Am 18. Juli wurde eine Gesamtstatistik über die Kirchenaustritte im Jahr 2013 veröffentlicht, und zwar gemeinsam für alle Bistümer. Man sollte diese Ergebnisse freilich nicht isoliert wahrnehmen, denn sie gehören in den Gesamtzusammenhang der Eckdaten des kirchlichen Lebens in den deutschen Diözesen. Aber vor dem Hintergrund vor allem der Ereignisse im Bistum Limburg haben diese Zahlen natürlich mehr Aufmerksamkeit gefunden.
Auch wenn man nicht zur Dramatisierung neigt, sind die Austrittszahlen insgesamt erschreckend hoch. Sie sind auf fast 180.000 angestiegen, nachdem über mehrere Jahre eine rückläufige Entwicklung eingesetzt hatte. 2012 waren es ca. 120.000 Austritte. Dies gilt auch für unser Bistum. Wir haben im Jahr 2013 7500 Austritte zu beklagen. Die bisherige Jahreshöchstzahl betrug vor der Jahrtausendwende an die 8000. Die niedrigste Zahl belief sich im Jahr 2000 auf rund 3500. Im Durchschnitt der letzten Jahre waren es jeweils ca. 4500 bis 5000 Austritte. Vor diesem Hintergrund kann man ermessen, was die jetzt wieder drastisch angestiegene Zahl bis 7500 bedeutet.
Natürlich muss man nach den Ursachen forschen. Das Bekanntwerden sexueller Missbrauchsfälle hat bei den früheren Höhepunkten eine entscheidende Rolle gespielt und wirkt weiter. Bei den Zahlen des Jahres 2013, die vor allem in der zweiten Jahreshälfte angestiegen sind, besteht ein deutlicher Zusammenhang mit den Geschehnissen um Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst mit seinem Bauprogramm im Bistum Limburg. Man sieht es nicht nur an der hohen Zahl der Austritte für Limburg selbst (ca. 8000), sondern auch bei den Nachbardiözesen, wo diese Ereignisse noch stärker eingeschlagen haben. Aber auch weiter entferntere (Erz-)Bistümer, zumal die großen, haben einen insgesamt eben doch gewaltigen Verlust zu verzeichnen.
Es besteht kein Zweifel, dass diese Zahlen uns sehr nachdenklich machen müssen. Wir haben offensichtlich einen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust erlitten, wie er selten so heftig vorkommt. Dies hat gewiss viele Ursachen, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass Irrwege und Verfehlungen, wie sie ohne Frage um den Bischofssitz von Limburg geschehen sind, sich mindestens in dieser Gestalt nicht wiederholen können. Die Alarmglocken müssen viel früher ertönen und vor allem eine wirksame Aufmerksamkeit erzeugen. Warnungen über das Ausmaß der davon ausgehenden Wirkungen wurden nicht oder zu spät gehört. Aber lassen wir dies. Es ist darüber schon genug geschrieben und gesagt worden.
Freilich bei allem Grund zur Gewissenserforschung aller beteiligten Gremien gibt es auch in den veröffentlichten Eckdaten andere Zahlen, die in diesem Zusammenhang aufhorchen lassen: Der Gottesdienstbesuch ist mit 10,8 Prozent auch im Jahr 2013 wieder rückläufig gewesen und hat geradezu einen Tiefpunkt erreicht. Viele Katholiken haben keinen lebendigen Kontakt mehr zu ihrer Kirche. Dies sage ich nicht mit erhobenem moralischem Zeigefinger als Vorwurf. Aber Tatsache ist eben auch, dass beim Abbrechen einer lebendigen Beziehung, wozu gewöhnlich auch ein erkennbares Engagement in einer Gemeinde oder Einrichtung gehört, Kirche als ein Verein wie andere auch erscheint, den man auch entbehren kann. Gewiss muss jeder Verantwortliche in der Kirche sehr selbstkritisch darüber nachdenken, wie verheerend mit einer solchen Situation Ereignisse wie die Missbrauchsfälle oder „Limburg" wirken. Sie sind wie Blitze, die unvorhergesehen und unvorbereitet einschlagen und Leute treffen.
Das Grundproblem darf aber wegen dieser skandalösen Ereignisse nicht aus dem Auge schwinden. Die Kirche ist eben kein beliebiger Verein. Darum muss alle Bemühung dahin gehen, nicht nur - was sehr wichtig ist - durch Umkehr und Erneuerung präventiv solche ärgerniserregenden Ereignisse, soweit dies nur möglich ist, zu vermeiden - ganz wird man es nie erreichen -, sondern die kirchliche Dimension unseres Glaubens radikal zu vertiefen. Dann heißt die entscheidende Frage: Warum ich trotz dieser Ärgernisse in der Kirche bleibe?
Ich kann hier abbrechen, nicht weil damit alles gesagt ist. Im Gegenteil, jetzt fangen die Fragen erst an. Ich habe aber im Frühjahr 2011 im Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit die Frage nach dem „Kirchenaustritt" in einem umfangreicheren Schreiben, und zwar genau auch die in Frage stehenden Kirchenbindung ausführlich angesprochen. Ich darf auf die m.E. wichtigen dort gesammelten Gründe und Texte, gerade auch großer Theologen, verweisen. So einfach werden wir die Krise der „Kirchenaustritte", die auch noch andere Gründe haben, nicht überwinden, aber alle Bemühungen dazu führen in eine Tiefe, wie sie zum Glauben gehört.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Diese Gastkolumne lesen Sie auch in der aktuellen Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 3. August 2014
Das in dieser Kolumne erwähnte Hirtenwort 2011 finden Sie hier im Volltext
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz