KIRCHLICHE DIENSTE, AUFGABEN UND ÄMTER IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM: CHANCEN UND GEFAHREN

Eröffnungsvortrag in Regensburg (Aula des Priesterseminars)

Datum:
Montag, 4. März 2002

Eröffnungsvortrag in Regensburg (Aula des Priesterseminars)

„Im Dienst der Gemeinde: Wirklichkeit und Zukunftsgestalt der kirchlichen Ämter"

Dankbar für die Einladung möchte ich einen ausgesprochenen Eröffnungsvortrag halten, wie es auch im Programm heißt. Ich möchte gleichsam wie im Theater den Vorhang aufziehen und die Sicht freigeben auf die Fragen und Probleme, die uns diese Tagung aufgibt. Deshalb behandle ich auch nicht spezielle Einzelfragen, die zum Teil ja auch in den anschließenden Vorträgen und Arbeitskreisen angegangen werden. Ich werde auch deshalb dazu nicht sprechen, weil ich zu fast allen Themen mehrfach gesprochen und veröffentlicht habe. Deshalb werde ich auch nicht reden über die „heißen Eisen", deren Behandlung vielleicht manche erwarten: Zölibat, „viri probati", Ausschluss der Frau vom Priesteramt, Ständiges Diakonat der Frau. Hier und heute reizt es mich, als Bischof und Theologe einmal den Blick auf das Ganze zu werfen. Vielleicht tun wir dies zu wenig. Deshalb verlieren wir uns manchmal zu sehr im Detail und im Gestrüpp. Dann entgleitet uns aber mit der Einordnung in das Ganze am Ende auch das Profil des Partikularen.

I. Versuch eines knappen Überblicks in Zahlen

Vielleicht ist es gut, einmal den Blick auf die zahlenmäßige Entwicklung der kirchlichen Dienste und Ämter zu werfen. Ich wähle dabei zunächst den Stand des Jahres 1991, also vor ungefähr 10 Jahren, und die Jahre 1999 und 2000.

Im Jahr 1991 gab es 16.893 Weltpriester und 2.545 Ordenspriester in unseren Diözesen, also insgesamt 19.438 Priester. Die Zahl der Ständigen Diakone betrug 1.520. 3.668 Gemeindereferenten übten ihren Dienst aus. Die Zahl der Pastoralreferenten belief sich auf 1.049. Im Jahr 1999 waren es 15.115 Weltpriester und 2.255 Ordenspriester, also insgesamt 17.370 Priester. Die Zahl der Diakone belief sich auf 2.248. 4.254 Gemeindereferenten wurden gezählt. Die Zahl der Pastoralreferenten wird mit 2.650 angegeben. Im Jahr 2000 zählen wir 14.889 Weltpriester und 2.240 Ordenspriester, insgesamt 17.129 Priester. Die Zahl der Ständigen Diakone stieg auf 2.302, die Gemeindereferenten auf 4.355 und die Pastoralreferenten auf 2.742.

Beim Zahlenvergleich fällt auf, dass in diesen knapp 10 Jahren die Zahl der Priester um ca. 10% zurückging, die Ständigen Diakone sind um ein volles Drittel gewachsen, die Gemeindereferenten stiegen um 20%. Den größten Sprung machten die Pastoralreferenten, die mehr als 2 ½ mal soviel betragen. Dies erklärt sich am meisten daraus, dass bei den Gemeindereferenten eine ähnliche Fluktuation wie bei den Priestern und Ständigen Diakonen ist, während die ersten Pastoralreferenten erst in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen werden. Aber es bleibt dabei, dass die neueren pastoralen Berufe in einem starken Aufstieg begriffen sind, während die Zahl der Priester noch erheblich schrumpfen wird. Intensität und Tempo sind in den einzelnen Bistümern verschieden. Dies bedeutet eine große Annäherung der Zahl der neueren pastoralen Berufe (nun einschließlich der Ständigen Diakone) an die Anzahl der Priester. In manchen Diözesen ist das Verhältnis heute schon etwa 50 zu 50.

Die Zahl der Gottesdienstteilnehmer betrug im 1991 20,9%, 1999 16,6% und 2000 16,5%. Die Differenzen zwischen den Jahren 1999 und 2000 zeigen eine relativ kontinuierliche Entwicklung im beschriebenen Trend: Priester 17.370/17.129, Ständige Diakone 2.248/2.302, Gemeindereferenten 4.254/4.355, Pastoralreferenten 2.650/2.742. Die Steigerungsraten bei den neueren pastoralen Berufen betragen also 1999/2000 bei den Ständigen Diakonen 2,4%, bei den Gemeindereferenten 2,4% und bei den Pastoralreferenten 3,5%. Das Wachstum hat sich durch eine gewisse Sättigung, aber auch durch die erreichten finanziellen Grenzen verlangsamt, ist aber keineswegs gestoppt oder gar rückgängig, wie man öfter vermutet.

Diese Zahlen beziehen sich z.B. im Jahr 2000 auf ca. 27 Mio. Katholiken in 13.200 Pfarreien und Seelsorgestellen.

II. Skizze der Gesamtlage in zehn Thesen

Nackte Zahlen sagen noch nicht viel. Sie bedürfen der Interpretation. Thesenartig möchte ich folgende Interpretation versuchen:

Insgesamt haben wir auf der Bundesebene und wohl auch in den meisten Diözesen eine große Zahl von pastoral tätigen Hauptamtlichen, wie wir sie wahrscheinlich nie hatten, auch nicht in Zeiten einer sehr hohen Zahl priesterlicher Berufungen.

Diese Vielfalt der pastoralen Berufe brachte gewiss vereinzelt das Empfinden der Unübersichtlichkeit und des Verwischens des Profils vor allem des priesterlichen Dienstes, insgesamt muss man aber die Positiva hervorheben: Die Gemeinde ist trotz aller Vorrangstellung des Pfarrers nicht mehr nur auf einen Vertreter der Kirche ausgerichtet. In größeren Pfarrgemeinden gibt es mehrere Ansprechpartner, die insgesamt den Geschlechtern, den Lebensaltern und den individuellen Situationen besser gerecht werden können. Dies ist zweifellos für die Seelsorge ein Gewinn, zumal es dadurch auch möglich ist, dass viele Frauen unter den neuen pastoralen Berufen vertreten sind (bei den Gemeindereferentinnen sind es fast 75%; bei den Pastoralreferenten, wo die Männer dominieren, beinahe umgekehrt, nämlich nur etwas mehr als ein Drittel).

Wenn man die Zahl der aktiven Katholiken betrachtet, die weitgehend mit den Gottesdienstbesuchern zusammenfallen, ist die Anzahl der Hauptamtlichen im Verhältnis und in Proportionen zu einzelnen katholischen Christen, die auf die Seelsorge vor allem dieser Aktiven bezogen sind, sehr hoch. Man wird sich in Zukunft stärker fragen müssen, ob die Einsatzrichtung aller Hauptamtlichen nicht viel stärker auf die Mobilisierung der mehr passiven katholischen Christen und auf den Wiedergewinn vieler weitgehend Distanzierter und aus der Kirche Ausgetretener orientiert sein müssen. Die missionarische Pastoral hat noch wenig Echo gefunden in der Konzeption und Aufgabenbeschreibung kirchlicher Dienste und Ämter. Wir haben zu viel Versorgungsmentalität und zu wenig Offensivgeist.

Diese Vielfalt ist eine wirkliche Bereicherung der Pfarrgemeinden und Seelsorgeeinheiten. Es gibt auch Modelle der Gemeindeleitung, die trotz der Verschiedenheiten der einzelnen Berufe institutionell eine sehr enge Kooperation voraussetzen, wie z.B. can. 517,2 CIC. Diese Vielfalt, die durch eine differenzierte und zum Teil verschiedene Ausbildung verstärkt wird, erfordert jedoch eine Abstimmung der verschiedenen Dienste und Ämter untereinander und macht die Sorge um die Einheit der Sendung inmitten der verschiedenen Dienste dringlicher als bisher. Diese Aufgabe kann nur durch eine kooperative Pastoral und einen neuen Leitungsstil bewältigt werden.

Es bleibt die Verschiedenheit der Ämter und Dienste. Die Einheit von Diakon, Presbyter und Bischof in dem dreifach-einen Sakrament des Ordo hat unbeschadet einzelner wechselnder Zuordnungen und Abgrenzungen eine eigene Qualität. Sie ist insgesamt „göttlichen Rechtes". Diese Trias gilt durch die Zeiten hindurch in der ganzen Welt und weit über die katholische Kirche hinaus. Meines Erachtens sollte man auch den vieldeutigen Begriff „Amt" im engeren Sinne dafür verwenden und bei den anderen Berufen eher von „Diensten" sprechen. Es hat m.E. nicht viel Sinn, von einem Grundamt oder einem Uramt zu sprechen, das sich je nach Erfordernis in immer neue Formen ausgliedert. Dies ist weder historisch noch systematisch erfolgversprechend.

Es ist nicht zu übersehen, dass es heute besonders im deutschsprachigen Raum eine Ausgestaltung vieler anderer Berufe in der Gemeinde gibt, die eine Aufwertung ihres Status im spirituellen und auch theologischen Sinne erwarten und verlangen. Dabei sind nicht nur die offiziell eingeführten Dienste z.B. der Lektoren und der Kommunionhelfer gemeint, sondern auch die Verantwortlichen im Bereich des Gesangs und der Kirchenmusik. Es ist aber auch an den Dienst des Küsters zu denken. Geht man über den engeren seelsorglich-liturgischen Raum hinaus, stößt man auf die Religionslehrer und Katecheten (einschließlich der Schulpastoral), die am Ort tätig sind, alle in der Erwachsenenbildung und nicht zuletzt auch die Erzieherinnen im Kindergarten sowie – wenn vorhanden – alle in der Sozialarbeit tätigen Männer und Frauen. Ich denke aber auch an die Sozialstationen, Altenheime und Krankenhäuser. Im einzelnen Fall kommen auch Pfarrhaushälterinnen und in der kirchlichen Verwaltung Tätige (z.B. Pfarrsekretärinnen, Kirchenrechner etc.) in Betracht. Sie verlangen heute mit Recht auch eine theologische Bestimmung und Einschätzung ihres Dienstes. Sonst sind diese Dienste bei der wachsenden Professionalisierung aller Berufe in unserer Gesellschaft unbestimmt und letztlich wenig anziehend.

Von dieser in sich schon weitgespannten Gruppe hebt sich das ehrenamtliche Engagement ab. Es unterscheidet sich durch das Fehlen eines wie immer gearteten Anstellungsverhältnisses. Es drückt die Einsatzbereitschaft aller Christen für die Sendung zum Dienst am Evangelium aus und steht in engster Beziehung zum Christsein überhaupt. Daraus bilden sich die verschiedenen Räte auf den einzelnen Ebenen, vor allem für die Pastoral, das Zeugnis von Laien in Kirche und Gesellschaft (Laienapostolat) und für die Verwaltung. Es gilt aber erst recht für die vielen ehrenamtlichen Dienste, die auch heute immer noch und vielleicht sogar wieder verstärkt das Gesicht unserer Gemeinden prägen, angefangen von den Ministranten über Sammlerinnen für die Caritas, Mitarbeiter in der Jugendseelsorge und in der Seniorenarbeit, Besuchsdienste bis hin zu mehr verborgenen Diensten, wie z.B. die Reinigung und den Schmuck der Kirche. Oft merkt man erst den Wert dieser keineswegs selbstverständlichen Dienste, wenn man den Mangel erfährt. In diesem Zusammenhang sind auch die Vereine und Verbände zu nennen, die zwar eine größere Selbständigkeit innehaben (oft gemeindeübergreifend), die aber in nicht wenigen Fällen einzelne Aufgaben kontinuierlich in einer Gemeinde übernehmen, z.B. Präsenz in der Arbeitswelt, Senioren- und Frauenarbeit.

Nicht selten vergisst man in diesem Zusammenhang die Ordensgemeinschaften, die Säkularinstitute und die Geistlichen Bewegungen. In den meisten Fällen bleiben sie ihrer Struktur treu und lassen sich nicht einfach den Gemeindestrukturen gleichschalten, denn sie haben eine eigene Intention ihres Stifters bzw. ihrer Stifterin, dennoch übernehmen sie auch heute, abgesehen von der Mitarbeit in der Pastoral, viele pädagogische und soziale Dienste (z.B. Dienst am Kranken). In unserem Land sind dies z.Zt. immerhin ca. 32.000 Ordensfrauen und 5.500 Ordensmänner, schließlich ca. 3.000 Mitglieder in Säkularinstituten. Man darf diese Struktur im Leben der Kirche nicht unterschätzen. Nicht alles, was Kirche ist und Kirche tut, ist Gemeinde oder vollzieht sich nur im Raum der Gemeinde. Gerade hier kommen auch die Charismen zum Tragen. Aber in den meisten Lehrbüchern der Ekklesiologie haben die Orden, die Säkularinstitute und die Geistlichen Gemeinschaften keinen wirklich theologischen Platz, auch wenn sich manches verbessert hat.

Die große Zahl von Diensten und Ämtern darf nicht vergessen lassen, dass sie keinen Selbstzweck haben. Dies muss sich immer wieder vor allem in zwei Dimension bezeugen: Einmal sind alle Dienste und Ämter um der Mitteilung des Evangeliumswillen da. Wenn sie in sich selbst und um sich selbst kreisen, verfehlen sie ihre wirkliche Zielsetzung. Deshalb ist es auch gut, eine funktionale Betrachtung der Dienste und Ämter nicht gering zu schätzen, auch wenn wir keinem Funktionalismus und keiner Funktionärsmentalität erliegen dürfen. Im Bereich geistlicher und kirchlicher Berufe bedarf es immer einer Vermittlung des funktionalen und des personalen Prinzips.

Dienste und Ämter sind aber vor allem ganz auf die Mitchristen ohne Ämter und Dienste ausgerichtet. Die Männer und Frauen, die in ihrer Lebensform (Ehe, Familie, Ehelose aus verschiedenen Motiven) und in ihren Berufen, also im Alltag unseres Lebens, Zeugnis geben, sind die Erstadressaten aller Dienste und Ämter. Diese Mitchristen, die mitten in der Welt stehen, müssen für ihr Zeugnis befähigt werden. Um ihrer willen gibt es letztlich Dienste und Ämter. Aber der Blick richtet sich nicht nur auf die Mitglieder der Kirche, sondern unsere Dienste und Ämter müssen in einer fundamentalen Weise über die Grenzen der Kirche hinausreichen und haben eine elementare missionarische Dimension. Dies gilt heute mehr denn je.

Im Raum der Kirche gibt es heute nicht nur Kooperation im eigenen Bereich. Gerade die pastoralen Dienste und Ämter müssen die Fähigkeit entwickeln, auf ihrer Ebene qualifizierte Gesprächspartner mit den Mitchristen anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, Vertretern des jüdischen Glaubens und im interreligiösen Dialog sein. Dies bedeutet natürlich nicht, dass alle dafür eine ausdrückliche Befähigung erhalten, aber auch bei einfachen Diensten sind Wohlwollen und Hilfsbereitschaft über die eigenen Grenzen hinaus notwendig. Alle sind auf ihre Weise Botschafter des Glaubens.

III. Die Dienste und Ämter in ihrer Besonderheit und in ihrem Zusammenwirken

1. Einheit in Vielheit – Vielheit in Einheit

Nun kommt es darauf an, wie dieser immer reicher erscheinende Kosmos von Diensten und Ämtern sich ordnet. Gewiss dürfen wir für eine erste Beschreibung das uns in der nachkonziliaren Zeit besonders wichtig gewordene Stichwort „Einheit in Vielfalt" anwenden. Es zeigt zugleich die Spannung an, die hier immer wieder wahrgenommen, ausgetragen, ausgeglichen und damit auch ausgehalten werden muss. Es hat in diesem Zusammenhang auch wenig Sinn, entstehende Konflikte zu leugnen oder zu verdrängen. Christen erkennt man nicht daran, dass sie keine Konflikte haben, sondern daran wie sie diese lösen. Erst recht sollte dies für die Beziehungen zwischen den Berufen in der Kirche gelten. Sonst zerstören sie selbst die Glaubwürdigkeit ihres „Dienstes der Versöhnung" (vgl. 2 Kor 5,18).

Bei so vielen Diensten und Ämtern gibt es zweifellos immer wieder Probleme einer gemeinsamen Zielsetzung, der Kompetenzabgrenzungen und Versuche einer unangemessener Vorherrschaft über andere. Deshalb ist es auch heute wichtig, über dieses Verhalten selbstkritisch zu reflektieren und dies nicht bloß den Zufällen der jeweiligen persönlichen Spiritualität zu überlassen. Personalführung, Personalgespräche, Führungskollegs und Supervision haben darum hier für das gelingende Zusammenwirken eine wirkliche Bedeutung.

Aber dies genügt vor allem theologisch nicht. Man wird die Formel „Einheit in Vielheit – Vielheit in Einheit" vor allem im Sinn einer Communio-Ekklesiologie anwenden. Nun ist „Communio" leider ein inflationäres, schon schrecklich verbrauchtes Schlagwort geworden. Dennoch ist es nach wie vor unentbehrlich, diese Kategorie mit der erwähnten Struktur in eine enge Verbindung zu bringen. Communio besagt ein Kirchenverständnis, in dem die Vielfalt ihr Recht bekommt, ohne dass die Einheit darunter ungebührlich leidet. Es werden nicht sofort Ränge und Vorränge, Unter- und Überordnungen herausgestellt. Aber es darf auch nicht zu einer unverbindlichen, gleichgültigen Verschiedenheit kommen, bei der jeder sich als einzigartig und besonders wichtig vorkommt. Wo Einzigartigkeit ist, muss man sie immer wieder in das Ganze einbringen, was ohne Zurücktreten und Verzicht, letztlich auch ohne Opfer nicht möglich ist. Die Einheit darf jedoch auch nicht uniformistisch sein und den Einzelnen – seien es Personen, Kulturen und Nationen – erdrücken. Einheit darf kein Prokrustesbett werden, in das jeder mit einem gleichmacherischen Maß hineingezwängt wird. In einer Gemeinschaft, die nach dem Prinzip „Communio" strukturiert ist, gibt es immer wieder das spannungsvolle Bemühen, vielfältige Begabungen, Erfahrungen und Kompetenzen zuzulassen. Einzelne Dienste können gewiss ihre Funktion im Ganzen überschätzen. Dieses lässt sich nicht einfach nur von außen regulieren. Alle müssen einsehen, dass sie an einer Sache teilnehmen und erhalten ihre Kompetenz und ihre Anerkennung durch ihren spezifischen Beitrag, also ohne Allzuständigkeit und Alleinzuständigkeit. Es ist schwer, das Gleichgewicht zwischen legitimer Verschiedenheit und notwendiger Einheit zu bewahren und immer wiederzugewinnen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dies auch in dem knappen Satz des Dekretes über das Apostolat der Laien zusammengefasst: „Es besteht in der Kirche eine Verschiedenheit des Dienstes (diversitas ministerii), aber eine Einheit der Sendung (unitas missionis)." (Art. 2) Dies ist ein weiser Satz: Die Verschiedenheit legt sich nahe und steht als primäre Gegebenheit am Anfang. Einheit jedoch muss gewiss immer wieder neu errungen werden. Sie ist nicht immer in den handelnden Personen oder in verfügbaren Strukturen zu finden. Aber wenn wir auf die Sendung schauen, die über uns hinausreicht, dann können wir auch jenseits unserer Bedürfnisse und Interessen eine tiefere Einheit finden. Mission kann disziplinieren, vielleicht mehr als vieles andere. Communio und Missio gehören eng zusammen. Ja, sie sind vielleicht die beiden dichtesten Schlüsselworte, die die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils ausmachen, wie vor allem die Außerordentliche Bischofssynode 1985 – 20 Jahre nach Konzilsende – formuliert hat.

2. Rückgriff auf das gemeinsame Priestertum des Gottesvolkes

Es bedarf aber wohl noch tieferer Strukturen, um die Einheit in Vielheit, die Vielheit in Einheit und die Verschiedenheit des Dienstes in der Einheit der Sendung wirksam und überzeugend zu retten. Ein wichtiges Element, das bisher öfter übersehen worden ist, scheint mir die Art und Weise zu sein, wie man von der Verschiedenheit der Dienste spricht. Wir haben bisher vielleicht zu sehr von den Unterschieden, weniger z.B. von der Einheit der Sendung gehandelt. Es gibt auch eine Gemeinsamkeit an der Basis. Damit ist das Verhältnis von gemeinsamem Priestertum und Priestertum des Dienstes angesprochen. Man sollte sich nicht sofort und ausschließlich auf den Unterschied allein fixieren und in dem berühmten Satz aus der Kirchenkonstitution „Lumen gentium" (Art. 10) kommt es auch, nicht wie die deutsche Übersetzung nahe legen könnte, zuerst auf diesen Unterschied, sondern auf die Gemeinsamkeit an, wie im Lateinischen sofort erkennbar wird. Der Unterschied kommt also innerhalb der fundamentalen Gemeinsamkeit zum Ansatz: Sendung und Dienst sind aufgrund der Erwählung durch Gott in Taufe und Glaube allen Christen aufgetragen, die zusammen das königliche, priesterliche Volk bilden, das berufen ist, die Großtaten Gottes zu verkünden (vgl. 1 Petr 2,5.9). Darum ist die ganze Kirche der wahre und primäre Träger der kirchlichen Heilssendung. Jeder einzelne Amtsträger – ob Papst, Bischof oder Priester – kann unter Wahrung seiner jeweiligen Vollmachten nur in Gemeinschaft mit dem Ganzen und in dessen Dienst wirksam werden. Darum betonen wir heute mit Recht die fundamentale Würde des Christennamens und die gegenseitige Ergänzung und Zuordnung der Charismen in der Gemeinde. Das Neue Testament leitet jedoch nirgends vom gemeinsamen Priestertum des Gottesvolkes die Existenz oder den Auftrag von Amtsträgern ab. Diese Aussagen gehen in eine andere Richtung als die Zeugnisse über das Amt: Alle Christen sollen sich Gott mit ihren Gaben leibhaftig zur Verfügung stellen, immer wieder ihr seit der Taufe durch den Geist Gottes erhelltes Denken erneuern, sich wandeln und den Willen Gottes erfüllen, ohne sich den bestehenden Mächten dieser Welt anzugleichen. Im gottesdienstlichen Lob, in der tätigen Bewährung der Liebe, im Leiden und im vielfältigen Lebenszeugnis der Christen realisiert sich das Priestertum des Gottesvolkes (vgl. Röm 12,1ff). Diese Texte erinnern die Glaubenden an die allen gemeinsame und jedem Einzelnen eigene Lebensaufgabe in Kirche und Welt.

Diese Aussagen gelten ausnahmslos und uneingeschränkt auch für das geistliche Amt. Es darf unter keinen Umständen verdunkelt werden, dass der Amtsträger zuerst ganz und gar Christ sein muss und darum selbst inmitten der Gemeinde ist, nicht einfach bloß über ihr. Der Amtsträger steht nicht nur der Gemeinde gegenüber, sondern lebt in ihr – was bei der Begleitung mehrerer Gemeinden ein zusätzliches Problem darstellt. Dies hat erhebliche Konsequenzen. Man merkt sehr wohl, ob der Pfarrer sich auch seiner Fehlbarkeit und Sünde bewusst ist und ob der Bischof nur anderen predigt oder zuerst sich selbst. Es ist für das geistliche Selbstverständnis von großer Bedeutung, dass keine Weihe und keine noch so hohe Beauftragung verhindern können, dass der Amtsträger auf der Seite der Glaubenden, der Hörenden und auch der Sünder steht.

So wird auch verständlich, warum das geistliche Amt nicht einfach in einer Verlängerung des gemeinsamen Priestertums gesucht werden kann. Dieses ist in der Schrift im übrigen auch gar nicht in erster Linie individuell verstanden, sondern zielt zuerst auf das Volk Gottes in seiner Gesamtheit. Das geistliche Amt stellt zwar seinen Träger unter das Maß des Evangeliums, aber es besteht seinem Wesen nach nicht in einer Steigerung und Intensivierung des Christseins. Das „Amt" ist bei den biblischen Texten des gemeinsamen Priestertums gar nicht direkt im Blick, so dass man von ihnen her auch nicht gegen es argumentieren kann. Es scheint mir jedoch für jede Rede vom Amt wichtig zu sein, dass man spürt: Jeder Amtsträger und jeder, der einen Dienst in der Kirche ausübt, gehört zunächst radikal gleichsam zum Fußvolk Gottes und wird eines Tages nicht nach seinen Ämtern und Titeln, sondern nach dem gefragt, wie er gerade auch in seinem Dienst und Amt als Christ gelebt hat. Dies scheint mir sehr erheblich die Gemeinsamkeit der Ämter und Dienste in der Kirche zu vertiefen.

3. Christologische Fundierung des Amtes

Hier kann aber auch rasch ein Missverständnis die Oberhand gewinnen, nämlich die Meinung, man müsse das Amt und die Dienste theologisch primär an die Ekklesiologie binden. Der Ansatz bei der Kirche ist wichtig und theologisch vielleicht bis heute zu wenig gesehen. Aber die Ekklesiologie kann das Amt und die Dienste nicht einfach schon von sich aus begründen oder gar absorbieren. Dies wird besonders beim Amt erkennbar. Dieses hat nämlich eine bleibende innere und äußere Herkunft von Jesus Christus her und bezeugt dies auch in der „inneren Form". Auch hier behält die Christologie ihren Primat vor der Ekklesiologie. Darum muss der Amtsträger zuerst auch ganz frei werden für Jesus Christus. Er soll gegenwärtig werden. Jeder Amtsträger ist nur Platzhalter, ist „Vikar" und nie „Chef". Dadurch verbieten sich Tendenzen zu bloßer Selbstbehauptung und erst recht zur Selbstgefälligkeit. Jetzt ist auch verständlich, dass vor allem das Zweite Vatikanische Konzil und die folgenden nachkonziliaren Texte das Wesen des geistlichen Amtes darin begründen, dass es „im Namen Jesu Christi", in „persona Christi" handelt, also in seiner Vollmacht und an seiner Stelle. Diese christokratische Begründung des Amtes hat den Vorrang vor allem anderen.

Dies bringt eine sehr hohe und zugleich gefahrvolle, prekäre Situation. Diese Armut des Amtes ist zugleich sein verborgener Reichtum. Der Amtsträger spricht nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern im Namen eines Anderen. Deshalb sagt auch die theologische Überlieferung, besonders im Anschluss an Augustinus, dass Jesus Christus selbst es ist, der predigt und Eucharistie mit uns feiert (vgl. SC 7). Dies hat aber eine große Nähe zwischen Jesus Christus und dem Amtsträger zur Folge, wenn er bevollmächtigt wird zum Sprechen und Handeln im Namen Jesu Christi: „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verwirft, der verwirft mich" (Lk 10,16). Dies ist der letzte theologische und spirituelle Grund des Amtes. Zugleich wird aber auch die Gefahr einer inneren Perversion dieses Auftrages sichtbar, wenn der Amtsträger wegen dieser dichten Repräsentation Jesu Christi sich offen oder insgeheim an die Stelle Jesu Christi setzt und bei aller engsten Zusammengehörigkeit zu wenig unterscheidet zwischen dieser Bevollmächtigung und dem bleibenden Abstand zu ihm als dem Herrn. Wer sich selbst an die Stelle Jesu Christi schiebt, verletzt zutiefst seinen Auftrag, auch wenn dies das amtliche Tun noch nicht einfachhin ungültig macht. Dieses gut biblisch begründete Motiv von der Gültigkeit amtlicher Handlungen unabhängig vom Stand der Heiligkeit oder Sündigkeit des Amtsträgers, die vor allem im Streit gegen den Donatismus festgehalten worden ist, nicht zuletzt von Augustinus, und besonders auch in der Lehre vom „character indelebilis" Gemeingut der kirchlichen Lehre vom Amt geblieben ist, darf jedoch nicht dazu führen, dass man amtliches Tun und persönliche Heiligkeit, die sich gegenseitig fordern, zu sehr auseinanderreißt. Hans Urs v. Balthasar hat schon früh und immer wieder diese Spaltung beklagt. Das Amt im christlichen Sinne ist überhaupt nicht denkbar, wenn man sich nicht stets daran erinnert, dass zu jedem Amtsträger die hohe Bereitschaft gehört, sich selbst ganz und gar vom Evangelium in Anspruch nehmen zu lassen.

Diese christologische Fundierung des Amtes hat natürlich manches gemeinsam mit dem Christsein und darum auch mit den Anforderungen an alle Dienste. Aber die Bevollmächtigung zum Dienst im Namen Jesu Christi geschieht in dieser Form nicht bei den Diensten. Hier gibt es zwar mit Recht eine Sendung, aber keine sakramental verbürgte Ordination. Dieser Unterschied darf – auch liturgisch – nicht eingeebnet werden. Darüber kann ich jedoch hier nicht mehr ausführlicher sprechen, ebenso wenig über die einzelnen Dimensionen des amtlichen Dienstes (Verkündigung des Evangeliums, Leitung als Sammlung und Einigung auf Jesus Christus hin, Vorsitz bei der Eucharistiefeier, Dienst der Versöhnung, Verantwortung für den diakonisch caritativen Dienst). Gerade dadurch aber wird wiederum die Einheit mit den anderen Diensten und mit dem ganzen Gottesvolk nahegelegt.

IV. Das Zusammenspiel von Charismen, Diensten und Ämtern und seine Kriterien

1. Effizienz und Nutzen

Es bedarf eines umfassenden Ganzen, von dem her alles geordnet wird. Es gibt ja keine vollkommene Selbstregulierung oder eine prästabilisierte Harmonie. Auch ein Ausgleich allein der Bedürfnisse und Interessen genügt nicht. Es kann auch nicht um die perfekte Organisation des Ineinandergreifens nur aller „Funktionen" gehen. Die Pluralität wird gleichsam immer vor die Frage gestellt, ob sie denn diesem Ganzen auch wirklich diente. Die Vielfalt hat jedoch einen guten Sinn und auch ihre innere Berechtigung, wenn sie die Entfaltung des Ganzen fördert. Es bedarf also eines Kriteriums oder der Kriterien, denen sich alle unterordnen. Bisher haben wir vor allem in der Einheit der Sendung dieses Kriterium erblickt. Es lässt sich jedoch noch vertiefen.

Wir fragen bei allen Diensten und Ämtern, gerade auch bei der Verschiedenheit ihrer Ausrichtung, nach ihrer Wirksamkeit. Nun darf man dies nicht oberflächlich verstehen im Sinne von nackter „Effizienz", die man quantitativ und statistisch festhalten kann. Es geht aber auch nicht um die eigene Vervollkommnung allein oder um den „Nutzen" für sich selbst. Heute wird der Dienst oft zu eng und zu nah zusammengebracht mit diesem „Nutzen" für einen selbst. Daraus kann man gewiss etwas lernen. Denn in der Vergangenheit haben wir vielleicht zu wenig gefragt, ob der konkrete Dienst auch dem einzelnen Amtsträger – gewöhnlich durch Arbeit und Entbehrung hindurch – gut tut. Eine solche Fragestellung ist durchaus legitim. Pure Selbstlosigkeit weckt auch Zweifel, ob es denn wirklich mindestens auf die Dauer dem Einzelnen zum Guten gereicht, wenn er immer völlig von sich absieht. Aber dennoch bleibt es dabei, dass das gesuchte Kriterium nicht der Nutzen und die Vervollkommnung des Einzelnen bleiben kann.

2. Das Beispiel der paulinischen Charismenlisten

An dieser Stelle kommt eine Überlegung mit ins Spiel, die wir dem Apostel Paulus verdanken. Ich bin nämlich der Meinung, dass die Verhältnisbestimmung der Dienste und Ämter im Verständnis der Charismen ein gewisses Grundmodell findet. Damit ist nicht gemeint, dass die Ämter und Dienste alle nur und bloß Charismen sind, die gleichartig und gleichwertig nebeneinander stehen. Wir können in den Charismenlisten keine Systematik, Wertung oder gar Hierarchie erkennen. Viele Fähigkeiten kommen zur Darstellung: Formen der Lehre und Deutung; Aspekte praktischer Hilfe: Unterstützung, bereitwilliges Geben, Ausüben von Barmherzigkeit; Gemeindeleitungsfunktionen stehen neben Prophetie und Glossolalie; Sachaufgaben rücken neben Personenbezeichnungen; manchmal erscheint ein spezifischer Trägerkreis für die Dienste, manchmal auch nicht (vgl. 1 Kor 12,8-10; 28-30; Röm 12,6-8).

Wenn die Charismenlisten offengelassen werden, darf man sich – vor allem auch im Gang der Geschichte – auch weitere Ämter und Dienstleistungen hinzudenken. Immer handelt es sich jedenfalls um ganz bestimmte Gaben und begrenzte Aufgaben.

Nicht jeder ist für alles zuständig. Nicht jeder hat bei allem mitzuentscheiden. Aber jeder und jede hat eine ganz bestimmte und begrenzte Gabe und Aufgabe. Manche überlagern sich auch. Sicher haben die Verkündigungsdienste, die das Evangelium auslegen und weitergeben, einen gewissen Vorrang. Der unterschiedliche Kontext verweist auf ein gemeinsames Element des Charisma-Begriffs, wie ihn nun Paulus wohl zum ersten Mal entschieden theologisch verwendet: Das Besondere des einzelnen Charismas wird geformt aus dem Fundus des Kirchlich-Allgemeinen. Dieses Besondere ist aber aus dem Allgemeinen nicht einfach ableitbar. Es gibt keine Herleitung im Sinne einer Reduktion, aber auch keine nach praktischen Gesichtspunkten. Die Kirche kann die Charismen nicht selbst nach ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Bedürfnissen schaffen. Sie kann die jeweils notwendigen Aufträge nicht einfach aus ihrem Schoß produzieren oder gleichsam bei Gott bestellen. Das Charisma ist im strengen Sinn eine Gabe Gottes, die es freilich mit den Augen des Glaubens erst zu entdecken und wahrzunehmen gilt. Die Kirche muss sich die Charismen schenken lassen. Und darum müssen wir uns vor einem Automatismus hüten, der in den von uns postulierten und produzierten Ämtern und Diensten sofort auch Charismen im theologischen Sinne erblickt. Ob ein solches Phänomen tatsächlich ein Charisma ist und sich als solches bewährt, das wird erst in der Unterscheidung der Geister offenkundig, von denen noch gleich die Rede sein wird.

Die Offenheit der Aufzählung der Charismen ist noch hintergründiger. Paulus möchte nämlich nicht bestimmte Kriterien, z.B. des Ansehens und der Bekanntheit, zu Wertmaßstäben über die Gültigkeit und den Rang von Charismen erheben. Er anerkennt bestimmte Gaben. Aber er relativiert sie auch dadurch, dass er alle Gläubigen als Gnadengaben Gottes betrachtet. 1 Kor 7,7 betont ausdrücklich, dass jeder sein eigenes Charisma hat, der eine dies, der andere das. Jeder kann ein Charisma haben, auch wenn dieses sich unscheinbar in der Alltäglichkeit des Lebens verzehrt. Und die Auszeichnung gerade dieser verborgenen Gaben des Geistes korrigiert jede Überheblichkeit herausragender Charismen. Das Wunderbare und Außergewöhnliche der Charismen, was für uns oft im Vordergrund des Wortes steckt, wird grundlegend relativiert. Es ist darum auch fragwürdig, wenn die Theologie über Jahrhunderte von „großen" und „kleinen" Charismen geredet hat.

Die Offenheit des Charisma-Begriffs und der Charismen-Listen ist von einer fundamentalen theologischen Bedeutung. Man gewinnt den Eindruck, dass Paulus bewusst den Eindruck einer Fülle von geistgewirkter Lebensäußerung in den Gemeinden erzeugen möchte, einerseits als Hinweis einer Realität, aber zugleich auch als ein Aufmerksam-Machen, dass da vielleicht Prozesse im Gang sind, die noch gar nicht abgeschlossen sind, die erst zukünftig voll in Erscheinung treten und die wir ständig beobachten müssen. Es gehört grundlegend zum Charisma-Verständnis, dass es die einmalige Berufung des einzelnen Christen hervorhebt. Als solcher bleibt er zwar dienendes Glied am Ganzen der Kirche, aber man darf die unverwechselbare Individualität nicht unterschlagen, welche den Reichtum der Fülle entfaltet. Charismen sind keine ausgestanzten und vervielfältigten Schablonen eines allgemeinen Wesens, sondern sie zeugen von dem geschichtlich konkreten Ruf Gottes, für den jeder einzelne ein Original ist, keine reproduzierte Kopie. Auch wenn das Charisma dem Ganzen dienen muss, so darf es in dieser von Gott geschaffenen Einmaligkeit nicht verschwinden. Genau dies aber ist der kritische Punkt im Verständnis von Charisma: Die einmalige Gabe kann sich in ihrer Unverwechselbarkeit emporheben und aufspreizen. Sie kann sich auf sich allein zurückwenden und versuchen, die Schönheit ihrer Gestalt als eigenen Glanz zum Leuchten zu bringen. Dann sind wir rasch bei den korinthischen Missverständnissen. Charismen als Selbstzweck, gleichsam als Privatauszeichnung, gibt es für Paulus nicht. Jedes Charisma verpflichtet zu aktivem Einsatz im Dienst der Gemeinde. Das Moment des Außerordentlichen, Aufsehenerregenden drängt er eher zurück. Das Charisma ist kein fester Besitz, sondern von Grund auf Gabe und Geschenk.

3. Jede Gabe des Geistes als Einheit des je Besonderen und des Allgemeinen

Das wahre Charisma verleugnet nicht diese einmalige Berufung, aber es verdankt sich bleibend der Fülle, die aus Jesus Christus kommt, und das einzelne Charisma ist nur deren Entfaltung. Das Charisma ist nur dann in seiner Einmaligkeit ganz wahr, wenn es den Mut hat, sein Privileg demütig in das Ganze der Kirche zurückzustellen. Die theologische Spitze des authentischen Charisma-Begriffs liegt darin, dass er die Einheit des je Besonderen und des Allgemeinen ist. Um es gleich vorweg zu sagen: Für diese denkwürdige Einheit gibt es zwar Vorstufen und Analogien im menschlichen Leben, aber kein zureichendes Modell. Es ist nämlich letztlich das Unvergleichliche des Heiligen Geistes, das Pneuma, dass etwas zugleich das Allgemeinste und das Konkreteste ist. Dies übersteigt jede Anthropologie.

Einem jeden von uns ist die Gnade nach dem Maße verliehen, in dem Jesus Christus sie ausgeteilt hat. Gnade heißt hier griechisch „Charis", ganz nahe bei Charisma. Das Charisma erstreckt sich bis zu den unscheinbarsten, anscheinend ganz natürlichen Dienstleistungen und Aufträgen. Selbst wenn ein nach außen hin sehr natürliches Talent oder eine fast wunderbare Neigung erscheinen, die ihre Begabung für die Sache des Herrn und der Kirche einsetzen, handelt es sich um eine Gabe Gottes. Immer ist ein ganz bestimmtes, einmaliges Maß mitgeteilt, oder wie die Schrift genauer sagt: Die jeweiligen Gaben werden im strengen Sinne zugeteilt. Dies hat eine wichtige Konsequenz: Keiner hat die ganze Gabe des Geistes in ihrer Fülle. Niemand ist schlechthin autark. Charisma bedeutet nicht unbegrenzte Selbstentfaltung, es ist immer eine sehr konkrete Aufgabenstellung. Jedes Charisma muss sich darum in das Spannungsfeld zwischen und Teil und Ziel, bestimmtem Maß und umfassender Fülle einordnen. Von Hause aus ist ihm, wenn es seinem Wesen treu bleibt, eine dynamische Ausrichtung auf das Ganze zu eigen. Darum lebt das wirkliche Charisma von der Einsicht in seine grundlegende Ergänzungsbedürftigkeit und vom Austausch der Gaben untereinander. Das muss man immer wieder für sich selbst festhalten: diese einmalige personale Berufung und die elementare Notwendigkeit der Ergänzung und des Austauschs der Gaben untereinander. Insofern ist es nicht zufällig, dass das Wort Dienstleistungen, „diakoniae", ein austauschbares Wort in der Schrift für Charisma ist. Es korrigiert zugleich die drohende Tendenz eines selbstgenügsamen Sich-abschließens. Und darin liegt auch begründet, warum es für Paulus von vornherein keine Lösung geben kann, welche die Einheit oder die Vielheit der Ämter und Dienste einseitig begünstigt. Es gibt nicht die autokratische Alleinherrschaft nur eines Charismas, das alle Kompetenzen und Fähigkeiten an sich zieht und aufsaugt, aber auch nicht die ungehemmte Pluralität, in der jeder nur seiner Neigung nachgeht und buchstäblich dem Eigensinn huldigt. Es gibt nur Einheit in Verschiedenheit und Vielfalt in Einheit. Beides lässt sich nur durch eine Ausrichtung auf das Ganze und die gegenseitige Fürsorge der Glieder untereinander zu einem stetigen Ausgleich bringen. Immer wieder formuliert Paulus in eindrucksvoller Weise dialektisch diese Zuordnung, so in 1 Kor 12 und in Römer 12. Eine solche „Ordnung" ist nicht einfachhin vorgegeben, sie ist auch nicht „natürlich". Sie kann zu dramatischen, scheinbar unlöslichen, inneren, geradezu tragischen Konflikten führen. Das subtile Gleichgewicht kann empfindlich gestört werden. Es gibt keine festen Garantien für ein Funktionieren. Es handelt sich um eine geistgewirkte „Ordnung". Die Mitte dieses ganzen Geschehens ist die Integration aller unverwechselbaren, einmaligen Berufungen in der Person und im Lebenswerk Jesu Christi, in dem zunächst jede sündhaft-egoistische „Besonderung" aufgehoben wird, um sich dann aus ihm und in ihm nach seinem Geist neu zu entfalten. Darum gehört zu jedem Charisma Sendung und Auftrag. Gerade in der einmaligen Berufung ist auch Sendung und Auftrag mit enthalten.

4. Das Leitbild der Glieder am Leib

Paulus denkt praktisch und bringt das soeben Gesagte in einem Bild zur konkreten Anschauung. Er vergleicht in 1 Kor 12 das Wirken der einzelnen Christen in der Gemeinde mit dem Zusammenspiel der Glieder am Körper im Gesamt des Leibes. Auch hier kann sich kein Glied verselbständigen. „Wären alle zusammen nur ein Glied, wo bliebe dann der Leib? So aber gibt es viele Glieder und doch nur einen Leib. Das Auge kann nicht zu der Hand sagen: Ich bin nicht auf dich angewiesen. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht." (1 Kor 12,19-21)

Der Leib des Herrn am Kreuz, die Kirche als der Leib Christi und Leib Christi als Eucharistie – diese dreifache Bedeutung sieht Paulus hinter „Leib Christi" –, dies ist immer wieder bei Paulus ein Zusammenspiel. Erst auf diesem vollen Hintergrund wird das von Paulus angedeutete Modell seine ganze Bedeutungskraft entfalten können. „Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm." (1 Kor 12,27) Nur vom Kirchesein her nach dem Maß Jesu Christi und dem Leben mit der Eucharistie gibt es geistliche Einheit und Vielfalt der Dienste und Ämter in der Kirche.

Dies ist ein Leitbild für uns. Diese anspruchsvolle gegenseitige Ergänzung erscheint geradezu utopisch. Zwar wird eine Gleichheit aller Gaben gefordert, aber das Herausbilden unterschiedlicher Verantwortlichkeiten ist zugleich unübersehbar. Auf die latenten Konflikte wurde bereits hingewiesen. Paulus kümmert sich nicht um diese Zweifel, sondern er entwirft aufmunternd, freilich auch ermahnend, ein konkretes, gewiss auch bewusst ideal entworfenes Bild vom Zusammenwirken der Geistesgaben in Einheit und Vielfalt. Wenn man seine ganz gewiss situationsbezogenen Ausführungen in einer lockeren Systematik zu ordnen versucht, dann kann man auch eine ganze Reihe von Kriterien finden, die eine Unterscheidung der Geister ermöglichen, in dieser Ergänzung und in diesem Zusammenwirken. Dazu gehören der Ursprung im Geist Gottes und das christologische Bekenntnis als Fundament. Alle Dienste und Ämter der Kirche haben ihr grundlegendes Maß am Credo der Kirche. Ich kann dies jedoch in diesem Zusammenhang nicht im einzelnen entfalten, zumal es anderer Stelle öfter geschehen ist (vgl. K. Lehmann, Die Zukunft der Seelsorge in den Gemeinden = Mainzer Perspektiven. Wort des Bischofs 1, Mainz 1995, 50ff.).

5. „Auferbauung" als Kriterium

Ein wichtiges Kriterium des Wirkens der Gaben Gottes ist für Paulus der „Aufbau" der Gemeinde. Die Gemeinde, so ein bei Paulus stark verbreitetes Bild, ist Gottes Bau (1 Kor 3,9). Gott schafft letztlich das lebendige Gefüge in der Kirche, und dies geschieht nicht ohne diejenigen, die das Fundament legen und darauf weiter bauen. Für Paulus ist dies zunächst die Aufgabe des Apostels, der seinen Auftrag für diese Tätigkeit vom Herrn empfängt (vgl. 2 Kor 10,8; 13,10; 12,19). Auferbauung ist ein Bild für Gründung, Bewahrung und Förderung der christlichen Gemeinde. Dieses Wort ist bei uns natürlich durch die Sprache der Erbaulichkeit kaum noch in unserem Zusammenhang direkt verwendbar; wir müssen vom Wort „Bau" her kommen und vom Bild des Baus her diesen Begriff vom „Aufbau" neu durchdenken. Dann hat schließlich auch Erbaulichkeit damit etwas zu tun. Auferbauung ist, wie gesagt, ein Bild der Gründung, Bewahrung und Förderung der christlichen Gemeinde. Dies ist das entscheidende Kriterium, das auch alle Charismen, Dienste und Ämter in der Kirche leiten muss. Die Auferbauung der Kirche ist die zentrale Korrektur für alle Tendenzen, die sich absondern, nur ihren eigenen Wegen nachgehen oder sich gar aufblähen. Das entscheidende Kriterium ist, ob man beiträgt zum Aufbau, zum konstruktiven Aufbau der Gemeinde. Nicht dass ein Charisma da ist, nicht dass es sich darstellt, dass es sich aufspreizt, dass es auffällig wird und dass es von sich reden macht ist von Bedeutung, sondern ob es wirklich konstruktiv beiträgt zum Leben der Gemeinde, auch auf eine verborgene Weise. Dieses Kriterium bringt Egozentrisches, Sich-selbst-Produzieren und jeden um sich kreisenden Individualismus in eine Krise, weil alle Charismen auf ihren konstruktiven Beitrag für alle hin geordnet werden. Auferbauung der Gemeinde ist darum die umfassendste pastorale Kategorie für alle Dienste und Ämter. Das ist genauso ein entscheidendes Element im Leitbild für uns alle wie die gegenseitige Ergänzung. Auferbauung der Gemeinde, dies ist die fundamentale Erbaulichkeit, ein Wort, das vor allem in der Neuzeit extrem individualisiert, privatisiert und internalisiert wurde, ganz zu Unrecht. Dabei hat der Einzelne zunächst die Initiative. Jeder muss sein eigenes Werk prüfen. Kein Charisma ist von dieser grundsätzlichen Aufforderung ausgenommen. „Einer richte den anderen auf, wie ihr es schon tut" heißt es in 1 Thess 5,11. Alles muss überprüft werden, ob es wirklich oder nur vermeintlich erbaut. Nicht alles, was erlaubt ist, hat auch schon konstruktiven, aufbauenden Charakter. Leicht kann einer unter vielen Vorwänden, bewussten und weniger bewussten, eine Auferbauung der Gemeinde im Sinne haben, vielleicht oder oft sogar guten Glaubens, die in Wirklichkeit gar keine ist. Paulus: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf." (1 Kor 10-23) Man kann in diesem grundlegenden Sinn in der Auferbauung der Gemeinde den „Nutzen" eines Dienstes und eine Aufgabe sehen. Pausenlos misst Paulus die Dienste und Gaben der Kirche daran allein, siebenmal kommt dieses Wort allein in 1 Kor 14 vor. Die Auferbauung der Gemeinde ist das Mittel, durch das die Gemeinschaft der Gläubigen das Ziel erreichen soll. Die Gemeinde ist also nicht einfach eine fertige Größe, vielmehr wird sie in einem zielgerichteten Prozess der eschatologischen Vollendung in der Liebe entgegengehen. Darin spiegelt sich auch das Verhältnis von Kirche und Reich Gottes.

Paulus ist unerbittlich, wenn es um Grenzziehungen gegenüber individualistischen Bestrebungen in der Gemeinde geht. Die Behandlung der Zungenrede in 1 Kor 14 ist nur ein Beispiel dafür, fast unbarmherzig wirkt er da. Es gibt solche Gaben in der Kirche, es kann sie mindestens geben. Aber je extravaganter eine Gabe ist, umso mehr muss sie auf ihre Auferbauung hin geprüft werden. Es handelt sich dabei nicht um ein Pochen auf einen vordergründigen „Nutzen" jeglicher Aktivität oder gar auf einen pastoralen Utilitarismus. Das innerste Motiv allen Wirkens ist die Dienstgesinnung nach dem Maß Jesu Christi, der nicht gekommen ist, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen. Dies gilt gerade für alle Formen der Ausübung von Autorität, die nie in Weisen der Anmaßung und Omnipotenz ergehen darf, sondern ihr eigenes Maß in der stetigen Bindung an Jesus Christus hat. Dies bezieht sich nicht nur auf das Bekenntnis zu Jesus Christus, sondern zeigt sich auch in der Form und Gestalt allen Tuns: Die Person tritt hinter dem Auftrag zurück, sie verleugnet sich gleichsam zu Gunsten der Sache. Auch wenn es Abstufungen in der Autoritätsausübung gibt, so ist das gemeinsame Arbeiten am selben Werk in gegenseitiger Ergänzung das unersetzliche Fundament. Umgekehrt steht Autorität nicht einfach im Gegensatz zu Dienst, aber dies gilt nur, wenn das Amt auch eine Dienstgestalt hat. Auferbauung und Dienst sind die beiden ergänzenden Kriterien für jedes pastorale Tun.

6. Die Liebe als allerletzte Norm

Die Kriterien werden zusammengefasst in der Liebe. Sie ist das letzte Maß der Auferbauung und des Dienstes. Viele Charismen können erst in der Feuerprobe uneigennütziger Liebe erweisen, ob sie wirklich nützlich und aufbauend, konstruktiv sind. Ja, die praktische Ideologiekritik bei Paulus geht so weit, dass nur die Liebe die Charismen zu Gaben der Gnade macht: „Doch die Erkenntnis macht hochmütig, die Liebe dagegen baut auf." (1 Kor 8,1) Die Liebe ist dabei nicht nur die Motivation für das Tun, sie ist vielmehr jene Kraft, die alles trägt und von der aus auch alles relativiert wird. Wo die Liebe fehlt, nützen daher alle Dienste und Ämter, alle Charismen und Gaben nichts mehr. Zungenrede und Prophetie sind bloß noch „tönendes Erz und klingende Schelle" (1 Kor 13,1), wir würden heute sagen: geschäftiger Apparat und seelenloser Betrieb.

Die Liebe ist auch darum die letzte Norm, weil alle Dienste und Ämter vorläufig sind. Sie erweisen ihre wahre Nützlichkeit nur dann, wenn sie etwas beigetragen haben zur Liebe, die ja nach 1 Kor 13,13 als einziges bleibt: „Es bleibt nur die Liebe." Von der Liebe her werden darum alle anderen Kriterien geläutert und gereinigt. Dies gilt sogar für das Charisma der Nächstenliebe, die von ihr auf letzte Echtheit durchleuchtet wird. „Der Mensch gibt sich und sein Gut ja manchmal hin, um der Liebe zu entgehen. Aber auch Heroismus ist nicht ohne Liebe. Das ist ein äußerst kritischer Satz gegen jede kirchliche oder weltliche soziale Unternehmung und gegen jeden kirchlichen oder weltlichen Confessor. Er nötigt alles Tun und erst recht jede Proklamation solchen Tuns, selbstkritisch zu sein bis ins Letzte. Die Maßstäbe des Apostels sind andere als die unseren. Nicht mehr Genialität, Ergriffenheit, Heroismus der Hingabe, nicht mehr Enthusiasmus und Charismatikertum entscheiden, ob Wirkliches geschieht und die Kirche erbaut wird, sondern dies, dass einer den verborgenen, überschwenglichen Weg der Liebe geht."( H. Schlier, Nun aber bleiben diese Drei. Grundriss des christlichen Lebensvollzuges, Einsiedeln 1971, 84f.) Die Aussage in 1 Kor 13,3 bleibt einem in den Knochen stecken: „Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, aber die Liebe nicht hätte, nützte es mir nichts", geschieht keine Auferbauung. Kein Amt und kein Dienst sind darum schon in Ordnung, weil sie bloß funktionieren. Man kann sich wohl kein Kriterium der Kriterien denken, das unsere Dienste und Ämter in eine bessere Krisis bringt, d.h. vor die Unterscheidung der Geister. Die auferbauende Liebe ist das einzige, was jenseits der Charismen ist.

Dies war ein Versuch, die vielen Dienste und Ämter gerade unseres Sprachraumes in ihrer jeweiligen Selbständigkeit und in ihrem Zusammenwirken zu sehen. Es ist gut biblisch begründbar, dogmatisch weiter entfaltbar und bringt auch eine konkrete Spiritualität mit sich. Wie weit sich dies auch in andere Disziplinen hinein vermitteln lässt, ganz besonders in kirchenrechtliche Aussagen und Strukturen hinein, dies darf ich der Tagung selbst überlassen.

 

Hinweis

Viele Beiträge sind verzeichnet in: K. Lehmann, Die Zukunft der Seelsorge in den Gemeinden = Mainzer Perspektiven. Das Wort des Bischofs 1, Mainz 1995, 133-134. Weitere Veröffentlichungen werden ergänzt.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz