Seit Jahrzehnten ist nicht nur in unserem Land, sondern auch in Europa und in den modernisierten Gesellschaften der Umgang mit dem Leben ein Dauerbrenner. Immer wieder dachte man, wenn das eine oder andere Thema juristisch durch die Gesetzgebung geklärt sei, wie z.B. Abtreibung, dann kehre auch eine gewisse Ruhe ein. Das Gegenteil ist der Fall.
Und dies nicht nur im Blick auf den Menschen, vor allem die vorgeburtliche Phase und das Ende des Lebens. Es gibt Themen, die uns auch um die Ethik der Tierhaltung umtreiben. Obwohl man glaubt, dass allmählich grundlegende ethische Standards zur Anerkennung gelangt seien, hören wir über die Massentierhaltung und viele Umstände beim internationalen Tiertransport von fast unglaublichen Rücksichtslosigkeiten. Aber auch im Blick auf andere Lebensbereiche, z. B. Artenerhaltung oder Folgen des menschengemachten Klimawandels, sind wir noch schlimmer als schwerhörig. Wann endlich wachen wir auf?
Das Jahr 2015 wird eine neue Bewährungsprobe, wenigstens in unserem Land, darstellen. Das ganze Jahr über werden wir über die Beihilfe zur Selbsttötung und die Tötung auf Verlangen diskutieren und streiten. Es gibt, wie die Diskussion im Deutschen Bundestag Ende des vergangenen Jahres zeigte, gute Belege und Beispiele, dass man auch bei unterschiedlichen Meinungen fair und sensibel miteinander umgehen kann. Auch wenn dies noch kein Ergebnis für sich darstellt, war es doch eine Sternstunde, wie wir sie hoffentlich noch öfter erleben können.
Aber es gibt auch sonst noch viele Themen, die uns hart herausfordern. Dazu gehört ein Blick auf unsere Nachbarn jenseits der nationalen Grenzen. Es gibt in der Schweiz immer mehr begleitete Suizide; in Frankreich werden Abtreibungen ohne Notlage möglich; in Belgien diskutiert man nicht nur über die vereinbarte Tötung von Kindern und Jugendlichen. Im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte prallen die verschiedenen Anschauungen aufeinander, wie sich beim Thema Recht auf Euthanasie zeigt. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist Gott sei Dank immer noch ein Prellbock für besonders kühne Neuerungen.
Es gibt Themen, die eben nach einer Gesetzgebung nicht zu einem ruhigeren Terrain führen, sondern die immer neue Probleme aufwerfen, wie vorgeburtliche Diagnostik, Grundbestimmungen und Ethik der Organtransplantation, Bewertung der Feststellung des Hirntodes, Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung. Eine besondere Herausforderung stellt der Umgang mit der Leihmutterschaft in Deutschland und in Verbindung mit dem Ausland dar. Das jüngste Urteil des Bundesgerichtshofes zur Anerkennung homosexueller Paare als Eltern eines Kindes, das durch eine bestellte und bezahlte Leihmutter ausgetragen worden ist, zeigt eine bedenkliche Kehrtwendung auch auf hoher Ebene an. Die Liste könnte leicht erweitert werden. Was für ein Frauenbild zeigt sich hier?
Die dynamische Fortschreibung immer neuer Möglichkeiten, wenn sie nur technisch durchgeführt werden können, so z. B. bei künstlicher Befruchtung und Leihmutterschaft, gibt schon lange vorgetragenen Argumenten Recht, dass nämlich gewisse Liberalisierungstendenzen zu einem „Dammbruch" grundsätzlicher ethischer Grenzen führen. Es lässt sich übrigens gut beobachten, dass bestimmte Medien - besonders im etwas dürren „Sommerloch" - gewisse progressive Forderungen unterstützen und forcieren, wie es z. B. beim Thema des assistierten Suizids im vergangenen Sommer deutlich wurde.
Wie weit wollen wir eigentlich in der Zulassung biopolitischer Entscheidungen gehen? Wo ist die Grenze einer extremen Individualisierung? Es geht ja nicht um Ermessensurteile, wie z. B. die Einführung eines Mindestlohns oder die Festlegung des Renteneintrittsalters, sondern um elementare Grundsätze, z. B. des Verbotes, einen unschuldigen Menschen zu töten. Hier geht es um prinzipielle Werturteile. Von den entsprechenden Grundurteilen her werden auch andere und spätere biopolitische Entscheidungen beeinflusst. Was bedeutet es auf die Dauer, wenn z. B. bei der vorgeburtlichen Kindstötung die Macht des Stärkeren über den Schwächeren faktisch anerkannt wird? Wir reden seit Jahrzehnten über „Grundwerte", die eine Gesellschaft zusammenhalten. Es gibt einen Schutz des menschlichen Lebens, der auch dem Recht auf Privatleben vorgeht.
Manchmal gilt Deutschland im Blick auf die biopolitische Gesetzgebung nicht nur als konservativ, sondern als altmodisch und verstaubt. Wir haben nicht nur aus der Geschichte, sondern auch von der Gegenwart her gute Gründe, hier für ein Höchstmaß an Sensibilität für das Leben einzutreten.
Das Jahr 2015 bringt dafür einige Bewährungsproben. Dies gilt auch für die Fragen und Folgen des Klimawandels. Es ist gut, dass Papst Franziskus zu diesen Fragen seine zweite Enzyklika angekündigt hat. Unser Gewissen kann inmitten des Soges, in dem wir alle stecken, dadurch nur gestärkt werden. Vielleicht ist dies neben der Treue zu unseren Glaubensüberzeugungen auch das grundlegende Thema für das persönliche und öffentliche Zeugnis des Christen im Jahr 2015. Es ist dafür höchste Zeit.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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