Die Enthüllung zahlreicher Fälle sexueller Übergriffe von Geistlichen auf Kinder und Schutzbefohlene hat die katholische Kirche in Deutschland in eine tiefe Krise gestürzt.
Zu beklagen ist nicht nur das Fehlverhalten Einzelner. Auch als Institution muss sich die Kirche fragen lassen, welche Verantwortung sie für das Geschehene trägt.
Auch wenn man große Worte eher scheut, ist die Enthüllung von vielen Missbrauchsfällen in den vergangenen Wochen eine tiefgreifende Krise, besonders für die katholische Kirche. Selbst wenn zahlreiche außerkirchliche Faktoren beteiligt sind, hat es keinen Sinn, mit dem Finger zuerst auf andere zu zeigen. Man könnte sonst dem Eindruck kaum entrinnen, man wolle von der eigenen Verantwortung ablenken oder das Geschehene relativieren. Wir dürfen uns als Kirche auch nicht wundern, wenn wir streng - gewiss auch manchmal mit Schadenfreude und Häme - an jenen Kriterien gemessen werden, mit denen die Kirche sonst ihre sittlichen Überzeugungen vertritt, besonders hinsichtlich der Sexualität. Die aufgedeckten Missbrauchsfälle wirken hier wie ein Bumerang.
Freilich darf man sich auch nicht den Mund verbieten lassen und muss deutlich sagen, dass es sich offenbar um einen gesellschaftlichen Missstand handelt, den die meisten in dieser Größenordnung nicht vermutet haben. Langsam kommen auch bisher weniger verdächtige Orte des Fehlverhaltens zur Sprache. Die Zahlenangaben über bekanntgewordene Fälle und Schätzungen über eine mutmaßliche Dunkelziffer liegen weit auseinander. Selbst wenn es schmerzlich ist, so darf man am Ende erleichtert sein, dass nun vieles an den Tag kommt. Dass sich manche Trittbrettfahrer und allerhand Nutznießer auf den Zug der Medien schwingen, darf nicht überraschen.
Warum dauerte es so lange, bis man in größerem Ausmaß öffentlich von derartigen Vergehen sprach? Schon in den neunziger Jahren sagte mir eine psychotherapeutisch ausgebildete und professionell sehr erfahrene amerikanische Ordensschwester etwas, was mich zunächst entsetzte, mir dann aber sehr geholfen hat, mit dem Phänomen nüchtern umzugehen: „Sie müssen immer damit rechnen, dass die Täter bis zuletzt schweigen, viel mehr als jeder Alkoholiker." Vieles konnte - ich muss das für die jetzt 27 Jahre sagen, in denen ich als Bischof für die Diözese Mainz Verantwortung trage - nicht geklärt werden, weil es immer wieder dieses eiserne Schweigen gab. Ich tappte oft lange im Dunkeln, auch wenn ich noch so sehr um Aufklärung bemüht war.
Das Interesse und die Zuwendung zu wirklichen oder möglichen Opfern muss in der Aufklärung eindeutig im Vordergrund stehen. Allerdings darf man gerade als Personalverantwortlicher bis zum Erweis des Gegenteils nicht einfach an der Unschuldsvermutung eines Verdächtigen vorbeigehen. Auch eine Anschuldigung, die sich später als haltlos erweist, kann lebenslang hängenbleiben. Wer vorschnell vom „Vertuschen" redet, der hat keine Ahnung, wie schwierig es ist, sich über lange Zeit in einer unklaren Situation zu befinden.
Hinzu kommt die abgrundtiefe Verschüchterung der Opfer. Handlungen im Bereich des sexuellen Missbrauchs werden tabuisiert. Es ist sehr schwer für Betroffene, sich jemandem anzuvertrauen. Auch in den Familien möchte man solche Verfehlungen oft nicht wahrhaben. Dieses Schweigen hat für die Opfer gravierende Folgen. Weil sie nichts erzählen können, können sie auch die Schädigungen nicht verarbeiten, die oft ein ganzes Leben nachwirken. Besonders die sexuelle Entwicklung wird in sehr vielen Fällen beeinträchtigt. Traumatische Erfahrungen in Kindheit und Jugend können auch noch spätere Paarbeziehungen schwer belasten. Eine ganze Lebensgeschichte kann dadurch tief gestört werden.
Noch etwas ist mir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten deutlicher geworden. Es ist ja noch nicht so lange her, dass man das Phänomen der Pädophilie einigermaßen klar umgrenzen kann. In Handbüchern der Sexualmedizin und der sexuellen Störungen kann man bis zu 23 verschiedene Bezeichnungen und Beschreibungen von „sexuellem Missbrauch" finden. Auch erfahrene Psychologen haben mir immer wieder versichert, dass es einer eigenen Ausbildung und Erfahrung bedürfe, um mit der nötigen Gewissheit eine differenzierte Diagnose auf Pädophilie hin zu stellen.
Seitdem aber das Phänomen der Pädophilie, die ja auf die Neigung zu Kindern in der vorpubertären Entwicklungsphase beschränkt wird, besser bestimmt oder abgegrenzt werden kann, tut sich eine andere, zuerst erschreckende Feststellung auf: Pädophilie in diesem strengen Sinn hat nichts mit einem gelegentlichenm moralischen Ausrutschen zu tun, sondern entspringt einer tiefsitzenden Neigung, die sehr viele Fachleute für unheilbar halten. Diese Erkenntnis hat sich erst in den letzten Jahrzehnten allgemein durchgesetzt. Nicht zuletzt darum hat man gerade von kirchlicher Seite die Fähigkeit von Tätern zur Umkehr und zur Heilung überschätzt.
Im guten Glauben haben wir uns oft auf den erklärten guten Willen verlassen. Deshalb kam es auch zu den falschen und schon seit längerer Zeit gewiss unverzeihlichen Praktiken, einen überführten und manchmal auch rechtskräftig verurteilten Täter einfach an eine andere Stelle zu versetzen. Man musste die harte Erkenntnis, die ein Seelsorger nicht so leicht annehmen kann, verkraften, die mir die erwähnte Ordensfrau aufgrund ihrer Erfahrung mitteilte: „Bischof, machen Sie sich keine Illusion, der Mann darf auf keinen Fall mehr in die Seelsorge, denn dort wird er überall Kinder finden."
Die Täuschungen, die mit der vermeintlich verständnisvollen Haltung gegenüber einem Täter verbunden waren, sind Gott sei Dank alle zusammengebrochen. Aber auch andere Illusionen lösten sich in Luft auf. Die menschliche Sexualität ist nicht so unschuldig romantisch, wie man dies - gegenüber allen Verteufelungen des Geschlechtlichen - oft meinte. Sie kann als Gesamttrieb des Menschen zu wunderbaren Höhen führen, die das irdische Glück des Menschen bilden können, weist aber auch abgründige Tiefen auf, die eine letztePervertierung des Menschlichen zeigen. Die Kunst zeigt beides. Wer eine dieser Dimensionen leugnet, lügt.
Zu diesen äußersten Abgründen gehören sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche. Diese sind auch deshalb so schlimm, weil der Täter dabei oft seine Macht verschleiert. Es ist ja nicht so, wie manche Pädophilenbewegungen nahelegten, dass die kindlichen und jugendlichen Opfer im Stillen einwilligten. Vielmehr wurden die natürlichen Hemmschwellen und Widerstände mit perfider Raffinesse überwunden. Man darf das Machtgefälle gerade zwischen Erwachsenen und Kindern nicht ausblenden. Wo kindliche Schwäche und Abhängigkeit von Zuwendung ausgenutzt werden können, ist die Anwendung äußerer körperlicher Gewalt nicht nötig.
In diesen Zusammenhang gehört auch das richtige Verständnis von Erziehung. Diese lebt immer von einer Mischung aus Nähe und Distanz. Ausschließliche Distanz kann sich mit rücksichtsloser Herrschsucht paaren. Deswegen wird mit Recht die schlechte Pädagogik früherer Jahrzehnte gegeißelt, wo es nicht selten zu unerträglichen körperlichen Züchtigungen und Strafen kam. Aber man soll diese Vorkommnisse nicht mit sexuellem Missbrauch in einen Topf werfen. Insofern hatten gewisse Zweige der modernen Pädagogik (es war nicht nur die „Reformpädagogik") gut daran getan, in der Erziehung stärker die Nähe zwischen Erwachsenen und Kindern zu betonen. Damit ist immer auch in hohem Maß Unbefangenheit verbunden. Aber Nähe darf nicht heißen, dass man Abstand und Unterschied vernebelt und die Persönlichkeit von Kindern nicht achtet. Man kann ja nicht gut leugnen, dass die Pädophilenbewegung zu einem unverantwortlichen Umgang mit Kindern zu verführen versuchte („Lust am Kind"). Eine schönfärberische Verherrlichung antiker Knabenliebe kam hinzu.
Das alles hat Gott sei Dank in den vergangenen zwanzig Jahren an Einfluss verloren. Aber gleich wann und wo, es darf niemals die geringste Entschuldigung bieten für Handlungen, die in jedem Fall verbrecherisch und sündhaft sind. Bei manchem, der eine starke Neigung dazu in sich verspüren mochte, wurden die Widerstandskräfte durch solche Entschuldigungen geschwächt. Zur Wahrheit gehört auch, dass man besonders auf europäischer Ebene immer noch versucht, die Gesetze im Hinblick auf sexuelle Kontakte mit Minderjährigen zu liberalisieren.
Es ist tragisch, dass die Lehre der Kirche zwar nie einen Zweifel daran duldete, dass jede Form von sexuellem Missbrauch grundlegend verwerflich ist und bleibt, dassdie Verantwortlichen in der Kirche im eigenen Umfeld in manchen Fällen aber doch nicht mit der letzten Akribie und Unabhängigkeit lückenlose und unbestechliche Aufklärung betrieben haben. Da mögen viele Motive und Einstellungen eine ursächliche Rolle gespielt haben. Am schlimmsten war die Einstellung, sich mehr um die Täter kümmern zu müssen als um die Opfer. Es ist auch beschämend, wie hier und da versucht wurde, durch schnelles Abwehren und Verdecken eines Verdachts oder gar einer Verfehlung die Institution Kirche und gerade auch Amtspersonen unter allen Umständen vor einem Makel zu bewahren. Gewiss gab es da auch eine Kumpanei, wie sie in manchen „geschlossenen Systemen" möglich ist, in die niemand von außen so recht hineinsieht. Es ist jedenfalls erschreckend, dass hier die Sensibilität des Gewissens, die doch gerade bei religiösen und kirchlich engagierten Personen täglich gepflegt werden soll, aller Beschwichtigungen und Verdeckungen nicht Herr geworden ist.
Gerade wenn man dies eingesteht, muss man aber auch bei noch so kritischem Zusehen feststellen, dass die Kirche bei aller Hilflosigkeit im Einzelnen nach einem besseren psychologischen Verständnis der Pädophilie entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Die deutschen Bischöfe sind nicht einfach untätig geblieben. Als vor der Jahrtausendwende und unmittelbar danach einige Missbrauchsfälle skandalös aufkamen, hat die Deutsche Bischofskonferenz nach Wegen gesucht, um das rechte Vorgehen zu koordinieren.
Die gängige Praxis war, dass jedes Bistum ganz selbständig mit den Vorfällen umging und darüber keine andere kirchliche Instanz in Kenntnis setzen musste, nicht das Sekretariat der Bischofskonferenz und auch nicht vatikanische Behörden. Das sollte sich erst im Jahr 2002 teilweise ändern. Bis dahin waren die Unübersichtlichkeit und das Informationsdefizit gerade auch angesichts des jeweiligen Pressewirbels sehr hoch. Besonders vor dem Hintergrund der Vorfälle in den Vereinigten Staaten wurde zudem klar, dass eine „Aufarbeitung" neue, grundsätzlich von Fachleuten kritisch begleitete Wege gehen muss.
So kam es zum weltweit ersten Kongress über Pädophilie, der mit einer Vielzahl von kirchlich nicht gebundenen Fachleuten im Jahr2003 in Rom stattfand. Im Jahr darauf wurden bereitsin englischer Sprache die Kongressakten veröffentlicht („Sexual Abuse in the Catholic Church. Scientific and Legal Perspectives", hrsg. v. R. K. Hanson, F. Pfäfflin und M. Lütz, Vatikan 2004).
Schon etwas früher hatten die deutschen Bischöfe erste Schritte unternommen und Leitlinien „Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" formuliert. In diese Leitlinien, die am 26. September 2002 und in den Amtsblättern aller Bistümer veröffentlicht wurden, ist im Blick auf die Täter auch die Erkenntnis eingegangen, dass eine pädophile Neigung „strukturell nicht abänderbar" sei. Zu derselben Zeit oder noch früher haben mindestens sechs große Bischofskonferenzen der katholischen Kirche eigene Leitlinien in Kraft gesetzt.
In Deutschland gab es für diese Leitlinien weder Vorläufer noch Vorbilder. Sie wurden nach den ersten Erfahrungen im Jahr 2005 und nochmals im Jahr 2008 überprüft. Nach herrschender Meinung haben sie ihre Feuerprobe gut bestanden. Dennoch können die Leitlinien weiter verbessert werden. Allerdings schreien jetzt oft jene in der Kirche am meisten nach Verbesserung, die sie kaum gelesen oder - noch schlimmer - schlecht oder gar nicht angewandt haben.
Bei einer neuerlichen Revision der Leitlinien ist vor allem zu erwägen, ob die kircheninternen Ermittlungen in neutrale Hände gelegt werden und ob die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden in jedem Einzelfall zur Pflicht gemacht wird. In der Vergangenheit wurde dies allerdings in vielen Fällen schon praktiziert. Freilich nützen die besten Leitlinien nichts, wenn sie nicht strikt und ohne Ansehen der Person und Institution befolgt werden. In der gegenwärtigen Diskussion über sexuelle Übergriffe auf Kinder fällt eine Besonderheit auf: Der Ruf nach Verantwortung und Wiedergutmachung, nicht zuletzt auch nach Entschädigung, richtet sich sehr oft allein an die Institutionen. Bei dem Ausmaß der in den vergangenen Wochen erfolgten Enthüllungen ist das in gewisser Weise verständlich. Die Häufung der Fälle betrifft zweifellos auch in vielen Dimensionen die Institution Kirche. Dennoch überrascht, wie wenig vom einzelnen Täter und von seiner Verantwortung die Rede ist. Mindestens im kirchlichen Bereich weiß ja jeder Päderast, in welchem Maße er sich versündigt. Es ist nicht zu verstehen, dass in der öffentlichen Diskussion hier nicht auch das Einstehen einzelner Täter für die von ihnen angerichteten Schäden zur Sprache kommt. Aber man sucht ja schon lange Schuld zuerst beim Kollektiv und fast immer beim „System".
Besonders zu Beginn der Diskussion wurde nicht selten sehr pauschal behauptet, es gebe einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Ehelosigkeit des Priesters und den Übergriffen auf Kinder und Jugendliche. Fachleute aus vielen Disziplinen haben solchen Annahmen inzwischen widersprochen. Doch gewiss gibt es in der Frage nach etwaigen Zusammenhängen zwischen Zölibat und Missbrauchsfällen manches zu bedenken: Zunächst sorgt sich die Kirche, einschließlich der Priester und vieler anderer Berufe, wie wenige Institutionen unserer Gesellschaft (abgesehen von Schulen aller Arten) täglich um eine sehr große Zahl von Kindern und Jugendlichen. Das erhöht zweifellos die Kontakt- und Konfliktmöglichkeiten. Ich hoffe, dass die derzeitige Diskussion, die unvermeidlich ist, vielen Frauen und Männern in zahllosen Einrichtungen der Kirche die integre Unbefangenheit im Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht raubt.
Die Kirche muss freilich nüchtern bedenken, inwieweit die priesterliche Lebensform in höherem Maß pädophil veranlagte Männer anziehen kann, zumal im Blick auf ein Engagement in kirchlichen Einrichtungen. In diesen Einrichtungen besteht nicht nur die Möglichkeit, vielen Kindern in einem geschützten Raum zu begegnen, sondern auch die Aussicht, durch diedie seelsorgliche Diskretion und die gesellschaftliche Tabuisierung unentdeckt zu bleiben. Die Verantwortlichen unserer Ausbildungsstätten haben diese Gefahr längst erkannt. Aber auch Gespräche mit Fachleuten und entsprechende Informationen können bei aller Wachsamkeit Fehlbeurteilungen im Einzelfall nicht immer ausschließen. Zweifellos bedarf es in dieser Richtung noch größerer Vorsicht und einer klaren Entschiedenheit.
Das alles ist wichtig und bleibt zu bedenken. Die Enthüllung der Missbrauchsfälle bedeutet ohne Frage auch eine Krise der Kirche. Sie bezieht sich aber nicht nur auf die Gegenwart und auf Straftaten, die noch nicht verjährt sind. In der Diskussion sind viele tabuisierte Verfehlungen aufgedeckt wourden, die oft vor Jahrzehnten stattfanden. Es wäre leichtfertig, zu versprechen, alle Vorkommnisse der Vergangenheit lückenlos aufzuklären.
Fast immer sind die damals Verantwortlichen tot. Schriftliche Zeugnisse finden sich oft nicht, rückblickende Angaben können sehr unvollständig sein. Dies bestätigt in schmerzlicher Weise, wie tief die Furchen sind, die der Missbrauch auf lange Zeit in eine Lebensgeschichte eingegraben hat, aber auch die erschreckende Tabuisierung auf allen Ebenen. Gerade deswegen darf man diesen Pfahl der Vergangenheit mitten im Fleisch der Gegenwart nicht übersehen. Als Kirche sind wir nicht nur heutig, sondern wir stellen uns auch - ob es gelegen kommt oder ungelegen - den Schwachstellen unserer Geschichte. Es wäre billig, sich einfach aus dem Staub zu machen.
Papst Benedikt XVI. hat in seinem Brief an die Kirche in Irland vom 19. März mutig gezeigt, wie die Missbrauchsfälle durchaus auch mit krisenhaften Wandlungen und Erscheinungen in der gegenwärtigen Kirche zu tun haben. Dabei ist die Verflechtung der einzelnen Kirchen in die Geschichte des jeweiligen Landes zu berücksichtigen. Aber es gibt auch einen Zusammenhang, der über die jeweils besondere Lage hinausreicht und die gesamte Institution in die Verantwortung bringt. Dazu gehört auch die Situation der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Meine Kritik bezieht sich nicht auf das Vatikanum II, sondern auf misslungene Bemühungen der nachfolgenden Rezeption.
Eine erneuerte Zuwendung zur modernen Welt war notwendig. Aber man hatte die Sogwirkung dieser Welt wohl vielfach unterschätzt. Hemmungen entfielen, eine falsche Toleranz konnte sich ausbreiten. Die „Welt" erwies sich als mächtiger. Die für die Zuwendung zur Welt noch wichtiger gewordene Spiritualität, innere Stärke und Selbstbehauptung hingegen schrumpften. Man überschätzte auch die an sich fruchtbaren Organisationsmöglichkeiten von Kirche in einer säkularen Welt und nahm Defizite nicht ausreichend zur Kenntnis. Leider hat das alles auch dazu geführt, dass die Kirche in Fragen der Gestaltung der menschlichen Sexualität aus diesen Spannungen nicht herausfand und besonders in der Verkündigung und der Glaubensunterweisung wie gelähmt blieb. Auch darum konnte sie nicht mehr ausreichend helfen.
So hat man manche Herausforderung, die das Zweite Vatikanische Konzil stellte, nicht genügend aufgenommen. Dazu gehört für mich die Aussage über Heiligkeit und Sündigkeit der Kirche. Gerade im Blick auf das heute sehr stark empfundene Gewicht sündhafter Erscheinungen in der Kirche darf der Aspekt der Heiligkeit nicht ausgeblendet werden. Es muss gewährleistet bleiben, dass das befreiende göttliche Leben durch die Heiligkeit der Kirche, die sie nur von Jesus Christus hat, auch wirklich zur Menschheit durchdringt, und zwar gerade bis an den Rand der Verlorenheit. Ohne die Heiligkeit der Kirche gäbe es am Ende auch keine Rettung der Welt.
Es ist allerdings ein Problem der ganzen Kirchen- und Theologiegeschichte, was man über die Spannung zwischen der Heiligkeit und der Sündigkeit der Kirche aussagt und wie man diese Spannung aushält. Das Konzil konnte sich (noch) nicht zu einer eindeutigen Aussage durchringen, dass die Kirche selbst nicht nur heilig, sondern auch sündig ist. Es formulierte in dieser Hinsicht vorsichtiger, dass die Kirche „in ihrem eigenen Schoß Sünder umfasst. Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung" (Kirchenkonstitution Artikel 8).
Dieses Eingeständnis war ein großer Schritt - und ist trotz mancher guter Ansätze noch längst nicht ausreichend in die Theologie und die Spiritualität des Alltags aufgenommen worden. Mich haben schon vor Jahrzehnten die großen Entwürfe der Theologen Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar sowie des Franzosen Henri de Lubac beeindruckt. Mit den umwerfenden Zitaten über die „keusche Hure" Kirche, die sie in den Schriften der Kirchenväter fanden, haben sie mich ermutigt, bei aller Verteidigung der Heiligkeit auch von einer sündigen Kirche zu sprechen.
Diese dialektische Rede hat erhebliche Konsequenzen auch für unser Thema. Die Kirche ist nicht einfach vom Leben und Handeln ihrer Mitglieder abgetrennt, sowenig sie sich darauf beschränkt. Sie wird auch als Institution ins Mark getroffen, wenn wir das gelebte Zeugnis des Evangeliums Jesu Christi verweigern. Sonst kommt man leicht in die Versuchung, die Verfehlungen in der Kirche ausschließlich dem einzelnen Sünder anzurechnen, sie selbst aber vor jedem Makel zu bewahren. Eine solche Mentalität hat die schlimmen Praktiken bloßen Vertuschens oder des Versetzens eines Täters von Ort zu Ort gewiss mit begünstigt.
Zweifellos haben wir auf die Spiritualität einer erneuerten Kirche, gerade wenn sie mehr Weltzuwendung wagt, zu wenig geachtet. Deswegen gibt es so viel Defizit und mangelnde Sensibilität, vor allem auch im Umfeld der Päderasten und ihrer Mitwisser. Hier ist die biblisch verstandene „Welt" tief in die Kirche eingebrochen. Deshalb braucht es jetzt - Papst Benedikt XVI. macht es klar - eine vorbehaltlose Selbstreinigung auf allen Ebenen. Nicht nur im Brief an die irische Kirche hat der Papst den sexuellen Missbrauch von Kindern mit äußerster Klarheit als „verabscheuungswürdiges Verbrechen" und „schwere Sünde" verurteilt. Wer will ihn hier an Klarheit und Entschiedenheit übertreffen?
Wir sprachen vom sexuellen Missbrauch als einem, wie sich immer mehr zeigt, gesellschaftlichen Miss- und Notstand. Runde Tische und eigene Beauftragte auf allen Ebenen können bis zu einem gewissen Grad helfen, das Verantwortungsbewusstsein zu wecken, zu schärfen und vor allem auch wachzuhalten. Die immer wieder geforderte „Kultur des Hinschauens" muss ja vielfach erst gebildet werden. Zivilcourage dafür fehlt ja auch anderswo. Hilfen, etwa durch Prävention, brauchen aber gerade in diesem Bereich Menschen, die überzeugt sind und überzeugen.
Deshalb vertraue ich bei allen Fehlern, die gemacht worden sind, auf die spirituellen und sittlichen Energien der Kirche. Sie hat ja keineswegs nur Versager oder gar Verbrecher in ihren Reihen, wie es manche Kritiken nahelegen wollen. Zur Kirche gehören auch bis zum heutigen Tag Heilige und sehr viele mutige und unbestechliche Helden des Alltags. Dennoch macht uns die Krise demütig, zumal es auch zukünftig noch manche Enttäuschung geben kann: „Wer also zu stehen meint, der gebe acht, dass er nicht fällt" (1 Kor 10,12).
Es gibt für alles einen Neuanfang, aber keine billige Gnade. In der Begegnung mit der Ehebrecherin, die von den Kirchenvätern oft als Symbolgestalt der sündigen Kirche gedeutet worden ist, sagt Jesus: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!" (Joh 8,11). Dies aber geht nur durch das Kreuz hindurch. Umkehr tut not. Dann können wir auch an Ostern, demütiger und bescheidener, ein entschiedenes und unerschrockenes „Dennoch" sagen und im Blick auf den auferstandenen Herrn auf Zuversicht und Zukunft hoffen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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