Immer wieder stoßen wir auf traurige Nachrichten um und über die Kirche. Sie werden manchmal auch genüsslich breitgetreten. Dies gilt z.B. auch für die Veröffentlichung der Kirchenaustritte im vergangenen Jahr. Wir hatten vom Bistum Mainz her in dieser Zeit eine Rekordzahl mit 8.885 Austritten - die höchste Zahl, die wir bisher hinnehmen mussten. Es ist kein großer Trost, wenn andere vergleichbare Bistümer einen ähnlich großen Aderlass erfahren mussten.
Auf dem bisherigen Höhepunkt der Austritte war in unserem Bistum eine Zahl über 8.000 im Zusammenhang der schlimmen Ereignisse von sexuellem Missbrauch zu verzeichnen. Die Austritte sind dann zurückgegangen und haben sich längere Zeit bei ca. 4.000 eingependelt. Immer noch zu viel. Die Ereignisse um Bischof Tebartz-van Elst in Limburg ließen die Zahlen wieder steigen. Schließlich haben wir nicht nur eine lange Grenze zu unserem Nachbarn, sondern im Rhein-Main-Gebiet auch viele Gemeinsamkeiten in der gesellschaftlichen Atmosphäre.
Als die Zahl sank, beruhigten wir uns nicht einfach. Immer wieder habe ich auch die Gattung „Österlicher Hirtenbrief" benutzt, um z.B. zu fragen „Kirche - wohin gehst du?" (2009). Ausführlich beschäftigte ich mich 2011 in einem umfangreichen Text mit dem „Kirchenaustritt" und gab auch mehrere positive Beiträge prominenter Christen und Theologen von heute wieder: Warum ich in der Kirche bleibe. Wir haben auch schmerzliche Vergehen, ja sogar Skandale nicht geleugnet oder gar vertuscht. Wir sind vielen Forderungen nachgekommen in der Offenlegung kirchlicher Finanzen, haben ausführlich dargelegt, was wir mit unseren Einnahmen für die Menschen im Bistum und in aller Welt tun. Gewiss hat uns auch eine Änderung des Einzugs mancher Kirchensteuerarten („Kapitalertragsteuer") Mitglieder gekostet, obgleich es keine zusätzliche Steuer war oder diese erhöht wurde.
Es gibt in dieser Frage rasch wandelnde Stimmungen. Dies ist sicher etwas Neues. Gewiss gab es sie in unterschiedlicher Intensität schon länger. Aber es gibt einen zeitlich nicht leicht festlegbaren Wandel in den letzten Jahrzehnten: Früher war es eher verpönt, die Frage nach dem Kirchenaustritt bei Zusammenkünften zu stellen. Irgendwo gab es einen Umschlag, bei dem die Frage oft lautete: „Was, Sie sind noch in der Kirche?" Manchmal wurde es geradezu chic, seine Aufgeschlossenheit und Modernität durch den Kirchenaustritt zu beweisen.
Ich bitte um Verständnis: Ich weiß gut um die Ärgernisse in der Kirche und will sie nicht wegwischen. Ich habe auch oft gegen sie gekämpft und, wenn es sein musste, entlarvt. Ich weiß auch als Theologe um den Riss in der zugleich heiligen und sündigen Kirche von oben bis unten, der Menschen enttäuscht und bis zum Verlassen der Kirche ärgert.
Ich möchte aber auch einen ehrlichen Umgang mit dem Kirchenaustritt. Wir haben im Unterschied zu vielen Ländern der Welt Religionsfreiheit, die den Kirchenaustritt als reale Möglichkeit mit sich bringt. Es gibt auch persönliche Lebensentscheidungen, die wir in jedem Fall zutiefst bedauern, aber auch als freie Entscheidung achten wollen. Die Kirchenaustritte sind aber auch genauer demoskopisch und soziologisch untersucht. Manche ärgern sich spontan über Papst, Bischöfe und Pfarrer. Manche von ihnen kehren wieder zurück. Es gibt aber sehr oft ein stilles sich Distanzieren von der Kirche, die man einfach nicht mehr kennt. Der regelmäßige Gottesdienstbesuch, bei dem man immerhin regelmäßig über die Kirche erfährt, ist bis auf zehn Prozent zurückgegangen (auch bei uns in Mainz z.Zt. auf 9,8 %). Woher haben die Menschen Kenntnis von „ihrer Kirche"? Wer nur die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung kennt, kann auf die Dauer kaum mehr in der Kirche bleiben. Man braucht eine gegenläufige Erfahrung, die man fast nur im Leben mit einer Gemeinde oder in einer Gemeinschaft machen kann. Hier sieht manches anders aus. Wir sehen auch heute wieder, wie viel zum Beispiel an Flüchtlingshilfe in unseren Gemeinden geleistet wird.
Deswegen möchte ich gerne jeden, der austrittswillig ist oder auch schon ausgetreten ist, fragen: Kennst du deine Kirche, die du verlassen möchtest oder der du schon den Rücken gekehrt hast?
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Diese Gastkolumne lesen Sie auch in der aktuellen Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 2. August 2015
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von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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