Mehr Sorge für die Gabe des Lebens

Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung am 30.3.2002

Datum:
Samstag, 30. März 2002

Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung am 30.3.2002

Unsere Zeit steht in einem recht zwiespältigen Verhältnis zum Leben. Auf der einen Seite sind wir sensibler geworden im Blick auf Verletzungen des Lebens, auf der anderen Seite gehen wir auch recht skrupellos damit um. Die Diskussion um die Bioethik ist ein Beispiel dafür. Leider kann sich diese zwiespältige Einstellung auch auf zwei Lager oder mehr erstrecken, die sich eher ergänzen als bekämpfen sollten.

Wir haben im Lauf der Jahre auch gemerkt, dass der Lebensschutz sich nicht nur auf einzelne, gesonderte Bereiche beziehen darf: Es geht um den Anfang und das Ende des Lebens, um das ungeborene und das geborene Kind, um den Erhalt der Arten und den Schutz des vorgeburtlichen Lebens. Es ist nicht nur eine Sache der Logik im Kopf, alles Leben – gewiss mit Unterschieden – zu schützen, vielmehr ist es eine gelebte Konsequenz, die von einem Bereich zum anderen hin gilt. Deshalb werden nicht wenige Grüne unruhig über ihre bisherige Stellung zur Abtreibung. Die C-Parteien bekennen sich nun auch zur Verankerung des Tierschutzes in unserer Verfassung.

Ein gewisser Zwiespalt findet sich auch in unseren Verfassungen. Wir beschwören feierlich: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" (Art. 2, Abs. 2, Satz 1 GG), schränken aber diese Aussage umgehend zugunsten anderer Rechtsbelange und Interessen ein: „In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden" (Satz 3 GG). Ich will nicht behaupten, eine solche Einschränkung wäre nicht notwendig, aber die Frage ist, welchen Gebrauch wir davon machen. So kann es nämlich in Konsequenz zu Wertungswidersprüchen z.B. zwischen den umfangreichen Schutzbestimmungen des Embryonenschutzgesetzes und anderen rechtlichen Regelungen für das ungeborene Kind kommen.

Man wird diesen Konflikt nicht so leicht beseitigen können. Wir Menschen müssen mit solchen an Widerspruch grenzenden Spannungen leben und sie austragen. Aber vielleicht hat man auch in schon einer langen Geschichte das Leben des einzelnen Menschen zu gering geschätzt. Wir sind darum zu Recht skeptischer geworden gegenüber der Erlaubnis zum Töten in Notwehr, Krieg und bei der Todesstrafe. Auch hier geht es um die vielleicht nicht differenzierungslose Unteilbarkeit des Lebensschutzes, aber doch um eine ernsthafte Konsequenz im Blick auf das Netzwerk Leben: Wer das Töten von Embryonen ablehnt, muss auch seine Haltung zum Töten im Krieg bedenken; wer bis an die Grenze des Pazifismus geht, muss auch gegenüber der Abtreibung skeptischer werden.

Ich glaube, dass wir im Begriff sind, diese Verhältnisse neu zu durchdenken, hoffentlich mit wenig Vorurteilen. Es wäre ein Sieg für das Leben, wenn wir hier alle konsequenter würden.

Dies hat auch etwas mit dem christlichen Osterfest zu tun. Jesu Passion zeigt uns, wozu der Mensch fähig ist. Die Auferweckung Jesu ist ein unübersehbarer Protest gegen die Zerstörung des Lebens, auch wenn wir wissen, dass nicht alles in dieser Welt ausgeglichen und beglichen wird.

(c) Karl Kardinal Lehmann

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz