Die kirchlichen Strukturen sind in einer mannigfachen Bewegung. Zwar bleiben die klassischen Orte christlicher Praxis, aber es gibt auch neue Konstellationen. Unsere Welt ist mobiler geworden, besonders im Bereich der Städte. Die Planungen sind aber auch auf dem Land großräumiger geworden. Es gibt hier eine merkwürdig dialektische Entwicklung: Auf der einen Seite sind die traditionellen Strukturen, vor allem der Dörfer, gegenüber abstrakteren Planungen sehr widerstandsfähig. Kirche und Seelsorge sind ein Stück leibhaftiger Heimat, auf die die Menschen nicht verzichten wollen. Auf der anderen Seite haben sich die Einstellungen der Menschen insofern geändert, als die Lebensräume für viele weiter geworden sind. Deshalb haben sich auch Bindungen und Mitgliedschaften verändert. Man geht nicht gerne Verpflichtungen auf längere Zeit ein, sondern beschränkt sich auf ein begrenztes und überschaubares Projekt. Ähnliches gilt wenigstens für aktive Mitgliedschaften.
Am stärksten ist der Wandel vielleicht dadurch gekennzeichnet, dass die „konfessionellen Sozialmilieus" weitgehend aufgelöst sind. Die homogenen und in hohem Maß geschützten Subkulturen, zumal im ländlichen und kleinstädtisch-handwerklichen Bereich, existieren in dieser Form nicht mehr. Diese Milieus und Subkulturen haben eine erstaunliche Integration der persönlich und familiär gelebten Religiosität, der kirchlich-institutionellen Verfasstheit des Glaubens und seiner gesellschaftlich-kulturellen Prägekraft erreicht. Bei aller Enge, die man gewiss beklagen muss, haben diese Strukturen vielen Christen einen Raum der Geborgenheit und Heimat im Glauben geboten. Wir spüren, dass es ähnliche Milieus auch bis weit in die noch dörflich anmutenden Strukturen der Großstädte gegeben hat und noch gibt.
Die Kirche hat lange diese Milieus gestützt. Sie konnte aber nicht verhindern, dass diese Strukturen in hohem Maß zusammengebrochen sind und kein grundlegender pastoraler Verlass auf sie besteht. Man muss aber deutlich sehen, dass das Christentum dadurch einen starken Verlust an gesellschaftlich greifbarer und verbindlicher Gestalt erlitten hat. Religiosität wird eher nach eigenem Gutdünken oder als kulturell- historisch-ästhetisches Reservoir empfunden, aus dem man sich in Reklame, Film, Theater, Literatur und Medien relativ beliebig einzelne Motive nimmt und in oft verfremdeter Form mit anderen zusammensetzt. Aber die Verknüpfung des persönlichen Glaubens, der kirchlichen Verkündigung und des kulturellen Alltagslebens tritt dadurch eher in den Hintergrund. Es ist dabei nicht zu verkennen, dass nicht wenige Christen aus dem ländlichen Raum, wenn sie in die Stadt ziehen, diesen Verlust kirchlicher Milieus und Subkulturen sehr oft eher als Befreiung empfinden, da sie diese Strukturen oft als einengend und zwanghaft erfahren haben. Zugleich wird jedoch auch evident, dass mit diesem Verlust ein Schwund an Orientierung und verbindlicher Lebensform einhergeht. Man trauert dann, manchmal etwas romantisch und nostalgisch, dem Verlorenen nach, kann es aber in der modernen Lebensweise nicht wiedergewinnen.
In den Städten sind manchmal sehr fremdartige und neue Gebilde entstanden, die zwischen der Privatheit des Einzelnen und den größeren gesellschaftlichen Organisationsformen so etwas wie Zwischeninstanzen bilden. Sie können mehr stabiler Art sein, wie z.B. Vereine und Verbände. Sie können aber auch wie bewegliche Brücken erscheinen, die nach allen Seiten Verbindungen ermöglichen. Es sind Treffpunkte, Begegnungsstätten, Cafés und manchmal auch informelle Versammlungsorte ohne Dach und Haus. Diese Stätten zeichnen sich aus, dass sie leichten Zugang gewähren. Man kann sich in ihnen anonym aufhalten. Man kann Verbindungen bekommen ohne Verbindlichkeit. Man kann wieder leger auseinandergehen, ohne sich abmelden zu müssen. Man braucht das nächste Mal nicht zu kommen. Es ist eine Passanten-Mentalität, die für viele einen eigenen Reiz hat. Das Surfen und Zappen ist eine weit verbreitete Form kultureller Betätigung.
Hier entsteht die Frage, wie weit sich die Kirche besonders in den Großstädten angesichts des Verlustes der Milieus dieser neuen beweglichen Instanzen bedienen kann. Ich sehe es als ein Verdienst der Citykirchen-Einrichtungen, dass sie die Präsenz von Kirche unter den genannten Voraussetzungen ermöglichen können und wollen. Die Kirche hat nicht immer ein festes Beton-Dach über dem Kopf, sondern sie kennt auch luftigere und vorläufigere Aufenthalte in einer Gesellschaft. Es sind leichtere Konstruktionen, die vielen Bedürfnissen Rechnung tragen, einen unkomplizierten Zugang haben und zwar einladend, aber nicht verpflichtend wirken. Die Kirche ist ja auch ein Zelt unterwegs. Man bleibt offen gegenüber den gesellschaftlichen Trends und den Veränderungen von Menschen im sozialen und wohl auch religiösen Verhalten. Zu dieser Offenheit gehört neuerdings eben auch die sogenannte „Eventkultur", die das Ereignishafte, das Transitorische, das Lockere und Erlebnishafte hervorhebt.
Ich will darüber jetzt nicht länger sprechen. Sie sind alle in diesen Bereichen tätig oder in vielfacher Weise daran interessiert. Ihre Ausstellung gibt einen Einblick. Ich möchte diese Form der Präsentation von Kirche begrüßen. Es ist ein Empfangsraum der Kirche. Man soll ihn nicht abqualifizieren, weil er nicht schon der Binnenraum der Kirche ist. Er soll aber auch immer wissen, dass er vorläufig ist, Übergang darstellt, weiterleiten soll. Er ist kein Endzweck. Aber gerade heute ist die Citykirchen-Einrichtung eine wichtige Sozialform, in der Kirche dem Menschen, der vielleicht weit von ihr weg ist, begegnen kann. Dies ist eine gewaltige missionarische Chance, die nicht durch vorschnelles Drängen abstößt. Es hat aber auch keinen Sinn, die Pfarrstrukturen abzuwerten, weil sie diese Funktionen nicht erfüllen. Diese sind dafür auf diese Zubringerwege und Vermittlungen angewiesen. Sie können freilich in ganz anderer Weise Verbindlichkeit und Kontinuität vermitteln.
Ich freue mich, dass Sie zum gemeinsamen Austausch in Mainz zusammengekommen sind. Es ist gut, sich über Chancen und Erfolge, Neuaufbrüche und Fehlentwicklungen zu unterhalten und ins Gespräch zu kommen. Dies bietet Chancen zu Kooperation und Vernetzung. Ich wünsche Ihnen darum gute Gespräche und einen fruchtbaren Austausch.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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