Ich liebe es nicht, Nachrichtenmeldungen und Presseberichten nach ihrem Erscheinen hinterherzuhetzen und manches zurechtzurücken. Gelegentlich ist es um der Sache willen nötig, meist ist das Echo auch in wichtigen Fällen leider gering. Beim Rückblick auf das Jahr 1998 sowie bei der aktuellen Berichterstattung über Stellungnahmen zur Abtreibungspille RU 486 sind jedoch immer wieder von verschiedener Seite Interpretationen des Schreibens des Heiligen Vaters vom 11. Januar 1998 an die deutschen Bischöfe über die Schwangerschaftskonfliktberatung aufgetaucht, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen. Leider wurden nicht selten Agenturmeldungen ohne Überprüfung übernommen.
So wurde in Chroniken des letzten Jahres behauptet, der Papst habe das Ausgeben von Beratungsnachweisen verboten, das "Aussteigen" aus dem staatlich geregelten Beratungssystem verfügt und so weiter. In nicht wenigen Äußerungen wird auch ein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt zwischen den Äußerungen von Mitgliedern der Deutschen Bischofskonferenz zur geplanten Einführung der Abtreibungspille RU 486 und diesen Deutungen des Schreibens von Papst Johannes Paul II.
Leider trifft dies - zufällig oder doch nicht? - zusammen mit der Deutung einiger (nicht aller!) Vertreter und Sympatisanten der Lebensrechtsgruppen, die immer wieder den Papstbrief vom 11. Januar 1998 im erwähnten Sinne zu deuten versuchten.
Wer den Brief des Heiligen Vaters jedoch unvoreingenommen liest, kann unschwer feststellen, daß der Papst viel präziser keinen Befehl erteilt, sondern eine Aufgabe stellt: Er bittet, "Wege zu finden, daß ein Schein solcher Art in den kirchlichen oder der Kirche zugeordneten Beratungsstellen nicht mehr ausgestellt wird. Ich ersuche Euch aber, dies auf jeden Fall so zu tun, daß die Kirche auf wirksame Weise in der Beratung der hilfesuchenden Frauen präsent bleibt." Immer wieder wird vergessen, daß der Papst nicht schlechthin das Ausstellen von Beratungsnachweisen untersagt, sondern daß er "Scheine solcher Art", die Voraussetzung sind für eine straffrei bleibende Abtreibung, für zwiespältig hält und darum fordert, daß sie in der bisherigen Form nicht mehr ausgestellt werden.
Vor diesem Hintergrund wird nicht selten die Aussage der Deutschen Bischofskonferenz im Zusammenhang der Veröffentlichung des Papstbriefes vom 26. Januar 1998 "Wir werden dieser Bitte Folge leisten" tendenziös als Ankündigung oder gar Zusage eines "Ausstiegs" gedeutet. In Wirklichkeit heißt es in der Erklärung: "Wir werden dieser Bitte Folge leisten. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die kirchliche Beratung vermindert wird. Im Gegenteil: Wir werden sie noch verstärken. Der Papst wünscht ausdrücklich, daß wir die im staatlichen Beratungssystem gegebenen Spielräume zur Rettung des ungeborenen Kindes ‚soweit wie möglich‘ nützen. Von einer Aufforderung, aus der gesetzlichen Beratung auszusteigen, kann also keine Rede sein."
Diese Texte bedürfen keines Kommentars. Sie stellen uns zwar schwierige Aufgaben, aber sie fordern auch zum beteiligten Mitdenken auf. Deshalb schaden nicht nur gezielte Indiskretionen wie Teilveröffentlichungen aus einem noch unabgeschlossenen Entwurf der Arbeitsgruppe, nicht nur mehr oder weniger absichtliche Mißdeutungen, die mehr den Wunsch der Interpreten als den objektiven Gehalt der Texte wiedergeben, sondern auch unsorgfältige Berichte und Nachrichten, die erheblich zur Desinformation beitragen.
Im Interesse einer nutzbringenden Diskussion und fairen Auseinandersetzung bitte ich deshalb - nicht zum ersten Mal - um eine sachlich fundierte, dem Problemstand angemessene und verantwortungsbewußte Beschäftigung mit den Aussagen des Papstes und der deutschen Bischöfe. Wir brauchen gewiß Mut zu klaren Aussagen und vor allem zu eindeutigen Handlungsanweisungen, aber bitte unter Berücksichtigung einer schwierigen Gesetzgebung, einer sorgfältigen Einschätzung der gesellschaftlichen Bewußtseinslage und der Komplexität einer differenzierten Sache.
© Bischof Karl Lehmann, Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz