Die Diskussionen der letzten Wochen und Monate über Gentechnik und Menschenwürde, Lebensschutz und Bioethik waren so stark auf die Probleme unseres Landes konzentriert, dass wir manchmal fast vergessen haben, dass wir auch die europäischen Rechtsverhältnisse in die Erörterungen einbeziehen müssen. Wir leben nicht nur eng mit unserem Nachbarn zusammen und erfahren immer wieder Einwirkungen von ihnen her, sondern es gibt auch rechtliche Vorgaben der europäischen Institutionen. Besonders künftig werden manche Entscheidungen auf der europäischen Ebene fallen. Wir haben noch zu wenig bedacht, dass auch in diesem Bereich das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht vorgeht.
Nun wollen wir gerade die Stärke unserer deutschen Rechtstradition hier nicht zu kurz kommen lassen. Es ist auch heute noch erstaunlich, dass das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten vor mehr als 200 Jahren den noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis an die Menschenrechte zubilligte. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 1975 und 1993 haben diesen Strang unserer Rechtsordnung bekräftigt und der Gesetzgebung als Leitfaden an die Hand gegeben. So mangelhaft auch einige Teile unserer Abtreibungsregelung sind, so sehr muss man anerkennen, dass unsere Regelungen sich im europäischen Kontext wenigstens grundsätzlich sehen lassen können. In unseren deutschsprachigen Nachbarländern ist das Leben des ungeborenen Kindes viel weniger geschützt.
Bei näherem Zusehen fällt auch auf, dass es offenbar in den einzelnen Mitgliedsstaaten so etwas wie verschiedene Rechtskulturen für den Schutz des ungeborenen Kindes gibt. Dies wird man besonders für die Frühschwangerschaft und die ersten 14 Tage nach der Empfängnis sagen dürfen, auch wenn man einen gemeinsamen europäischen Rechtsboden nicht außer Acht lässt.
Am meisten fällt dies in der gegenwärtigen Diskussion im Blick auf England und Frankreich auf. Denn offensichtlich lassen die Rechtsordnungen, aber auch die rechtlich orientierten Mentalitäten, die schließlich auch hinter den Gesetzen stehen, gerade in der Frühentwicklung dem Embryo weniger Schutz angedeihen, als dies z.B. in unserer Tradition der Fall ist. Dies gilt ganz besonders für das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1991, das den Beginn des menschlichen Lebens kategorisch im Augenblick der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle sieht und entsprechende Schutzbestimmungen ableitet.
Wenn manche Kreise – vielleicht nicht in dieser Legislaturperiode – gerne das Embryonenschutzgesetz modifizieren möchten, dann steht eben auch die beschriebene deutsche Rechtstradition zur Entscheidung an, auch wenn diese nicht in allem einheitlich ist. Es steht also mehr auf dem Spiel.
Das europäische Gemeinschaftsrecht ist im Blick auf unser Thema noch wenig entwickelt. Die Stellungnahmen der europäischen Menschenrechtskommission, die Menschenrechtskonvention und auch die erst kürzlich grundsätzlich gebilligte Grundrechte-Charta sind in unserer Hinsicht eher schwach formuliert und versprechen keinen hohen Schutz. Vielleicht darf man dies auch vom Europäischen Gerichtshof sagen. So werden die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten weiterhin eine erhebliche Rolle spielen. Wohin die künftige europäische Rechtsnormierung sich entwickelt, ist darum im Augenblick kaum voraussehbar.
Insgesamt ist dies kein Grund zur Beruhigung, aber auch nicht zur Resignation. Die einzelnen Mitgliedstaaten müssen ihre Rechtstraditionen auch im Bereich des Lebensschutzes stärker zur Geltung bringen. Dies gilt besonders für die Parteien, die sich auf christliches Gedankengut in ihrem Grundsatzprogramm berufen. Es ist aber auch ein hohes Gebot der Stunde, dass die christlichen Kirchen gemeinsam und je für sich auf der europäischen Ebene immer wieder das Lebensrecht des ungeborenen Kindes einfordern. Dies gilt besonders für die katholische Kirche. Papst Johannes Paul II. hat mit Recht darum auch weltweit immer wieder das "Evangelium des Lebens" in Erinnerung gerufen. Wir müssen darum auch auf der europäischen Ebene viel mehr gemeinsam aktiv werden, um das ungeborene Kind als "selbstständiges Rechtsgut" zu verteidigen. Die Kirchen vertreten damit nicht nur ihre eigene Überzeugung, sondern bewahren rechtliche und kulturelle Errungenschaften aus der europäischen Geschichte, damit sie auch in unserer Zeit nicht vergessen werden. Hier ist noch viel zu tun. Wir sind in vielem noch zu schwerfällig, zu national und zu binnenkirchlich orientiert. Es ist höchste Zeit aufzuwachen. ´
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz
(aus: Bistumszeitung Glaube und Leben, Juni 2001)
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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