Zum Leitthema der Wochen für das Leben 2005 bis 2007
Manche Themen haben es in unserer Gesellschaft schwer. Man spricht sie immer wieder an, aber das Echo ist mäßig. Es hat jeweils zweifellos verschiedene Ursachen.
So geht es auch mit dem Versuch, in unserer Gesellschaft mehr Mut zu Kindern zu machen und sich für eine kinderfreundliche Gesellschaft einzusetzen. Gewiss ist dies kein Thema für ein plattes Moralisieren. Es gibt in wachsender Zahl Ehepaare, die aus verschiedenen Gründen auf Kinder verzichten müssen. Es kommt dann in unserer Gesellschaft zu sehr widersprüchlichen und extremen Stimmungslagen in dieser Frage. Die einen sehnen sich nach einem Kind und unternehmen viele Anstrengungen, schließlich auch bis zur Adoption. Zugleich bleibt die Zahl der Abtreibungen trotz der vielen Verhütungsmöglichkeiten ziemlich hoch. Manchmal ist es so grotesk, dass in einigen, gewiss wenigen gynäkologischen Praxen am Morgen Abtreibungen vorgenommen werden, am Nachmittag kämpft man mit allen Mitteln für das Ermöglichen einer Schwangerschaft. In einer solchen Welt ist es nicht so einfach, Mut zu machen zu Kindern.
Schließlich kommen für viele jüngere Paare auch nicht unerhebliche äußere Schwierigkeiten ins Spiel: die beruflichen Aussichten sind ungewiss; am konkreten Wohnort findet sich kaum jemand für eine kostengünstige Unterstützung von Familien mit Kindern, besonders wenn die Großfamilie nicht in der Nähe ist; junge Frauen, die eben im Beruf eine bessere Stellung gewonnen haben, fürchten, nach Schwangerschaft und Familienpause keine angemessene berufliche Stellung mehr zu bekommen. Noch vieles ließe sich aufzählen.
Es besteht kein Zweifel, dass in den letzten Jahren vieles getan worden ist, um diese Situation zu verbessern. Dies gilt nicht zuletzt auch für die jüngsten Bemühungen der jetzigen Bundesfamilienministerin Renate Schmidt. Was uns fehlt sind nicht in erster Linie – wobei hier noch manches zu tun ist – bessere Regelungen für viele Details, sondern eine grundlegende Öffnung und Bereitschaft nicht nur konkret zu Kindern, sondern eben auch schon zum Bewusstmachen und Bewusstwerden der Wichtigkeit dieses Themas.
Machen wir uns nichts vor: In Bezug auf die Geburtenrate ist Deutschland auf den Platz 182 von 190 Ländern herabgesunken. Die Kinderzahl liegt in Deutschland bei 1,3 Kindern pro Frau. Aber schwierig ist vor allem auch, dass in den vergangenen Jahren bei Ehepaaren wie Alleinerziehenden das Armutsrisiko überproportional anstieg. Die Sozialhilfequote der Minderjährigen ist doppelt so hoch wie die der Gesamtbevölkerung. Dabei geht es nicht nur um das fehlende Geld. Den Kindern bieten sich in solchen Situationen schlechtere Lebensperspektiven. Viele wachsen vernachlässigt auf, manche in einem Umfeld von Gewalt, viele isoliert und mit wenig Selbstvertrauen. Dies bedeutet eine große Ungerechtigkeit.
Hier ist gewiss immer noch und gerade in einem so reichen Land wie die Bundesrepublik Deutschland Handlungsbedarf für die Politik. Aber es geht noch viel radikaler um die Grundstimmung bei uns. Das ausgerechnet Kinder in vielen Fällen ein Armutsrisiko darstellen, dürfen wir schlechthin nicht auf Dauer hinnehmen. Menschen, die dadurch in Armut geraten, dass sie Kinder großziehen, fühlen sich zu Recht von der Gesellschaft im Stich gelassen. In einer Situation, in der die Gründung einer Familie eine spürbare wirtschaftliche Belastung und sogar Benachteiligung gegenüber anderen darstellt, wird es jungen Menschen, die auch noch den Zusammenbruch so vieler Beziehungen in Ehe und Familie erleben, erschwert, sich auf Kinder einzulassen.
Seit über zehn Jahren veranstalten die beiden großen Kirchen jährlich die „Woche für das Leben“. Immer wieder geht es dabei auch um die Bereitschaft zum Teilen der Lebenschancen, nicht selten um die Würde des Menschen am Anfang und auch am Ende des Lebens. In den nächsten drei Jahren wollen wir das Thema „KinderSegen – Hoffnung für das Leben“ zum Hauptthema machen. Für 2005 findet die Eröffnung dieser Woche für das Leben mit dem Motto „Mit Kindern ein neuer Aufbruch“ am 9. April in Kassel statt. Aber dies ist ja nur der Auftakt für den Start in allen Landeskirchen und Diözesen, besonders aber in den Pfarrgemeinden, Verbänden, Bildungseinrichtungen und nicht zuletzt auch Schulen.
„Mehr Kinder“ ist kein altmodisches Thema, das besonders Frauen unter Druck setzt. Es ist eine Lebensfrage unserer Gesellschaft, die immer älter wird und deshalb auch ihre ganzen Sozialsysteme umstellen muss. Die demografische Situation braucht dringend eine Wende. Auswirkungen sind ohnehin erst nach langer Zeit zu spüren. Deshalb bieten wir das Leitthema in einer dreifach gestuften Fassung für mehrere Jahre an. Es wird höchste Zeit, sonst verspielen wir unsere Zukunft.
© Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz