Von Jesus Christus heißt es im Brief an die Epheser (2,15-18): Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden Teile (gemeint: Heiden und Juden) durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet. Er kam und verkündete den Frieden: Euch, den Fernen, und uns, den Nahen, durch ihn haben wir beide (Juden und Heiden) in dem einen Geist Zugang zum Vater."
Wir sprechen viel von der Realisierung des Friedens durch die Weltreligionen und darunter auch durch die Christen. Aber wir dürfen dies nicht zu einer harmlosen Devise der Weltbeglückung verfälschen. Christlicher Friede kann zunächst gar nicht abgelöst werden vom gläubigen Sicheinlassen auf die Person Jesu Christi. Diese Verheißungen können nur durch Jesus Christus selbst, seine Jünger und schließlich allen Menschen guten Willens Wirklichkeit werden. Der Friede Jesu Christi ist an seine Nachfolge gebunden. Er kann darum auch nicht abgelöst werden vom Ereignis der Lebenshingabe und des Todes Jesu Christi für alle. Wir dürfen nie vergessen, dass die Versöhnung des Menschen mit Gott und der Menschen untereinander durch den Tod Jesu geschieht. Dabei geht es nicht nur um den Streit zwischen einzelnen, sondern auch um die Versöhnung zwischen verfeindeten Menschheitsgruppen. Das Schriftzeugnis aus dem Epheserbrief ruft uns dies in Erinnerung, das nämlich die Trennwand der Feindschaft nur durch Jesu Tod niedergerissen werden kann. Dieser Friede mit Gott ist kein mythisches Naturereignis, das wie ein geheimer Stoff die ganze Welt durchdringt. Hier wird keine leichtfertige Allversöhnung gespielt, die gerade die Mörderbanden begünstigt und die Hölle herbeiführt. Es ist keine gefährlich einfache Weltformel, die über verschiedene Interessen und bleibende Konflikte hinweggleitet. Gerade Paulus und das von ihm inspirierte Schrifttum der Bibel weisen immer wieder auf das Unterscheidungsmerkmal aller christlichen Versöhnung und Friedensbereitschaft hin: das Kreuz und das Blut Jesu Christi. Überall, wo sich eine Naturmystik der Versöhnung aller mit allen oder eine berauschte und berauschende Weltverbrüderung in die christliche Rede vom Frieden einmischen, erinnert die Schrift an unabdingbare Voraussetzungen der Versöhnung, wie sie besonders im Leben Jesu verwirklicht worden sind: Einstehen für das Reich Gottes, Aufstand gegen das Unrecht, Solidarität mit den Schwächeren und Entrechteten, gewaltloser Widerstand, Hingabe des eigenen Lebens, Einsatzbereitschaft, Opfer ...
Spätestens hier wird alle Begeisterung für Versöhnung und Frieden mit dem Kreuz der Wirklichkeit zusammengebracht. Das Christentum wehrt bei aller Gewissheit von der vollbrachten Versöhnung jenem Schwärmertum, das die nüchtern-grausame Wirklichkeit überfliegt. Die alte Welt ist nicht einfach entschwunden. Der Äon des Friedens kann nur anbrechen in einem ständigen Widerstreit mit den Mächten des Bösen. Das menschliche Herz sinnt immer noch nach Zwietracht; Eigensinn und Verhärtung, Selbstbehauptung und Überheblichkeit bedrohen es ständig. Nur so lassen sich die überall verborgene Aggressionslust und Zerstörungswut im letzten erklären. Aber nicht nur im Inneren des Menschen hausen die Mächte der alten Welt; Seelenfrieden allein wäre ein Missverständnis der biblischen Botschaft. Auch in den sozialen und gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Strukturen unseres Lebens nisten Feindseligkeit, Tendenz zur Unterdrückung und Gewalt. Sie sind widerständig, wenn es um ihre Veränderung geht. Wenn die Bereitschaft zur Versöhnung und zum Frieden nicht das Heimtückische und das Hinterhältige der alten Welt nüchtern und wachsam im Auge behält, erliegt sie leicht einem luziferischen Schein: Die behenden Parolen könnten sich als Irrlichter erweisen. Schon der alte Gentz schrieb im Jahr 1800 von den gutgemeinten Träumen einer menschenfreundlichen Politik: „Sie wähnten, alle Völker der Erde in einem großen kosmopolitischen Bunde zu vereinigen, und sie schufen den grausamsten Weltkrieg, der je die Gesellschaft erschütterte und auseinanderriss." Wenn die Aufmerksamkeit auf die Macht des Bösen geschwächt wird, erlahmt die Kraft zur Unterscheidung der Geister. Der Einsatz für den wahren Frieden braucht darum Tapferkeit vor dem Bösen, Ausdauer im Leiden und Mut zur Freiheit und Stärke. Versöhnung auf Erden kann nur in einem ständigen, unverdrossenen Streit mit den Gewalten des Unfriedens gewonnen werden. Versöhnung muss immer wieder durch Anfechtung und Bedrohung hindurch erkämpft und geschützt werden.
Gerade das schon zitierte Friedenslied aus dem Epheserbrief (2,14-18) bindet die Versöhnung energisch an das Kreuz. Dies gilt vor allem für eine Grundhaltung des Gewaltverzichts und der Feindesliebe. Denn diese fordern noch mehr "Widerstand": Sie dürfen nicht vor dem in militanter Drohhaltung entgegentretenden Gegner resignieren, sondern müssen ohne jeden Abstrich bis hin zur Preisgabe ihres Lebens gewaltlos Widerstand leisten. Jesu. Verhör und Verurteilung durch Pilatus (vgl. Joh 18,28 ff) kann zeigen, was damit gemeint ist.
Eintreten für den Frieden - nicht Streiten um den Frieden - ist darum eine besonders harte Sache. Der Friede ist nicht irgendein Werbeartikel, mit dem man sich jederzeit anbiedern kann; dafür ist er zu empfindlich, denn er hat etwas mit moralischer Herausforderung zu tun. Die Bedrohung der Versöhnung geht dabei von allen aus; sie wohnt im eigenen Herzen. Man darf nicht nur auf den anderen, den „Feind" zeigen. Darum ist auch die Angst des anderen verständlich. Hier kommt es dann zuerst auf „vertrauensbildende Maßnahmen" an.
Die Notsituation und die Gebrochenheit dieser zwar erlösten, aber immer noch in Wehen liegenden Welt lässt sich nicht übersehen. Dies ist auch der innere Grund, warum sich die biblischen Verheißungen zwar durch das mutige Glaubenszeugnis des einzelnen Christen, der wie ein Narr wirken mag, aber nicht einfach als allein gültige Handlungsanweisung für jedermann realisieren lassen. Das Evangelium vom Frieden braucht die mühsame, stets durch ein kaum durchdringliches Dickicht von Interessen begleitete und so immer umstrittene Durchsetzung in den widerborstigen Strukturen der Welt. Darum kann die Versöhnung in den weltweiten Zusammenhängen unseres Lebens, wo nie einfachhin Oasen des immerwährenden Friedens sind, nicht gelingen ohne das mühsame, oft auch zweideutige Handwerk der Politik. So gehört auch das Angewiesensein auf begrenzte Mittel zum Kreuz der Wirklichkeit.
Durch das Bleigewicht der Erfahrung der Gebrochenheit unserer Hoffnung könnte man vor lauter Nüchternheit und Realismus den Mut zum Frieden und zur Versöhnung verlieren. Christliche Hoffnung zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass sie Hoffnung gegen alle Hoffnung ist und bleibt. Darum darf sie sich bei allem Wissen über ihre Misserfolge nicht die Flügel der Begeisterung stutzen lassen. Die Versöhnung durch Gott und in ihm der Menschen untereinander ist bereits eine anbrechende Wirklichkeit, die unseren irdischen Lebensbereich durchdringen und umgestalten kann. Darum verlangt Friedensbereitschaft ein Leben im Aufbruch, das sich nicht durch Enttäuschungen und Niederlagen entmutigen lässt. Die christliche Hoffnung ist zwar in lebendiger Erwartung auf noch Künftiges ausgestreckt, das sie wie eine Gebärende mit Seufzen und in Wehen herbeisehnt, aber sie hat auch jetzt schon die Gewissheit, dass sie wenigstens fragmentarisch im Bereich des bereits anbrechenden Heils, das zur Vollendung drängt, leben kann. Sie ist wie die Morgenröte über den Bergen, die man im Tal noch nicht wahrnehmen kann. Und darum haben auch utopische Zukunftsentwürfe, Träume und Spiele der Phantasie des Friedens ihr Recht, wenn sie - ihrer Grenzen bewusst - uns anleiten helfen, die immer wieder festgefahrenen Schranken von Versöhnung und Verständigung zu überschreiten. Eine letzte Sicherheit des ewigen Friedens vermag in dieser Zeit niemand zu geben. Die mittelalterlichen Mysterienspiele haben nicht zufällig die Sicherheit, die sich fern aller Gefährdung wähnt, in die Gestalt des Teufels gekleidet.
Solange diese Welt, in der wir leben, andauert, und das Reich Gottes nicht durch die Tat Gottes selbst da sein wird, ist die geschichtliche Gegenwart immer auch von den Mächten des Bösen bestimmt. Der Zwiespalt zwischen der künftigen Macht der vollen Erlösung und den Kräften der alten Welt ist nicht einfachhin aufzuheben. Von dieser Gebrochenheit ist kein christliches Handeln ausgenommen. Dies gilt auch für den Friedensdienst. Mit der Drohung und dem Einsatz von Gewalt allein kann kein friedliches Zusammenleben der Menschen in Gerechtigkeit garantiert werden. Die geschichtliche Erfahrung lehrt aber ebenso, dass ein einseitiger Gewaltverzicht keineswegs den Frieden stabilisiert, denn er würde vom Gegner als Schwäche und Erpressbarkeit registriert. Jeder Friedensdienst - mit und ohne Waffe - ist von diesem Dilemma und Paradox gekennzeichnet. "Der Soldat muss den Widerspruch aushalten, dass er sich rüstet, dass er einübt und zu tun bereit ist, was er zutiefst hofft und verlangt, nie tun zu müssen, weil er nichts entschiedener will, als dass der Friede ohne Gewaltanwendung bewahrt und Konflikte durch Verhandlungen gelöst werden können. Und der Wehrdienstverweigerer muss mit dem Widerspruch leben, dass es möglicherweise gerade jene Dienstleistungen sind, die er verweigert, die tatsächlich eine friedliche Konfliktregelung ermöglichen, für die er in Freiheit demonstriert." (Franz Böckle)
Nur im Durchhalten dieser Spannungen gibt es christlich Frieden. Es ist die Größe des biblischen Friedens, dass er nichts von unserer elenden Wirklichkeit und von unserer großen Hoffnung weglügt. Die Alten haben immer wieder erklärt, Gott sei der, von dem die äußersten Gegensätze umfasst werden und in den sie auch münden. Darum ist Er zuletzt allein unser Friede.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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