MORAL UND POLITIK

Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung vom 22. Januar 2000

Datum:
Samstag, 22. Januar 2000

Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung vom 22. Januar 2000

Viele fühlen sich in diesen Tagen und Monaten bestätigt: Politik erscheint ihnen als „schmutziges Geschäft" („Finger davon"). Dies ist ein gefährlicher Eindruck, denn er erzeugt rasch Misstrauen und Gleichgültigkeit. Die Demokratie ist jedoch radikal auf ein Minimum an Vertrauen und das Engagement vieler einzelner angewiesen. Zur Zeit verspielen wir viel von diesem Kapital.

Damit kein Zweifel besteht: Alles, was gegen die gute Sitte, auch Konvention und gesetzliche Bestimmungen verstößt und der Allgemeinheit Schaden eingetragen hat, soll an das Tageslicht und muss, soweit dies möglich ist, wieder in Ordnung gebracht werden, sei es durch Wiedergutmachung oder irgendwelche Formen von Ahndung oder auch Strafen. Hier sind Politiker den selben Anforderungen unterworfen wie alle anderen.

 

Freilich sollen sie selbst auch so behandelt werden wie alle übrigen. Dies ist offenbar schwieriger als man denkt. Politiker werden ständig beobachtet. Daher kann man auch bei ihnen mehr entdecken. Da sie immer auf dem Sockel stehen, sieht man wie beim Flutlicht im Stadion die Regelverstöße besser. Auch kleine Fehler werden nicht leicht verziehen. Irgendwo gibt es wohl auch ein geheimes Rachebedürfnis: Leute, die viele Jahre lang an vorderster Stelle und jeden Tag vor laufenden Kameras unsere Geschicke bestimmt haben, vom Thron herunterzuholen. Es gibt viel Archaisches mitten in aller Aufklärung, wie z.B. auch das Bauernopfer.

 

Der Politiker muss entscheiden. Er steht oft unter Zeitdruck. Vieles wird zwar auf die lange Bank geschoben, aber irgendwann geht dies nicht mehr. Der Stress wird immer größer, die Vielfalt der Interessen erschwert tragfähige Einigungen. Hier gibt es im Drang der Geschäfte notwendig Fehler - worüber viel zu wenig gesprochen wird.

 

Dies alles sind keine Entschuldigungen. Unrecht bleibt Unrecht. Es muss auch aufgedeckt werden. Dabei hat es keinen Sinn die Medien zu beschimpfen, auch wenn manches ärgerlich ist, wie z.B. faktische Vorverurteilungen. Auch müssen, wenn Gesetze für alle gelten, sich die Gerichte einschalten. Aber dies kann am Ende nicht ersetzen, was sehr viel elementarer ist: die eigene Wachsamkeit und bei allem Vertrauen auch die Kontrolle anderer. Sie müssen zuerst funktionieren.

 

Politik ist nicht von Hause aus ein „schmutziges Geschäft". Aber die Versuchungen der Macht sind groß. Die reale Möglichkeit, über andere zu entscheiden und zu herrschen, muss zuerst selbstkritisch sein und werden. Gewiss kann man hier manches z.B. durch die Verleihung von Macht nur auf Zeit, öffentlichen Disput und vielfältige Kontrolle sichern helfen. Aber ohne die Wiedergewinnung einer politischen Kultur, die hier auch die Sensibilität des ethisch Zulässigen einschließt, kann es auf die Dauer nicht gut gehen. Die peinlichen Ereignisse der letzten Zeit sind ein Beleg dafür, dass die gelebten Grundwerte einer radikalen Erneuerung bedürfen. Darum ist die Gesellschaft auch am Ganzen nicht so unschuldig. Wir haben schon längst überall zu viel zu- und durchgelassen. Darüber muss wohl auch noch geredet werden.

 

 

 

(c) Bischof Karl Lehmann

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz