Kirche im neuen Europa

Beitrag für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - Ausgabe Mai 2004

Datum:
Dienstag, 11. Mai 2004

Beitrag für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - Ausgabe Mai 2004

Wir haben vermutlich noch gar nicht genügend verstanden, was am 1. Mai d.J. geschieht, wenn 10 neue Staaten in die Europäische Gemeinschaft eintreten werden. Gewiss ist dies nur ein Anfang für einen jahrzehntelangen Prozess des Zusammenwachsens. So gilt noch nicht überall der Euro als Währung. Die Freizügigkeit im Reisen ist nicht überall gleich. Die Außengrenzen der größeren Gemeinschaft müssen gesichert werden. Die Wirtschaftsräume werden trotz aller Gemeinsamkeit noch auf einige Zeit recht verschieden bleiben.

Dennoch geschieht etwas, was wirklich den Begriff historisch verdient. Länder rücken zusammen, die in unserer Geschichte oft blutig miteinander verfeindet waren. Europa wird durch die Bevölkerungszahl und vor allem durch die Wirtschaftskraft ein mächtiger Faktor in der Weltpolitik. Aber es gibt eben auch viele Fragen an den neuen Koloss: Gelingt wirklich auch eine gemeinsame Außenpolitik? Gibt es eine wirksame Stimme bei der Abwehr des internationalen Terrors? Wie steht es um die innere Einheit? Gilt nur der kleinste gemeinsame Nenner in den grundlegenden Maßstäben und Werten des Zusammenlebens? Siegen die partikulären und oft auch egoistischen Interessen über die gemeinsamen Chancen und Aufgaben?

Es gibt viele Krisen, alte und neue. Es ist nichts zu beschönigen. Aber diese Krise ist keine Katastrophe, sondern eine Herausforderung an die schöpferische Gestaltungskraft und die Entschlossenheit der Politik, wo freilich die überzeugten Europäer zu fehlen scheinen, mindestens in der ersten Reihe. Zu diesen Herausforderungen gehört z.B. die Osterweiterung als wirkliche Probe auf die wahre Integrationskraft Europas.

Religion und Kirchen kamen in letzter Zeit in Europa fast nur im Zusammenhang nach Forderungen eines Gottesbezugs und eines Hinweises auf die biblisch-christlichen Wurzeln im neuen Verfassungsentwurf zur Sprache. Dies ist und bleibt wichtig. Aber die Kirchen können, wie nur wenige Institutionen Europas, eine mächtige Schubkraft werden. Die Kirche darf nicht nur im historischen Rückblick ein Brückenbauer Europas in den Anfängen sein, sondern muss auch heute viel stärker integrativ wirken, nicht zuletzt durch die Pflege der Grundwerte, aber auch durch eine überzeugende Verkündigung des Evangeliums, einschließlich der aus ihm folgenden sozial-caritativen Konsequenzen. Es gibt aus den Kirchen über Jahrzehnte viele gemeinsame Erklärungen und Aktionen. Aber es besteht die Gefahr, dass dies bloß Sonntagspredigten bleiben. Nicht wenige Kirchen in einigen Ländern bewegen sich nur im Schneckentempo in Richtung Europa. Sie haben oft auch ein relativ geringes Verantwortungsbewusstsein für die politische und gesellschaftliche Gestaltung unserer Gemeinwesen. Dabei muss auch klar sein, dass die Kirchen nur dann für die Einheit Europas konstruktiv sein können, wenn sie untereinander zu einer größeren ökumenischen Gemeinsamkeit finden. Auch da gibt es auf allen Ebenen Leute, die wenig über sich hinauszuwachsen im Stande sind. Dabei geht es nicht um ein Verwischen des je eigenen Profils, was alle nur ärmer macht, sondern die Gemeinsamkeit des Christlichen muss in allen konkreten Standorten entschiedener herausgestellt und erlebt werden. Wir brauchen angesichts des größeren und weiteren Europas in allen Kirchen und besonders unter ihnen einen neuen Schwung: Wacht auf, Ihr Christen in Europa!

 

© Karl Kardinal Lehmann
 

Beitrag des Kardinals für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - Mai 2004

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz