Letzte Chance zur Gemeinsamkeit

Nach dem Urteil zum Zuwanderungsgesetz

Datum:
Samstag, 21. Dezember 2002

Nach dem Urteil zum Zuwanderungsgesetz

Gastkommentar in der Mainzer Allgemeinen Zeitung am 21. Dezember 2002

Das Bundesverfassungsgericht hat wohl bewusst das Urteil zur Gültigkeit des Zuwanderungsgesetzes am 18. Dezember, wenige Tage vor Weihnachten, verkündet. Es bleibt – jedenfalls vorläufig – nicht viel Zeit zu neuen Auseinandersetzungen. Die meisten Kontrahenten fahren bald in ihren Weihnachtsurlaub.

Hier braucht nicht über die verfassungsrechtliche Seite des Urteils gesprochen zu werden. Es ist klar geworden, dass das Grundgesetz die einheitliche Stimmabgabe eines Landes im Bundesrat erwartet. Jedes bloße Taktieren und Schachern, die dem leitenden Bundesratspräsidenten die Aufgabe einer Urteilsbildung aufladen, führt nicht weit. Dies kann die Demokratie wieder zu Stil und auch zu Ansehen führen. Manchem fällt es leider sehr schwer, höchstverbindlich festgestellte Fehler einzuräumen.

Wenn auch damit der Versuch, eine Gesamtregelung über Zuwanderung, Flüchtlingsschutz und Integration zu schaffen, zunächst einmal gescheitert ist, so wird man sich doch wohl bald zusammensetzen müssen, um über eine erneute Einbringung des Gesetzes und eine endgültige Verabschiedung zu sprechen. Da das Urteil keine Inhalte berührt, hat es auch dafür nichts vorentschieden. Dabei muss man hoffen, dass sich in der neuen Gesprächssituation nicht die Streitereien wiederholen, die im zu Ende gehenden Jahr das Klima der Auseinandersetzung stark bestimmt haben. Dafür war gewiss die Bundestagswahl vom 22. Sept. 02 ausschlaggebend. Wenn die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen am 2. Feb. 03 vorbei sind, müsste also das politische Terrain frei werden für sachliche und gediegene Gespräche in Richtung eines verbindlichen Abschlusses mit einer hohen Beteiligung.

Dies ist eine neue Chance, auch wenn manche Äußerungen der letzten Tage nicht gerade zuversichtlich stimmen. Hatte man schon vor der Auseinandersetzung um die Abstimmung über längere Zeit den Eindruck, die einzelnen Parteien wären im Kern gar nicht so weit voneinander entfernt (Bundesregierung, Süssmuth- und Müller-Kommission), so müsste jetzt wirklich eine echte Chance bestehen, die Gegensätze nicht zu zementieren. Sie erscheinen jedenfalls in den wesentlichen Punkten als nicht unüberbrückbar. Deshalb kann ich auch nur wiederholen, was der Ratsvorsitzende der EKD Manfred Kock und ich am 18. Dez. 02 nach der Urteilsverkündung erklärt haben: „Wir ermutigen deshalb die Parteien, kleinliche Auseinandersetzungen jetzt beiseite zu lassen und den ernsthaften Versuch zu unternehmen, das Notwendige gemeinsam auf den Weg zu bringen. Vor allem darf das vorläufige Scheitern des Zuwanderungsgesetzes nicht dazu führen, dass Migranten und Flüchtlinge zum Spielball parteipolitischer Interessen werden."

Dies kann gewiss nicht heißen, dass über einige wichtige Inhalte nicht weiter diskutiert und verhandelt werden muss. Auch die Kirchen haben hier früher schon Wünsche angemeldet. Aber die neue und vielleicht für lange Zeit letzte Chance zu einer echten Gemeinsamkeit darf jetzt nicht verspielt werden. Gründlichkeit muss in einer so wichtigen Sache vor Schnelligkeit gehen

Weihnachten steht vor der Tür. Die Debatte wird hoffentlich nicht nur deshalb bald abbrechen, sondern vielleicht kann auch das Fest der Menschenfreundlichkeit Gottes im Interesse der betroffenen Menschen das Klima für einen guten Wiedereinstieg bereiten.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz