Namhafte Leute ermutigen zur Teilnahme an der Europawahl, während andere, wie z.B. Prof. Arnulf Baring in der Bild-Zeitung vom 10. Juni, einen offenen Wahlboykott empfiehlt. Die Wahlbeteiligungsergebnisse der vorgezogenen Abstimmungen in England und Holland vom Fronleichnamstag, die bei uns bekanntgeworden sind, ermutigen auch nicht gerade zu einer Besserung der schwachen Beteiligungsbereitschaft.
Ich will mit aller wünschenswerten Deutlichkeit sagen, dass ich eine solche Empfehlung für außerordentlich schädlich halte. Wir wollen ein neues Europa. Der Beitritt der zehn neuen Staaten zum 1. Mai hat diese Tendenz nochmals verstärkt. Viele Menschen in den nun 25 Teilnehmerstaaten haben diesen Tag auch als großen Erfolg und als Schubkraft für den weiteren Weg gefeiert. Es gibt keinen anderen Weg und kein Zurück. Wir sind im Übrigen auch geradezu zum Erfolg verdammt. Denn was sollte denn an die Stelle einer kräftigen Föderation treten?
Im Übrigen sind wir in vielen Lebensbereichen, ohne dass wir dies vielleicht immer schon deutlich wissen, längst von den Einrichtungen und gesetzlichen Bestimmungen aus Brüssel festgelegt. So sagt man, dass mehr als 75 % aller Gesetze für die Wirtschaft und über 80 % im Bereich der Umweltpolitik und des Verbraucherschutzes heute schon von Brüssel aus geregelt sind. Da wäre es doch fatal, durch Verweigerung eine Besserung zu erwarten.
Gewiss ist es von größtem Nachteil, dass das Europäische Parlament selbst hinter dieser Entwicklung nachhinkt. Die Regierungsschefs („Rat“), die Kommission der Europäischen Gemeinschaft und eine schon beträchtlich umfangreiche Verwaltung haben eine enorme Macht entwickelt. Kriterien, die sonst für alle Länder gelten: Effizienz, Transparenz und demokratische Legitimität sind nicht überzeugend verwirklicht. Aber es kann doch nicht besser werden, wenn man das Parlament nicht ganz wesentlich stärkt. Die demokratische Handlunsfähigkeit muss grundlegend verbessert werden. Ein Mittel dafür ist das Interesse und der Einsatz der Bürger für das Europäische Parlament. Die Wahl ist eben dafür ein Gradmesser.
Gewiss sind hier manche Fehler gemacht worden. Die Parteien selbst kümmern sich in ihren konkreten Programmen relativ wenig um Europa. Sie unternehmen auch nicht viel, um die Europa-Abgeordneten genügend bekannt zu machen. Ob diese während einer Legislaturperiode mehr tun könnten, um das Interesse für Europa im Land zu erhöhen, möchte ich nicht allgemein beurteilen. Es bleibt jedenfalls noch einiges zu tun.
Europa braucht dringend unsere aktive Unterstützung. Gehen wir zur Wahl!
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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