die Einheimischen (vgl. z. B. Num 15,15 f). Ihr Auskommen war zu gewährleisten (vgl. z. B. Dtn 14,29; Lev 19, 10; Ez 47,22). Auch die Ruhe des Sabbats (vgl. Ex 20, 10) und die Freude des Feiertags (vgl. Dtn 26, 11) war mit den Fremden zu teilen. Doch der Israelit war nicht nur angehalten, die Rechte des Fremden zu achten (vgl. Dtn 24,17): "Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen" (Lev 19,34). Eine gesellschaftlich-politische Ordnung muss nicht gegen den Fremden im Lande aufgebaut werden, sondern mit ihm - das ist eine wichtige Botschaft auch für uns heute.

Den Fremden lieben wie dich selbst - von hier aus ist es nicht mehr weit zur Botschaft Jesu, der selbst in jedem Fremden gefunden und geliebt werden kann (vgl. Mt 25,38). Im Christentum begann noch einmal eine neue Phase und Qualität der Öffnung gegenüber der Völkerwelt als ganzer. Gleich aus welchem Volk, aus welcher Nation jemand stammt, ist er in die Gemeinschaft der Kirche berufen, ohne sich zugleich einem bestimmten Volk oder einer bestimmten Nationalität eingliedern und anpassen zu müssen. Der Heide musste nicht zuerst Jude werden, um Christ zu sein. Das Christentum vertritt freilich nicht irgend einen blassen Internationalismus. Es ist nicht die Religion eines abstrakten Weltbürgertums, in dem die einzelnen Völker der Menschheit geopfert werden. Dort wo die Verkündigung und Annahme der christlichen Botschaft gelungen ist - gewiss ist dies nicht überall in gleicher Weise der Fall gewesen -, wurde die gewachsene Eigenart und Identität eines Volkes nicht zerstört und ausradiert, sondern in den Vollzug des neuen Glaubens in modifizierter Weise eingebunden. Heute wird dieser Vorgang als "Inkulturation" bezeichnet. Der christliche Glaube kann so durchaus zu einem identitätsbildenden und stabilisierenden Faktor im Leben eines Volkes werden. Zugleich aber wehrt er allen Bestrebungen, das Volkshafte und Nationale als eine letztgültige Größe anzusehen und festzuhalten. Wenn ein Christ sich selbst recht versteht, weiß er sich in erster Linie als Christ und nicht zuerst als Deutscher, Pole, Italiener oder Franzose. Die Zugehörigkeit zu Jesus Christus ist der wichtigste und tragende Pfeiler seiner Identität, nicht die Nationalität. Der Blick hat sich über die Grenzen, Abgrenzungen und Feindschaften der Völkerwelt hinaus geweitet auf eine zukünftige, von Gott ermöglichte und getragene Gemeinschaft, in der die Schranken der Menschenwelt gefallen sind. Diese Gemeinschaft wird in der Kirche schon jetzt zeichenhaft antizipiert und vorgelebt - sie sollte es wenigstens.

Es ist eine bestürzende Tatsache, dass das Christentum in Europa seine völkerverbindende Kraft offenbar schon so weit eingebüßt hat, dass blutige Konflikte selbst zwischen an sich christlichen Völkern aus der Kraft des gemeinsamen Glaubens nicht mehr verhindert oder eingedämmt werden konnten. Die konfessionelle Zerspaltenheit der Kirche ist daran ebenso schuld wie die Tendenz mancher lokaler Kirchen, sich allzu sehr mit einem bestimmten Volk zu identifizieren und vom Nationalen absorbieren zu lassen. Hier liegen große Herausforderungen und Aufgaben der Christen in einem Europa, in dem das nationalistische Denken, verbunden mit ideologisierten Heroizismen, wie ein Wiedergänger der Vergangenheit uns erneut das Fürchten zu lehren beginnt. Doch wir sollten nicht nur die europaweite Perspektive vor Augen haben, sondern uns ernster überlegen, wie wir den Anfängen des Übels vor der eigenen Haustür, ja sogar in der eigenen Kinderstube, in der Erziehung und Begleitung der jungen Generation, wehren können.

Wir werden auf die Dauer der Versuchung, die eigene Identität durch Ausgrenzung und Gewaltanwendung gegenüber den Fremden im Lande zu gewinnen, nicht nur durch Anti-Demonstrationen und schöne Reden beikommen können. Auch ökonomische und sozialpolitische Anstrengungen, den Gewächsen von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit den materiellen Nährboden zu entziehen, werden - so wichtig und unabdingbar sie sind - auf die Dauer zu einer stabilen und krisenfesten Identitätsbildung nicht ausreichen. Prosperität und Erfolg sind zu wankelmütige Größen, als dass man sein Selbstverständnis und -bewusstsein ausschließlich auf sie bauen dürfte. Im Katzenjammer einer Rezession sind die seelischen Aufputschmittel extremistischer Gedanken rasch wieder zur Hand. Aber auch das demokratisch verfasste, pluralistische Gemeinwesen gewinnt seine Krisenfestigkeit nicht wie ein "Perpetuum mobile" allein aus sich, sondern lebt letztlich von den tieferverankerten Glaubensüberzeugungen und Wertentscheidungen derer, die es mehrheitlich tragen. Die Kirchen und ihre Glieder dürfen sich in dieser Zeit, da es gilt, den Kräften extremistischen und totalitären Denkens zu wehren, nicht davor scheuen, im Konzert der Rat- und Entscheidungssuchenden die eigene Stimme deutlich zu Gehör zu bringen: die Botschaft von einer Hoffnung und Liebe, die den einzelnen Menschen wie den Völkern zwar dort auf scheint, wo sie stehen und der Hilfe bedürfen, die sie freilich auch nicht auf sich selbst egozentrisch zurückwirft, sondern den Horizont weitet auf den Anderen hin, seine Bedürftigkeit und seine unveräußerlichen Rechte, seine Eigenarten und Fähigkeiten, die uns nichts nehmen, sondern bereichern. Vor Gott sind alle Fremdlinge und Gäste (Chr 28,15), doch er wahrt seine Identität nicht, indem er uns, die so viel Schwächeren, unterdrückt und von sich fernhält, sondern gerade, indem er uns von sich selbst mitteilt und uns so aus unseren selbstgebauten Sklavenhäusern in die Freiheit einer neuen Identität und eines neuen Lebens führt.

Noch in dieser Woche wird der Deutsche Bundestag die erste Lesung des neuen geplanten Ausländerrechts durchführen. Die nächsten Monate werden wohl noch ein heftiges Ringen um einzelne Positionen bringen. Es wäre zu wünschen, dass es den Verantwortlichen in den Parteien gelingt, vor den Wahlen im kommenden Herbst das Ringen um diese Themen abzuschließen. In den letzten Monaten waren die Parteien durch die intensive Zusammenarbeit in verschiedenen Kommissionen und Arbeitsgruppen schon einmal relativ nahe beieinander. Es ist zu hoffen, dass dieses Gemeinsame nicht wieder verloren geht. Die Probleme eignen sich nur sehr bedingt für einen Wahlkampf. Der Streit wird sonst eher auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen. Blickt man jedoch auf die realen Probleme und besonders die ethischen Grundlagen ihrer Bewältigung, so kann dies eigentlich im Ernst niemand wollen. In diesem sinne bleibt uns im Augenblick vor allem die Hoffnung, dass eine baldige Konsensbildung über die Grundlagen in unserem Land gelingen wird.

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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