Mut zum Kind

Wort des Bischofs im Südwestrundfunk am Sonntag, 30. April 2006

Datum:
Sonntag, 30. April 2006

Wort des Bischofs im Südwestrundfunk am Sonntag, 30. April 2006

Zur Zeit reden wir in der Öffentlichkeit immer wieder vom Kind. Die Parteien bemühen sich um einen Kompromiss im Blick auf so etwas wie Elterngeld. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist als ein Grundproblem in aller Munde. Die christlichen Kirchen begehen in den Jahren 2005 bis 2007 unter dem Leitthema „KinderSegen – Hoffnung für das Leben“ die Woche für das Leben, die die kommende Woche hindurch andauert. In diesem Jahr soll es um den Grundgedanken gehen, dass das Menschsein vor der Geburt beginnt und Kinder uns darum schon vom aller ersten Anfang an anvertraut sind.

Nun stehen wir in der Öffentlichkeit aber auch zwischen sich einander tief widersprechenden Überzeugungen und Erfahrungen der Menschen. Da ist z.B. in diesen Tagen eine Mutter angeklagt, die neun Kinder nach der Geburt umgebracht hat. Da finden sich immer mehr Menschen, denen ein sehnlicher Kinderwunsch nicht erfüllt wird, obgleich sie vieles dafür unternommen haben. Es ist nicht leicht, in einer Gesellschaft, die sich gerade hier auch auf Gemeinsamkeiten hin einigen muss, zu einem wirklich überzeugenden, tragfähigen Nenner zu kommen. Die Politik hat es hier besonders schwer, weil man bei diesem Thema sehr rasch und unvermeidlich in eine Diskussion über die Werte gelangt.

Ich will in diesem Zusammenhang auch nur einen – jedoch, wie mir scheint, wichtigen – Grundgedanken aussprechen. Jeder weiß: Kinder sind für die Zukunft der Sozialversicherungssysteme, der Steuer- und Transfer-Systeme, ja sogar des gesamten Wirtschaftsgefüges unverzichtbar. Die Belastungen der künftigen Generationen und die Schieflage der Bevölkerungsentwicklung sind so drückend, dass man immer mehr nach einer größeren Zahl von Kindern ruft. In diesen Tagen war aus einer neuesten Umfrage zu erfahren, dass sieben von acht Männern und Frauen zwischen 20 und 39 Jahren sich Kinder wünschen. Von den 12 Prozent, die sich gegen Nachwuchs aussprechen, nennt die Hälfte als Grund „hohe Kosten“. Auf jeden Fall liegt der durchschnittliche Wunsch nach einem Kind (1,9 Kinder je Frau) weit über der realen Geburtenziffer (1,3).

Es ist also zunächst völlig verständlich, dass das Kind hauptsächlich in diesem größeren gesellschaftlichen, aber auch individuellen Rahmen gesehen wird. Dennoch zeigt sich hier auch eine Grenze, die man mehr beachten sollte. Gerade wenn das Kind in seinem eigenen Menschsein betrachtet wird, hat es eine unverwechselbare Würde, auch schon vor der Geburt. Wir müssen uns angesichts des Drucks der demografischen Entwicklung hüten, Kinder weitgehend unter funktionalen Gesichtspunkten zu sehen, weil man zur Aufrechterhaltung z.B. der Sozialversicherungssysteme mehr Kinder braucht. Kinder sind über diese Betrachtungsweise hinaus noch viel mehr. Sie sind Personen und dürfen nicht einfach hin verzweckt werden. Sie sind die größte Bereicherung, die sich in dieser Welt überhaupt denken lässt. Kinder zu erziehen und auf ihrem Weg in die eigene Verantwortung für sich selbst und ihre Welt zu begleiten, ist eine einzigartige und zugleich alltägliche Weise der Verwirklichung menschlicher Freiheit. Unsere Gesellschaft darf Kindern nicht nur und vorwiegend Raum geben, weil sonst unser Wirtschaftssystem am Zerbrechen ist. In der Hauptsache geht es darum, dass wir als Gesellschaft mehr menschen- und lebensfreundlich werden. Darum brauchen wir eine neue Botschaft der Hoffnung und der Lebensbejahung, aber auch der Anerkennung und des Dankes der Menschen, besonders für die Frauen, die trotz mancher schwieriger Verhältnisse den Mut haben zum Kind. Nichts anderes will die Woche für das Leben.

© Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz