Allenthalben gibt es die Klage, die Fundamente Europas würden heute zu einseitig von den wirtschaftlichen Interessen her bestimmt. Man beklagt nicht nur das zu langsame Wachsen ausgebauter und bevollmächtigter demokratischer Strukturen, sondern auch ein Defizit im Blick auf die sogenannten „Werte". Auf der anderen Seite besteht kein Zweifel, dass ein Gemeinsames Europa gewisse gemeinsame Wertüberzeugungen braucht, die in der Antike, im biblischen Glauben, in der Geschichte des Christentums und in der Aufklärung begründet sind. Aber so bleiben sie relativ abstrakt. Die konkrete Kultur ist in bestimmten Lebensformen und in einzelnen Regionen beheimatet und verwurzelt. Gerade diese beharren auch auf einer gewissen Autonomie. Sie wollen die farbige Kultur ihres Lebens und ihrer Überlieferungen nicht eintauschen mit einer relativ künstlichen Welt, die vielfachen Einwirkungen ausgesetzt ist. In diesem Sinne gibt es einerseits stets den Ruf, die kulturellen und auch religiösen Werte Europas stärker zu betonen, gleichzeitig aber wehrt man sich anderseits gegen jede autoritative Maßnahme in diesem besonders sensiblen Bereich.
Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die verschiedenen Kulturen und religiösen Überzeugungen sich viel stärker in die Fundamente eines neuen Europa einbringen müssen. Dies kann nicht nur gelingen durch die Berufung auf die hohe Wertigkeit dieser Überlieferungen, sondern indem der spirituelle und ethische Gehalt dieser großen Traditionen vermittelt wird mit der Mentalität und den Lebensformen der gegenwärtigen Kultur. Dies ist ein schwieriger Dialog, der nicht leicht zu führen ist. Er steckt noch in den Anfängen. Auch die Kirchen müssen sich für dieses Gespräch noch sehr viel besser zurüsten. Mir erscheint das Thema als besonders wichtig. Aber ich fühle mich auch nur in der Lage, dazu einige wenige Anstöße zu geben.
Im Folgenden werden in Thesenform einige Gedanken skizziert, die bestenfalls zur Eröffnung eines Gesprächs über das Thema dienen können. Die Leitlinien können keine Einzelinhalte des Themas formulieren, wollen aber den Horizont für ein solches Gespräch eröffnen.
I. Grundbegriffe
1. Das Verhältnis von Glaube und Kultur in Europa lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen, sondern enthält zahlreiche Spannungen und Widersprüche, die zur Situation gehören, ihre Deutung erschweren, aber auch dringend eine Interpretation fordern.
2. Unter Kultur verstehe ich hier die Art und Weise, wie der Mensch die Natur zu seiner Welt gestaltet, wobei die Formung der Welt zugleich die Selbstgestaltung des Menschen ist („zweite Natur"). Vielfach wird zwischen subjektiver Kultur (Bildung und „Gesittung") und objektiver Kultur (Gesamtheit der kulturellen Leistungen und Werke) unterschieden, wenn diese Differenzierung freilich auch nur methodischer Art ist.
Kultur wird vor allem im philosophischen Bereich des deutschen Sprachgebietes von Zivilisation unterschieden: Zivilisation erscheint als Gesamtheit der zweckrationalen Einrichtungen zur Erleichterung des menschlichen Daseins, Kultur hingegen bezeichnet jene Anstrengungen des Menschen, die mehr eine Steigerung und eine Selbstdarstellung des Menschen bedeuten in Kunst, Religion, den Geisteswissenschaften sowie in den Institutionen, die diesem Zweck dienen (Schulen, Theater, Stiftungen, Bibliotheken). Dieser Unterschied, der im außerdeutschen Bereich weniger gemacht wird, scheint heute eher zu verschwinden. Es erhebt sich vielmehr die Frage, ob in der technischen Zivilisation der „einen Welt" Kultur im überkommenen Sinn überhaupt noch möglich ist, ob Kultur nicht zu den historisch vergangenen Phänomenen zu zählen ist. Kultur kommt schließlich vom lateinischen Wortfeld „colere", das zugleich Bauen/Errichten und Pflegen/Bewahren heißt. Beides macht wahre Kultur aus und gibt schon viel zu denken.
II. Zur Grundsituation der Moderne
3. Die Situation der Kultur wird durch die geistige Situation der Zeit und der Gesellschaft mitbestimmt. Diese wechselt sehr oft ihr konkretes Gesicht. Wandlungen erfolgen rasch. Sie werden für den europäischen Raum m.E. durch folgende Stichworte gekennzeichnet, die sich gewiss zunächst notwendigerweise und unvermeidlich wie Schlagworte anhören:
a) Säkularisierung: Ursprünglich religiös geprägte Lebenszusammenhänge verlieren ihre letzte Verwurzelung in einem transzendenten Grund (Gott) und ihre Beheimatung in einem kirchlichen Kontext. Es ist strittig, ob dieser Vorgang der Säkularisierung eine Auszehrung ursprünglich christlich-substantieller Gehalte darstellt, oder ob es sich um eine Umformung und Fortbildung bzw. um ein Fortwirken handelt, die von ihnen selbst her ermöglicht wird.
Dabei versteht man unter Säkularisierung heute nicht bloß die Überführung kirchlichen Eigentums, auch von Kulturgütern, in staatlichen oder auch privaten Besitz (vgl. Reichsdeputationshauptschluss von 1803), sondern eine Wandlung vor allem des Bewusstseins, das sich mindestens so verhält, „als ob es Gott nicht geben würde". Die Kultur - spätestens seit der Aufklärung, jedoch bereits wirksam zum Beginn der Neuzeit - scheint zunehmend von einem solchen Trend zur Säkularisierung bestimmt zu werden.
Es gibt keine Anzeichen, dass diese Dynamik grundlegend im Sinne einer epochalen Wendung gebremst und verändert werden könnte. In diesem Sinne erscheint die Säkularisierungsdynamik als unumkehrbar. Was dies für die Bedingungen von Religiosität überhaupt heißt, wird noch zu bedenken sein. Die Zweifel an dieser meist einfach vorausgesetzten Irreversibilität sind jedoch sehr gewachsen, vor allem auch in der amerikanischen Religionssoziologie der letzten Jahrzehnte.
b) Funktionalisierung: Die Wirklichkeit wird nicht mehr im Ganzen der Welt und des Seins überhaupt verstanden, sondern sie wird vor allem von den Zielsetzungen ihrer jeweiligen Teilbereiche her begriffen. Dabei steht nicht so sehr die Realität selbst in ihrer eigenen Bedeutung im Vordergrund, sondern ihre zweckrationale Finalisierung. Die einzelnen Systembereiche (z.B. Wirtschaft, Sport, Kunst, Religion, Medizin) werden in ihrer jeweiligen Bestimmung verselbstständigt und schließen sich gegeneinander ab. Die Frage nach dem Ganzen der Welt wird sehr zurückgedrängt, oft sogar eliminiert. Religion erscheint entweder als ein partieller Sektor, der zur Klärung z.B. menschlicher Grenzsituationen dient, wird als Serviceleistung für religiöse Bedürfnisse verstanden oder überhaupt an den Rand der gesellschaftlichen Belange gedrängt. Religion wird so auf sich selbst zurückgeworfen und verliert ihre von Hause aus gegebene Begegnung und Auseinandersetzung mit der kulturellen Welt. Religion wird selber funktionalisiert, damit freilich auch mit anderen kulturellen Äußerungen äquivalent und darum austauschbar. Dies ist für Kirche und Kultur jeweils eine gefährliche Isolierung.
c) Pluralismus: Die auch in der modernen Demokratie verfassungsmäßig verbürgte, zunächst negative Religionsfreiheit bringt einen weltanschaulichen und religiösen Pluralismus hervor, in dem alle Religionen und jeweiligen Weltanschauungen gleich-gültig sind und darum auch jeweils nur in ihrem individuellen Anspruch nach innen nebeneinander stehen. Diese Pluralität ist nicht gleichzusetzen mit einer allgemeinen faktischen Vielfalt, sondern ist grundlegend und unaufhebbar. Sie lässt Religion weitgehend als private Angelegenheit erscheinen, während ihr öffentlicher Charakter mindestens faktisch zurückgedrängt wird. Die Religion selbst zieht sich ihrerseits jedoch auch leider oft in eine Nische zurück.
d) Ambivalenz: Nach anfänglich hohen Erwartungen über die Errungenschaften der Moderne wurde die Welt in der Neuzeit immer nüchterner begriffen. Man wollte die unabänderliche Zweideutigkeit menschlicher Existenz beseitigen, um eine übersichtliche Welt zu erhalten. Wir mussten aber lernen - und dies macht besonders auch die Postmoderne aus -, dass wir in vielen Zwei- und Mehrdeutigkeiten unserer Welt leben müssen. So wurde die grundsätzliche Ambivalenz der Welt und die Zufälligkeit unserer Existenz noch eindrücklicher. Überall muss man besonders als Preis unserer Freiheit Grenzen wie Chancen, Gewinne und Verluste, Fluch und Segen wahrnehmen. Verschiedenheit und Toleranz treten darum auch viel stärker in den Vordergrund, eben um die Freiheit zu schützen (vgl. die zahlreichen Studien von Zygmunt Bauman).
Dadurch entsteht insgesamt eine Situation, die durch die hochgradige Subjektivierung und Individualisierung in der Gesellschaft zusätzlich gesteigert wird. Es stehen sich dann nicht nur unvereinbare Lebens- und Glaubensdeutungen gegenüber, sondern oft finden sich unausgleichbare Spannungen im Individuum selbst, das sich teils in einer synkretistischen Manier verschiedene Versatzstücke aus unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen zusammenbastelt. So gibt es das eigentlich unverständliche Bedürfnis nach Polytheismus, Remythisierung usw.
Diese grundlegende Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit wird jedoch nicht als belastend oder störend empfunden, sondern wird sogar eher als Ausdruck der Freiheit gewertet. Die Individualisierung entleert das menschliche Zusammenleben im Blick auf gemeinsame verbindliche Normen und ist besonders wirksam im Bereich der Kultur, vor allem auch der Kunst, wo fast alle Kriterien entfallen: Im Namen der Freiheit der Kunst gibt es z. B. hinsichtlich des Schutzes der Religion kaum wirklich durchsetzbare Grenzen mehr (vgl. die neueste Diskussion zu Blasphemie, Gotteslästerung usw.).
Diese vier Grundelemente bestärken sich gegenseitig und führen insgesamt zu einer erheblichen Sinnkrise sowohl beim Einzelnen als auch in der Gesellschaft. Diese Krise wird jedoch generell eher heruntergespielt.
III. Erschwernisse im Dialog
4. Der Dialog zwischen Glaube und Kultur wird dadurch verändert und schwierig. Religion und Kirche erscheinen als von ihren Interessen geleitete gesellschaftliche Teilsysteme, die ähnlich behandelt werden wie etwa Verbände. Die Religion hat am meisten Chancen, in ihrer Bedeutung anerkannt zu werden, wenn größere historische Jubiläen gefeiert werden (z.B. 450. Todestag von Luther, 1000 Jahre Bamberger Dom, 500. Geburtstag von Calvin). Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass dabei weniger die aktuelle spirituelle und religiöse Geltung ins Spiel kommt, sondern Religion ist auf diesem Weg oft in Gefahr, musealisiert und archiviert zu werden. Sie erscheint so als eines der historischen Monumente, die wie Fremdkörper in unsere Zeit hineinragen. Ein eigentlicher Dialog, der auch den Sinnanspruch für die heutige Gegenwart - mindestens als Einladung und hypothetisch - akzeptiert, ist relativ selten möglich, jedenfalls im Sinne einer größeren Öffentlichkeitswirkung.
Wenn früher gesagt wurde, dass die Frage nach einem Ganzen der Welt weitgehend ausfällt, so muss man dies ergänzen, dass es freilich bei aller Segmentierung der Lebensbereiche, die schwerlich ein Gesamtsystem zulässt, doch so etwas wie verbindende Interessen gibt. Eine der wenigen Klammern, die in diesem Sinne systemumfassend wirken - und zwar ganz besonders in der öffentlichen Meinung -, ist das Politische. Dies ist selbstverständlich nicht im Sinne der Parteipolitik gemeint, sondern damit wird ein Kriterium aufgestellt, ob etwas für die praktische Gestaltung der Gesellschaft relevant ist oder nicht. Diese Fragestellung gewinnt natürlich immer eine eigene Nähe zur politischen Landschaft, zu Parteiprogrammen und politischen Auseinandersetzungen.
Der Dialog mit der Kultur ist oft von diesen Perspektiven beherrscht, so dass das Politische im Grunde auch eine Dominanz gegenüber der Kultur gewinnt. Darunter leidet die Unabhängigkeit des Kunstschaffens und der Künstler, die leider auch da und dort stark von der Parteipolitik bestimmt werden sind und sich von ihr bestimmen lassen (z.B. Wahlkampfhilfe von Schriftstellern und Künstlern).
5. Dies alles erschwert den Dialog zwischen Glaube und Kultur unter den Bedingungen der heutigen Zivilisation in Europa. Hinzu kommen verschiedene andere Elemente, so z.B. ein starker Bruch in der Weitergabe des kulturellen Erbes und darin auch der religiösen Tradition. In verschiedenen Schüben gab es seit 1968 ein immer stärkeres Abbröckeln lebendiger Traditionen zwischen den Generationen, so dass man wirklich von einem Abbruch der Überlieferung und von einem Bruch in ihrer Weitergabe sprechen muss. Da das kulturelle Erbe entscheidend auch von biblischen Personen und Gehalten sowie von religiösen Themen bestimmt wird, sind die Voraussetzungen erheblich geschwächt, um z.B. das Kulturerbe wahrzunehmen und zu verstehen, zu bewahren und zu pflegen. Andere Kulturgüter sind an ihre Stelle getreten, wie man z.B. am Verhältnis der Jugend zur Musik zeigen könnte. Die Möglichkeiten der digital-elektronischen Kommunikation vom Internet zu Facebook verändern diese Beziehungen noch radikaler. In Frage steht damit freilich mehr und mehr das Bildungsverständnis.
Es ist auch nicht zu verkennen, dass die Kultur eine viel größere Nähe zur bloßen Unterhaltung gewonnen hat und dass der Umgang mit Kulturgütern in vielem einem Konsum-Verhalten entspricht. Kulturgüter, besonders moderner Herkunft, werden geschaffen und weggeworfen, gebraucht und benutzt (vgl. Adornos Wort von der „Kulturindustrie"). Sie scheinen in sich selbst wenig Wert zu haben. Mit diesem Trend geht eine sehr starke Trivialisierung der Kultur einher, die nicht nur - was noch förderlich wäre - eine engere Verbindung zwischen Alltagsleben und Kultur anstrebt, sondern nicht selten banal wird und wirkt. Es ist auch nicht verwunderlich, dass damit eine Verflachung der Tiefe des Menschseins und der Wirklichkeit überhaupt einhergeht, zumal auch ein Transzendenzbezug in hohem Maß ausfällt. Diese Boulevardisierung hat in der Zwischenzeit auch in einem hohen Maß die Kultursendungen der Fernsehanstalten und die Feuilletons der Print-Medien erreicht.
IV. Kultur und Medien
6. Schließlich ist nicht zu verkennen, dass der Umgang mit der Kultur in einem sehr hohen Maß nicht mehr in der unmittelbaren Begegnung mit dem Kulturerbe selbst erfolgt, sondern im Umgang und Durchlauf über die Medien. Besonders das Fernsehen tritt für viele Menschen an die Stelle von Kultur und ist oft der einzige Ersatz dafür. Wenn auch die Wirkungsforschung des Fernsehens und der Medien nicht genügend gesichert ist, so darf man doch davon ausgehen, dass - abgesehen von hochwertigen Sendungen, die wirklich kulturell höchst anregend sind und sein können - der Konsumcharakter im Umgang mit Kultur und auch eine gewisse Banalisierung verstärkt werden. Hinzu kommt, dass die Orientierung der Fernsehanstalten an den Einschaltquoten ganz eindeutig dem Bildungsauftrag des Fernsehens, den z.B. in Deutschland die öffentlich-rechtlichen Anstalten haben, abträglich ist. Die Kommerzialisierung des Fernsehens und eine Trivialisierung von Stoff und Stil sind in den letzten Jahren vor allem aber von Seiten der privaten TV-Sender sehr gestiegen. Die Chancen für eine intensive Förderung des großen Kulturerbes, die durchaus im Medium Fernsehen gegeben wäre, sind dadurch eher gesunken, besonders im Zeitalter des Siegeszuges des Internets.
Die Themen und Stoffe, die das Fernsehen heute in das gesellschaftliche Gespräch einspeist, werden zwar sehr dominant und sind ein mächtiger Faktor der heutigen Massenkultur, sie werden aber gleichzeitig durch das Fernsehen selbst wenig geklärt. Dies ist eher eine Chance der Dritten Programme im Fernsehen, des Radios und der Print-Medien. Auch bei abnehmenden Lesegewohnheiten, die nicht zuletzt unter den jungen Generationen, bei Ausländerkindern, aber auch in anderen Schichten der Bevölkerung neue Analphabeten schaffen, wird jedoch die Bedeutung von Buch und Zeitung noch lange bleiben. Die rasante Entwicklung auf dem gesamten Feld der Telekommunikation zeigt jedoch, dass die künftige Informationsgesellschaft bereits heute eine wirkliche Lese-Kultur bedroht (vgl. z. B. die Frankfurter Buchmesse 2012). Dabei muss man erkennen, dass alle Kultur bei der zunehmenden Kommerzialisierung längst zur Ware geworden ist. Ware aber ist dem Gesetz des Angebotes und der Nachfrage ausgesetzt und damit auch gegen neue Waren austauschbar. Sie wird abgestoßen, wenn ihr Verkauf zurückgeht, ganz unabhängig von ihrer wirklichen Qualität. Dies zeigt sich auch im Verlagswesen, wo z.B. hochwertige Bücher bei geringerem Absatz schon früh „verramscht" werden. In welchem Maß Digitalisierung und Internet eine weitere regelrechte Revolution bedeuten, kann hier nicht mehr behandelt werden, liegt aber auf der Hand und bedarf weiterer Studien. Ich will mich nicht auf bloße Vermutungen einlassen.
V. Metamorphosen des Religiösen
7. Diese Gesamtsituation macht deutlich, dass der Dialog zwischen Glaube und Kultur erheblich schwieriger geworden ist. Dies gilt auf jeden Fall für seine Rolle im gesellschaftlichen Leben und in der Kulturpolitik. Die ständige Privatisierung des Religiösen macht Religion irgendwie unsichtbar, weil sie in hohem Maß in das Private abgedrängt wird. Im Gegenzug kann Religion durch politische Umdeutung und Instrumentalisierung zwar öffentlich werden, aber durch diese Funktionalisierung auch ihre eigene Seele verlieren.
Dabei ist es erstaunlich, dass beim Vorgang dieses Zurückdrängens von Religion aus dem öffentlichen Raum eine merkwürdige Entwicklung sichtbar wird. Religion wird nämlich nicht einfach abgeschafft. Vielmehr erscheint sie in sehr vielfältigen und manchmal höchst fragwürdigen Formen wiederum in der Gesellschaft. Sie begegnet einem häufig in sehr individuellen und subjektiven Formen, die früher unter dem Stichwort eines neuen Synkretismus bereits umschrieben worden sind. Religion wird nach dem Rezept persönlicher Bedürfnisse zusammengebraut. Sehr oft ist eine solche subjektive Religiosität abgelöst von einer Gemeinschaft und entfernt sich auch von ihrer elementaren Bindung an ein Ethos, jedenfalls ein individuelles Ethos. Eine solche Religiosität verliert nicht nur den notwendigen Anhalt an einer tragenden Gemeinschaft und eine Art institutioneller Stütze, sondern sie büßt durch das Zurücktreten der sozialen Kontrolle, die einfach schon durch eine größere Gemeinschaft erfolgt, an Transparenz und rationaler Erhellbarkeit ein. Nicht selten wird Religion dadurch dumpf und nähert sich dem Aberglauben. Es ist darum erstaunlich, wie sehr z.B. Satanskulte erneuert werden, alte vorchristliche Riten und auch Umdeutungen christlicher Symbole (z.B. „Schwarze Messen") zunehmen. Solche religiösen Anwandlungen, die meist kirchendistanziert auftreten, sind erfahrungsgemäß nur kurzlebig und folgenlos, können aber vor allem durch die Vermischung mit Sex, Kommerz und autoritären Strukturen die Einschätzung von Religion in einer Gesellschaft untergraben.
VI. Unterscheidung der Geister
8. Es versteht sich von selbst, dass unter solchen Umständen der Dialog zwischen Glaube und Kultur zusätzlichen Schaden erleidet. Hier muss der christliche Glaube viel mehr als bisher entlarvende Ideologiekritik treiben und eine gründliche Unterscheidung der Geister walten lassen. Unter der Decke einer angeblich aufgeklärten Gesellschaft und ihrer Säkularität schlummern viele fragwürdige, religiös verbrämte Irrlichter, denen gegenüber das Christentum selbst eine gründliche Religionskritik betreiben muss. Sonst kann der biblische Glaube selbst der Verwechslung kaum entgehen. Deshalb muss die Kirche auch viel mehr ihr eigenes kulturelles Erbe pflegen und härter z.B. gegen Kitsch in ihrem eigenen Bereich vorgehen, der sich vielfach eingeschlichen hat, nicht zuletzt im Brauchtum und im Wallfahrtswesen. Es fehlt eine breite religiöse Massenkultur, obgleich es durchaus einige gute Ansätze hierzu gibt.
VII. Der Rang der Kultur für die Kirche und der Kirche für die Kultur
9. Meine Bilanz ist nüchtern, aber nicht pessimistisch. Die allgemeine Lage darf nicht beschönigt werden. Einzelne Ausnahmen dürfen nicht überschätzt werden. Deswegen ist jedoch der Dialog zwischen Glaube und Kultur nicht hoffnungslos. Im Gegenteil. Er kann vor diesem Hintergrund sogar eine ganz neue Qualität erhalten, freilich nur unter gewissen Bedingungen.
Dies gilt auch noch in einer anderen Hinsicht. Wir haben bisher - auch in diesem Beitrag - vielleicht zu viel dem modernen Stil von Kultur Rechnung getragen. Dieser Begriff ist aber nicht der einzige, besonders wenn er sehr an „Events" gebunden oder gar auf solche fixiert wird. Es gibt eine Kulturarbeit, die weit über das Amüsement und das Vergnügen hinausgeht und Kultur als wesentlichen Bestandteil humanen Lebens in den Blick nimmt. Dabei geht es auch nicht nur um Gruppeninteressen. Aus dieser Sicht rücken Kunst und Religion näher zueinander. Es gibt ohnehin noch viele Gemeinsamkeiten. In der Tat ist gerade auch die Bibel für die Geschichte Europas das „Weltkulturerbe" schlechthin. Es gibt ein breites und tiefes Echo auf Kunstausstellungen im Kontext von Religion und Kultur.
Als der Deutsche Bundestag 2003 eine Enquête-Kommission unter dem Titel „Kultur in Deutschland" einrichtete, gab es nach einiger Zeit im abschließenden Gutachten von Professor Dr. Theodor Vogt aus Sachsen ein überraschendes Ergebnis. Man kann es am einfachsten in Zahlen wiedergeben. 20 % der kirchlichen Einnahmen, jährlich zwischen 3,5 und 4,8 Mrd. Euro, machen das Engagement der Kirchen auf dem Feld der Kultur aus. Damit sind die Kirchen der zweitgrößte Kulturförderer in Deutschland, gleichauf mit Ländern und Gemeinden, ohne dass dies bisher in den entsprechenden Berichten erfasst worden wäre. Von größter Bedeutung ist auch, dass die Kirchen ein besonderes Augenmerk auf die kulturelle Breitenarbeit und das bürgerschaftliche Engagement legen. In der Tat finden die kulturorientierten Veranstaltungen der Kirchen, vor allem einschließlich von Kunst und Musik, ein großes Interesse und werden in der Kirche vielleicht immer noch in ihrer auch missionarischen Bedeutung unterschätzt (vgl. Belege und Nachweise in der Reihe „Arbeitshilfen" der Deutschen Bischofskonferenz, Nr. 212, „Kirche und Kultur", Bonn 2007).
Es gibt im Übrigen nicht mehr viele öffentliche Einrichtungen, die das Kulturerbe überzeugend pflegen. Die Kirche muss mit diesen Kulturzentren und besonders den Kulturpflegenden einen engeren Kontakt haben. Dies gilt auch für einen Teil der Kulturwissenschaften an den Hochschulen, und zwar in Lehre und Forschung. Der Glaube, gesellschaftlich gestützt durch die Kirche, muss heute dem Kulturerbe zu Hilfe kommen, damit es wahrgenommen, aus seinem eigenen Lebensgrund gedeutet und in vielen Fällen auch gerettet wird. Dabei zeigt sich, dass die Kirche über die Jahrhunderte ein starker und überzeugender Kulturträger ist, der gerade auch heute seine Funktion behält. Deshalb wäre es töricht, an dieser Stelle Finanzmittel einzusparen, denn anhand der christlich inspirierten Kultur kann es auch heute noch z.B. bei vielen Kirchendistanzierten über diesen Dialog zu einer Begegnung mit dem Glauben kommen. Die bewahrende Funktion des Dialogs ist nicht die einzige. Die Erneuerung eines nicht so lautstarken, unauffälligen und z.T. auch unterschwelligen missionarischen Bewusstseins darf an den Möglichkeiten der Kultur nicht vorbeigehen.
10. Die Kirche wird den Dialog zwischen Glaube und Kultur auch fördern, indem sie an die Kulturschaffenden neue Aufträge vergibt. Dies gilt nicht nur für den Kirchenbau und für die künstlerische Gestaltung des Innenraums sakraler Gebäude, sondern auch für die bildende Kunst und die Musik, das Theater und nicht zuletzt den Film. Hier ist grundsätzlich keine Sparte ausgeschlossen. War die Kirche früher in einem sehr umfassenden Sinne Mäzen, so darf sie heute bei bescheideneren Mitteln nicht auf Auftragsarbeiten verzichten. Sie muss dabei auch den Mut haben, an anerkannte Künstler heranzutreten, die in ihrem bisherigen Werk vielleicht wenig oder kaum christliche Themen gestaltet haben. Die Glasfenster von Gerhard Richter im Kölner Dom sind nur ein Beispiel.
Man darf in diesem Dialog auch Experimente nicht scheuen und muss Wagnisse in Kauf nehmen. Freilich sollte man eine echte Herausforderung, die verständlich gemacht werden kann, von bloß schockierenden Ärgernissen unterscheiden. Es gibt jedoch viele Beispiele, wie durch ungewohnte Formen die elementare Neuheit des Christentums überzeugend zum Ausdruck gebracht werden kann. Man denke beispielsweise an die Kreuzigungs- und Kreuzesdarstellungen eines Arnulf Rainer.
11. Die Kirche muss in diesem Dialog aufmerksam bleiben, damit sie verborgene oder bisher wenig genutzte Anknüpfungspunkte für den Glauben nicht verkennt, weil ihr manches vielleicht kühn, provozierend und sogar ärgerlich erscheint. Ich erinnere z.B. an die oft brutale Ausdruckskraft, mit der im Kirchenraum und bei Kreuzigungsdarstellungen die Gewalt zur Anschauung kommt. Ich denke aber auch an die Auseinandersetzung mit den wirklichen Grundfragen des Menschseins, wie z.B. Leid und Schmerz, Verlust eines geliebten Menschen und Tod. Hier kann die Kunst die Erfahrung des Menschlichen im Raum der Kirche fördern und vertiefen. Wer hier bei großen künstlerischen Leistungen den Weg des Menschlichen nicht mitgeht und zu früh den Dialog abbricht, verkürzt nicht selten wichtige Dimensionen des Menschseins und raubt so auch dem Christlichen die Kraft zur Durchdringung der Welt und der Kultur.
VIII. Orte des Dialogs
12. Für diese Formen der Begegnung und eines neuen Dialogs bedarf es auch eigener Strukturen. Man darf diese Aufgabe des Dialogs nicht einfach dem Zufall überlassen. So sehr man dafür im Raum der Kirche geeignete Persönlichkeiten braucht, so sehr bedarf es gerade auch angesichts mancher Fremdheit zwischen Glaube und Kultur einer unentwegten und beständigen Vermittlung. Diese muss sich ihre Foren schaffen, die zum Dialog führen. In Europa ist darum in den vergangenen Jahrzehnten trotz aller Schwierigkeiten eine Reihe von Institutionen gewachsen, die heute für die gesuchte Begegnung unersetzlich sind:
- Von alters her haben hier Stiftungen eine sehr hohe Bedeutung. Sie beziehen sich auf die ganze Bandbreite von Kultur und haben bis heute z. B. Kirchenbauten, Literatur, Theater, Musik, Museen usw. ermöglicht. Dazu gehört in der heutigen Zeit eine andere Form von Stiftungen, wie wir sie z. B. in Berlin in der Guardini-Stiftung haben.
- An vorderster Stelle sind hier und heute auch die Kirchlichen Akademien zu nennen, die in ihrer Freiheit und Unabhängigkeit eine ganz besonders wichtige Brücke des Gesprächs zur modernen Kultur hin darstellen und in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden können. Dies wäre gewiss - ähnlich wie bei den Stiftungen - einer eigenen Erörterung wert.
- Die Erwachsenenbildung hat im Zusammenhang mit vielen Einrichtungen (kirchliche Museen, Archive, Werkstatt-Besuche usw.) zahlreiche Möglichkeiten, den notwendigen Dialog zu fördern.
- Ein eigenständiges Verlagswesen, das christlich inspiriert ist, behält hier eine große Bedeutung, die m.E. von der Kirche noch nicht oder nicht mehr genügend wahrgenommen und geschätzt wird.
- Es gibt im Lauf eines Jahres in vielen Diözesen regelmäßig wiederkehrende Gelegenheiten zu diesem Dialog, z.B. beim „Aschermittwoch der Künstler". Weiter gibt es in den kirchlichen Bildungshäusern Europas regelmäßige Kunst-Ausstellungen und entsprechende Führungen und Tagungen, auch Auszeichnungen und Preise.
- Die Kirche darf nicht darauf verzichten, hauptamtliche und ehrenamtliche Experten zu gewinnen, zugleich sollte sie Aus- und Fortbildung fördern, die in diesem Bereich weiterführend sind.
Dies sollen nur einige Hinweise sein, die leicht vermehrt werden können.
IX. Kein Grund zur Resignation
13. Gewiss wären noch viele Perspektiven zu nennen. Dabei ist vielleicht sichtbar geworden, dass man im Blick auf den gegenwärtigen Dialog von Glaube und Kultur zwar die Schwierigkeiten sehr nüchtern erkennen soll, jedoch deswegen noch längst kein Grund zur Resignation besteht. Der Bereich dieses Dialoges bietet immer wieder Überraschungen, wie es im Grunde ja auch dem Wesen des Glaubens und dem Wesen der Kunst entspricht.
Deshalb ist es auch gut, dass es zur Anregung und Ermutigung dieses Dialogs einen Päpstlichen Rat für die Kultur gibt, der daran erinnert, dass dieses Gespräch nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch jetzt und künftig zum Grundauftrag der Kirche gehört. Ähnliche Einrichtungen gibt es inzwischen wenigstens zum Teil auch auf der Ebene der Bischofskonferenzen und Diözesen. Eine kulturlose oder kulturfremde Kirche würde sich auf die Dauer selbst zerstören. Der Glaube bedarf stets einer Inkulturation, die Bewahrenswertes pflegt und frisch aufschließt, Neues wagt und weitergibt: Nova et vetera.
X. Blick auf die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Verhältnis von Kultur und Kirche
14. In diesem Zusammenhang muss auch daran erinnert werden, dass das Zweite Vatikanische Konzil dem Verhältnis der Kirche zur Kultur umfangreichere Ausführungen gewidmet hat. Es handelt sich dabei vor allem um die Aussagen in der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes", und zwar besonders im II. Hauptteil, Zweites Kapitel, Artikel 53-62. Man wird auch feststellen müssen, dass die Erforschung des Zweiten Vatikanischen Konzils an diesen und anderen Aussagen bisher kein größeres erkennbares Interesse gezeigt hat. Dies hat viele Gründe: Der umfangreiche Gesamttext von „Gaudium et spes", die Vielschichtigkeit der Tendenzen, der etwas diffuse Gebrauch von „Kultur", die verschiedene Rezeption dieses Textes in den einzelnen nationalen Kulturen usw. Dennoch ergeben sich einige wichtige Aussagen über die grundsätzliche Beziehung von Christentum und Kultur (Art. 42, 62), zur Wesensbeschreibung des Verhältnisses (Art. 53), zum notwendigen Freiheitsraum jeder Kultur und zu seiner Unverletzlichkeit (Art. 59), zu den heutigen Antinomien (Art. 56), zur notwendigen Ausrichtung der Kultur auf die Gesamtentfaltung der Person und das Wohl der menschlichen Gesellschaft (Art. 59) usw. Bei einer umfassenden Analyse müsste man auch andere Aussagen in den Konzilsdokumenten heranziehen, z. B. die Erklärung über die christliche Erziehung „Gravissimum educationis" (Art. 6, 8, 10), das Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam actuositatem" (Art. 7), die Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium" (Art. 36). Man müsste hier freilich auch die Aussagen des Konzils zum Verhältnis von Kirche und Kunst und zur Inkulturation heranziehen. Auch wenn dieses Kulturverständnis in verschiedenen Kontexten sehr vielfältig ist, so sollte man doch wenigstens eine systematische Zusammenschau der vielen Aussagen versuchen. Dies ist m.W. noch nicht ausreichend geschehen, auch nicht in den repräsentativen Kommentaren zu den Konzilsverlautbarungen. Vielleicht darf man gerade erwarten, dass in der Programmatik des Konzilsgedenkens diese Dimension verstärkte Aufmerksamkeit erfährt. Diese ist jedoch unbedingt notwendig, wenn man wirklich kompetent über die Kirche in der Welt von heute handeln will. Auch wenn man in diesem Bereich theoretische Ausführungen nicht überschätzen kann und darf, so ist gerade auch im Zusammenhang der Bildungsdiskussion eine fundamentale Reflexion unentbehrlich.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz